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… denn man sieht nur mit dem Herzen gut
Bild: pixabay

… denn man sieht nur mit dem Herzen gut

Stefan Buß
Ein Beitrag von Stefan Buß, Katholischer Pfarrer in der Innenstadtpfarrei St. Simplicius, Faustinus und Beatrix, Fulda

Bei einem Krankenhausaufenthalt vor Weihnachten wurde mir ein Buch geschenkt, ein Roman. Ich machte mich gleich gespannt ans Lesen. Die unfreiwillige Auszeit ermöglichte dies. 1995 erschien dieser Roman. José Saramago hat ihn geschrieben. In portugiesischer Sprache. Saramago war selbst portugiesischer Lyriker und Erzähler und starb 2010. Der Originaltitel lautet: "Essay über die Blindheit". Als der Roman übersetzt in Deutschland 1997 auftauchte, trägt er den Titel: "Stadt der Blinden". 1998 erhält der meisterhafte Autor den Nobelpreis für Literatur.

Die Geschichte, die Saramago erzählt, ist unheimlich, dunkel, ja tastend: Sie beginnt an einer Kreuzung, als ein Autofahrer plötzlich erblindet. Nach und nach ereilt alle Leute, die in seiner unmittelbaren Umgebung waren, das gleiche Schicksal. Es gibt keine Erklärung für die plötzliche Erblindung so vieler unterschiedlicher Menschen, geschweige denn ein Heilmittel gegen die Krankheit. Es scheint alles zufällig zu sein.

Als die Blindheit immer weiter fortschreitet, stellt die ratlose Regierung die Erkrankten in einem verlassenen Irrenhaus unter Quarantäne, um eine weitere Ausbreitung zu vermeiden. Sie werden von Soldaten bewacht, die den Befehl haben, jeden Fliehenden zu erschießen. In der Außenwelt aber erblinden immer mehr Menschen und die Anstalt füllt sich. Bald häuft sich der Schmutz, und es herrschen Aggression und Gewalt. Der Gipfel des Ganzen, eine Gruppe Blinder übernimmt die Kontrolle über die Lebensmittelversorgung, um die anderen Insassen materiell und körperlich auszubeuten.

Mitten in all dem Chaos gibt es eine Frau, die sehen kann. Nach schrecklichen Szenen schart sie eine kleine Gruppe um sich, mit der sie zurück in die Stadt geht. Inzwischen sind alle Menschen erblindet, es herrschen unmenschliche Umstände, auf den Straßen türmt sich der Dreck. Strom oder fließendes Wasser gibt es nicht mehr und Scharen von Blinden suchen verzweifelt nach Lebensmitteln und Obdach. Viele von ihnen finden den Tod. Der Frau gelingt es, mit ihrer Sehkraft das Überleben der Gruppe zu sichern. Völlig überraschend erhält der als erster erblindete Autofahrer sein Augenlicht zurück. Nach und nach können alle wieder sehen. Im gesamten Roman wird kein Name genannt, weder der einer Person noch der einer Stadt, des Landes etc. Alles ist anonym. Samarago erzählt eine Geschichte, die überall spielen kann. Klugheit und Dummheit verwischen sich. Was vertraut war, kippt.

Blindheit ist bei Saramago eine Metapher für die Unfähigkeit des Menschen, Gut und Böse zu unterscheiden. Saramago spricht mehrfach von der "Blindheit des Herzens". Einmal heißt es: " … bitte fragt mich nicht, was das Gute und was das Böse ist, wir wussten es immer, als die Blindheit noch eine Ausnahme war ..." Doch die Opfer von Willkür und Gewalt werden in einer blinden Welt noch sichtbarer als je zuvor. Hilflosigkeit und Schutzlosigkeit treten aus dem Dunkel hervor. Mit den Augen von Sehenden tauchen sie in eine blinde oder verblendete Welt hinein.

Musik: T. Albinoni - Adagio aus dem Konzert für Oboe und Orchester

Zum Thema Blindheit des Herzens kommt mir noch ein anderes Märchen in den Sinn. Eines, das Erwachsenen erzählt wird. "Der kleine Prinz" des französische Schriftstellers St. Exupery. 1943 wird das Märchen verfasst, ein Jahr später stirbt Antoine de St. Exupery bei einem Flugzeugabsturz.

"Der Kleine Prinz“ kommt von einem fremden Stern. Dort wächst eine einzige Rose, seine Rose. Als er zu den Menschen geht, kommt er an einem blühenden Rosengarten vorbei. Er kann es nicht fassen. Bisher hatte er geglaubt, seine Rose sei einzigartig. Jetzt waren da 5000, die aussahen wie seine Rose. Seine Enttäuschung ist groß. Er wirft sich ins Gras und weint. Er besitzt nur eine ganz gewöhnliche Rose.

Im Gespräch mit dem Fuchs, den er gezähmt und zu seinem Freund gemacht hat, geht ihm auf, dass es nicht auf das äußere Aussehen ankommt. Der Fuchs sagt: "Dies ist mein Geheimnis; es ist ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, macht deine Rose so wichtig."

Ja, das unterscheidet die Rose des kleinen Prinzen von allen anderen, dass er das Kostbarste, was er hat, seine Zeit, ihr gegeben hat und sie in ihrem Innersten, in ihrem Wesen kennt und liebt. Er sieht sie mit dem Herzen. Häufig wird unter uns Menschen deutlich, dass die meisten zwar sehen können, aber doch blind sind.

Auch die Hl. Schrift kennt in den Evangelien mehrere Geschichten von Blinden, denen Jesus die Augen öffnet. Der Mensch muss die Augen von Gott öffnen lassen. Gott muss durch Jesus Christus "die Augen des Herzens erleuchten“, damit der Mensch hellsichtig wird und damit auch einsichtig wird in das, was Gott mit jeder und jedem in der Lebensgeschichte vorhat. Der gute Mensch hat also nicht nur Augen im Kopf, er hat Augen des Herzens.

Jesus spielt das in zwei Szenen im heutigen Lukasevangelium durch: Ein Blinder führt doch keine Blinden. Und: Wer einen Balken im Auge hat, kann keinen Splitter im Auge eines anderen Menschen suchen. Sehr eindrückliche Bilder sind das, längst zu Sprichwörtern geworden. Es geht um ein gutes Sehen! Auf das eigene Leben, in die Gesichter anderer Menschen. Dass ein Blinder keinen Blinden führen kann, leuchtet auf Anhieb ein. Wo das wohl hinführt, wenn er es täte? Dann verheddern sich gleich zwei Menschen und fallen aufeinander und übereinander. Anschließend finden sie sich noch schlechter zurecht als vorher. Ich höre sie grummeln: Wo sind wir denn jetzt? Was war das denn? Doch wie so oft können auch Menschen, die gut sehen und alles im Blick haben, blind sein. Blind für die Sorgen und Ängste von Menschen, blind für den Hass, der sich hinter scheinbar vernünftigen Gründen versteckt, blind für die Wahrheit, die unter Fake News begraben wird. Dafür gibt es keinen Augenarzt und auch keine Medizin. Entsetzt sehen wir Blinde in den Abgrund fallen, wir sehen gar, dass Blinde andere Blinde ins Unheil führen.

Musik: Frantisek Brixi -  aus dem  Konzert für Orgel und Streicher D-Dur: Adagio    

Dann erzählt Jesus im Evangelium weiter von den Splittern, die Menschen im Auge eines anderen Menschen penibel suchen, und zwar ohne den Balken wegzunehmen, der ihre eigenen Augen so ausfüllt, dass sie überhaupt nichts mehr sehen können. Blindsein – heißt das! Das Missverhältnis "Splitter" – "Balken" ist so groß, dass ein Mensch förmlich darüber fallen muss. Was gemeint ist, ist auch einsichtig! Wenn Fehler, dann bei den anderen! Und: Diese Fehler werden gesucht. Sie werden ausgeweidet. Sie werden, wenn es sein muss, aufgebauscht. Realität? Realität ist, was wir daraus machen! Der Splitter, von dem Jesus spricht, ist sprichwörtlich geworden. Der Balken auch. Nur: Werden diese Worte Jesu ernst genommen?

Es braucht die rechte Sichtweise des Menschen. Darauf geht Jesus im Evangelium ein. Dass ein Blinder nicht die Aufgabe eines Blindenführers übernehmen kann, bedarf keiner Diskussion. Das ist von vornherein wohl allen klar. Aber welche Sicht gewinnt der Mensch mit einem Balken im Auge? Mit klarem Blick sieht man mehr als eine Kamera, die nur das äußerlich Sichtbare festhalten kann. Ein offenes Auge und damit auch ein offenes Herz kann z.B. wahrnehmen, wo Grenzen beim anderen liegen und die Überforderung bei ihm beginnt,

  • wenn wir auf seine Beschränkungen nicht achten,
  • wo Gefahren lauern und es für uns brenzlich werden kann,
  • welche Wege in eine Sackgasse führen,
  • sich Auswege auftun, um sich aus schwierigen Situationen zu befreien,
  • welche Mühe sich auf Dauer lohnt und Segen bringt.


Solange einer einen Balken in seinen Augen hat, entgeht ihm oft, wo er sich tölpelhaft verhalten oder vor sich liegende Möglichkeiten nicht genutzt hat. Er bleibt hinter dem zurück, was im Leben möglich wäre. Jesus möchte, dass der Mensch sich nicht selbst kleiner macht, als er wirklich ist, indem er den Balken in seinem Auge belässt und sich stattdessen mit dem Splitter im Auge des Nächsten befasst. Und am Ende begeht der mit dem Balken im Auge dann eventuell noch die Dummheit, stolz auf sich zu sein, weil er sich um den Nächsten gekümmert hat, indem er ihn auf seinen Splitter im Auge hingewiesen hat. Jesus sagt: Nein, fang bei dir an; entferne zuerst den Balken aus deinem eigenen Auge. Erst dann wende dich dem Nächsten zu. Mit heilen Augen wirst du ihn außerdem richtiger sehen und besser beurteilen. Dies drückt auch der britische Komponist, John Rutter, in dem Stück "Open thou mine eyes" aus, wo es übersetzt heißt: "Öffne meine Augen, dass ich sehe. Öffne mein Herz, dass ich dich ersehne."

Musik: John Rutter - „Open thou mine eyes“

Noch einen zweiten Tipp gibt Jesus seinen Zuhörern, der helfen kann, sich zu entwickeln und bewusster als Mensch und Christ zu leben. Jesus sagt: Ein Schüler steht nicht über seinem Meister; erst wenn er alles gelernt hat, wird er wie sein Meister sein. Der Meister der Christen ist Jesus. Wie viel er auch von ihm lernt, der beste Christ wird ihn nie erreichen. Aber im sich Vergleichen mit Jesus haben die Menschen die Möglichkeit, sich zu kontrollieren, ob das Denken, Reden, Handeln seinem Denken, Reden und Handeln nahekommt. Dies sollen jede und jeder auch für sich anstreben. Es ist nun einmal so: Wovon das Herz überfließt, aus den Kräften bilden sich die Früchte, die wir erbringen. Wer eher Neid, Streitsucht, Schadenfreude, Hinterlist, Prahlen und Angeben im Herzen trägt, dessen Früchte sind bitter, stachelig und hart wie Steine. Wo hingegen das Herz überwiegend gefüllt ist mit Liebe wie bei Jesus, werden bei aller Unvollkommenheit im Menschen Früchte heranreifen, die den Namen tragen: Frieden, Freude, Langmut, Güte, Wohlwollen, Freundlichkeit, Treue, Sanftmut, Ehrlichkeit. Samen für diese Früchte hat der Schöpfer jedem Menschen ins Herz gelegt, damit sie wachsen, blühen und reifen können und unter den Mitmenschen spürbare Frucht bringen. Dann würde auch so manche Blindheit des Herzens geheilt und der Mensch könnte tiefer schauen, denn man sieht nur mit dem Herzen gut. 

Musik: A. Guilmant - „Final alla Schumann“ für Orgel und Orchester

Musikauswahl: Regionalkantor Thomas Wiegelmann, Bad Orb

 

 

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