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Trau dich zu beten!
FUNDUS EKHN/Tobias Frick

Trau dich zu beten!

Tanja Griesel
Ein Beitrag von Tanja Griesel, Evangelische Pfarrerin, Fritzlar
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Mein Schultag als Lehrerin beginnt mit einem Morgengebet. Nicht ich spreche es. Die Schülerinnen und Schüler übernehmen das. Sie machen das freiwillig. Sie kennen dieses Ritual seit der fünften Klasse. Für sie ist es selbstverständlich, den Schultag mit einem Gebet zu beginnen. Niemand lacht. Niemand macht sich darüber lustig. Einer wählt ein Gebet aus einem Gebetbuch aus, das er für passend hält. Alle erheben sich. Die Klasse wird leise. Wir hören auf das Gebet und sagen gemeinsam „Amen“. Dann setzen sich alle, und der Unterricht kann beginnen.

Morgengebet und Gottesdienste gehören hier zum Schulalltag

Dass in der Schule gebetet wird, ist eher ungewöhnlich. An der Schule, an der ich unterrichte, ist es Teil der Schulkultur. Ich bin evangelische Schulpfarrerin in einer katholischen Schule. Die, die sich hier anmelden, wissen, was auf sie zukommt. Morgengebet und Gottesdienste gehören zum Schulalltag dazu. Das bedeutet nicht, dass wir fromm und demütig den Kopf senken und zu allem Ja und Amen sagen. Hier wird durchaus gestritten, diskutiert und hinterfragt. Aber es gibt eben auch diese gemeinsamen, verbindenden Elemente wie Gottesdienst und Schulgebet.  

Das Morgengebet hilft, sich auf den Tag zu konzentrieren

Mir tut das Morgengebet gut. Ich komme oft abgehetzt in der Früh um kurz vor acht in die Klasse. Was vorher schon alles los war: Parkplatz suchen, ein kurzes Hallo im Lehrerzimmer, Vertretungsplan checken und dann der Weg in die Klasse, meist einmal durch die ganze Schule. Den Schülerinnen und Schülern geht es nicht anders. Wenn ich morgens den Klassenraum betrete, ist es wuselig. Da gibt es so viel zu erzählen. Der eine packt schon mal das Pausenbrot aus. Die andere kramt in ihrem Rucksack. Jeder ist mit irgendetwas beschäftigt. Auch ich muss schon tausend Fragen beantworten, bevor es überhaupt richtig losgeht. Das Morgengebet konzentriert uns. Es ist eine Hilfe anzukommen. Durchzuatmen. Still zu werden. Danach bin ich bereit für den Tag. Und die Klasse auch.

"Du lernst nicht für die Schule, sondern fürs Leben"

„Du lernst nicht für die Schule, sondern fürs Leben“, lautet ein Sprichwort. Als Schülerin hat sich mir das nicht erschlossen. Ich habe oft geklagt, dass der Unterricht viel zu theoretisch sei. Das hat sich verändert. Heute sollen Schülerinnen und Schüler Unterrichtsinhalte nicht nur auswendig lernen, sondern nachvollziehen und ausprobieren können. Sie sollen Kompetenzen entwickeln, die sie im Leben gut gebrauchen können. Dazu ist es wichtig, nicht nur Dinge auswendig zu lernen, sondern sie einzuüben.

Beten ist nicht schwer

Beten gehört für mich dazu. Es gibt im Leben Momente, in denen brauche ich ein Gebet. Wenn ich überglücklich bin und Gott Danke sagen will. Oder weil ich gerade schwere Zeiten erlebe und dringend Kraft brauche. Oder es läuft alles ganz normal und ich bitte Gott einfach um Segen für diesen Tag. Das erleben meine Schülerinnen und Schüler beim Morgengebet. Sie erfahren: Beten ist nicht schwer. Ich kann es nicht falsch machen. Und ich kann es jeden Morgen tun.

Musik

Das morgendliche Gebet - ein liebgewordenes Ritual

Das Morgengebet in der Schule, an der ich Lehrerin bin, ist mir ein lieb gewordenes Ritual. Rituale sind wiederkehrende Muster und Abläufe. Auf sie ist Verlass. Sie strukturieren den Tag. Gerade Kindern geben sie Sicherheit. Als ich klein war, lief das abendliche Zu-Bett-Bringen so ab:

Auf Rituale ist Verlass

Zuerst las mir mein Vater oder meine Mutter eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Danach haben sie mit mir gebetet. Und mit dem Gebet war auch klar: Jetzt wird geschlafen. Keine Ausflüchte mehr. Kein In-die-Länge-ziehen. Natürlich habe ich versucht, Zeit zu schinden. Noch eine Geschichte. Noch ein Glas Wasser. Noch dies und das erzählen, was am Tag wichtig war. Noch etwas herumalbern. Und sollte mein Vater dann einmal das Gute-Nacht-Gebet über meinen Ablenkungsversuchen vergessen, dann habe ich es eingefordert.

"In meinem Herz ist nicht nur Platz für Jesus..."

Das allererste Gebet, das ich gelernt habe, war: „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.“ Drei einfache Sätze, die sich reimen. Leicht zu lernen für ein Kind. Aber irgendwann wollte ich das Gebet so nicht mehr sprechen. Für mich war es viel zu kurz. Also erweiterte ich die bekannten Gebetsverse. In meinem Herz ist nicht nur Platz für Jesus. Ich schloss auch meine Eltern, meine Schwester, Omas und Opas, sogar Haustiere mit ein ... die Liste wurde immer länger. Meine Eltern dachten, ich hätte eine neue Möglichkeit gefunden, das Abendritual zu verlängern und den Schlaf hinauszuzögern. Aber es war mir wirklich wichtig, niemanden, den ich liebe, zu vergessen.

Beten - ein Dialog mit Gott

Heute ist mir klar, dass das der erste Schritt war, eigene Gebetsworte zu finden. Beten ist Reden mit Gott. Ich trete in einen Dialog mit ihm. Ich spreche aus, was mir wichtig ist. Ich kann Gott sagen, was mich bewegt, erfreut oder mich bekümmert. Und ganz wichtig: Ich kann für andere beten. Wenn ich bete, stelle ich mein Leben in einen größeren Zusammenhang. Ich vertraue mich Gott an.

Musik

Eigene Gebetsworte finden

Ich habe das Beten als Kind gelernt. Meine Eltern haben mit mir vor dem Einschlafen gebetet. Gebete verändern sich. Man wächst aus ihnen heraus, findet neue oder eigene Gebetsworte. Heute bete ich anders, als ich es als Kind tat. Aber die ersten kleinen Kindergebete in Reimform haben das Beten geübt. „Müde bin ich, geh zur Ruh“ oder „Ich bin klein, mein Herz ist rein“. Mit diesen Worten bin ich hineingewachsen ins Beten. Heute erlebe ich als Lehrerin, wie die Schülerinnen und Schüler durch das Morgengebet in der Klasse ins Beten hineinwachsen. Sie erfahren: Beten kann ich allein oder in einer Gruppe, mit geprägten Worten oder in eigenen, leise oder laut, im Stehen oder Sitzen. Alles ist möglich. Im Gebet richte ich mich auf Gott aus.

Fast jede Religion kennt und schätzt das Beten

Das hat Jesus auch getan. Dabei hat er sich manchmal zurückgezogen und wollte allein sein, um zu beten. Aber er hat auch mit anderen zusammen gebetet. Er hat ihnen das Gebet ans Herz gelegt, das Christinnen und Christen bis heute sprechen: „Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name.“ Das ist im Christentum das Gebet der Gebete. Das Hauptgebet für Jüdinnen und Juden ist das Sch`ma Israel: „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig.“ Bei den Muslimen ist das Gebet eine der fünf Säulen des Islam. Fast jede Religion kennt und schätzt das Beten. 

Rogate – Betet!

Der heutige Sonntag ist dem Gebet gewidmet. Er hat einen lateinischen Namen: Rogate – Betet! Ich höre darin eine Ermutigung: Trau dich zu beten! Ich muss nicht, ich darf beten. Ich kann es tun als festes Ritual am Morgen oder bevor ich einschlafe. Oder spontan, wenn mir danach ist.  

"Wenn ich bete, habe ich eine Verabredung mit Gott"

Im Gebet pflege ich meine Beziehung zu Gott. Wenn ich mit jemandem eine Beziehung führe, möchte ich auch Zeit mit dieser Person verbringen. Ein Schüler von mir stellt überrascht fest: „Das ist ja genauso, wie wenn ich mich mit meinem Freund verabrede!“ „Ja“, sage ich und lache, „wenn ich bete, habe ich eine Verabredung mit Gott.“ So funktioniert Beziehungspflege: Man verbringt Zeit zusammen. Man redet. Oder man schweigt. Denn es kommt nicht auf die Worte an. 

Beten ist keine Leistung, die ich erbringen muss

Beten ist keine fromme Leistung, die ich erbringen muss, damit ich vor Gott besser dastehe. Es kommt nicht darauf an, wann, wo und wie oft ich bete. Manchmal fehlt mir die Zeit dazu, manchmal fehlen mir die Worte. Dann bin ich still, schweige und lausche in mich hinein. Und wenn mir etwas besonders schwer auf dem Herzen liegt, besteht mein Gebet nur aus einem tiefen Stoßseufzer. Beten bedeutet für mich: Ich darf sein vor Gott – so wie ich bin, mit allem, was mich beschäftigt und was mir auf dem Herzen liegt.

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