Der Mann auf dem Esel

Der Mann auf dem Esel

Dr. Ursula Schoen
Ein Beitrag von Dr. Ursula Schoen, Prodekanin, Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt

Eigentlich hatte ich ihn nie richtig wahrgenommen – den Mann auf dem Esel in der U-Bahnstation „Habsburger Allee“ in Frankfurt. Schemenhaft glitt sein Bild jedes Mal an mir vorbei, wenn ich durch diese Station fuhr. Eine asketisch wirkende Figur von einem Künstler an die Wand der U-Bahn-Station als Mosaik gesetzt, nackt und glatzköpfig, die mir direkt ins Auge schaut mit einem Palmzweig in der Hand.

Bis eines Tages ein Mädchen neben mir in der U-Bahn ihrer Mutter erklärt hat, wer dieser Mann ist. Ganz selbstverständlich und stolz auf ihr Bibelwissen sagte sie: Das da ist Jesus, der in Jerusalem einzieht. Das erkennt man an der Palme. Mohamed ist auch mit einem Esel geritten, aber in den Himmel und nicht auf der Erde und ohne Palme! Sie hat Recht, dachte ich überrascht, das da könnte tatsächlich ein Bild von Jesus sein.

Die Geschichte des Einzugs Jesu nach Jerusalem wird in acht Tagen am Palmsonntag als Evangelium im Gottesdienst gelesen. Sie erzählt, wie Jesus auf einem jungen Esel den Berg hinauf zu den Toren Jerusalems reitet und jubelnde Menschen ihm entgegengehen, mit Palmzweigen und Jubelrufen. Hinter dieser Geschichte steht die alte Friedensvision aus einem biblischen Buch, dem Buch des Propheten Sacharja. Über das Kommen des wahren König heißt es da: „Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm, und reitet auf einem Esel und auf einem jungen Füllen der Eselin.“ – Das heißt doch: Der Retter Israels kommt wie hunderte von anderen Menschen auch daher geritten. Ein Mensch, der Tuchfühlung sucht, der nahe daran ist am Alltag der Armen und Entmutigten.

Ich hab mich dann erkundigt: Der Künstler heißt Manfred Stumpf, der den Reiter in der U-Bahnstation geschaffen hat. Er hat diese biblische Vision aufgenommen und ihr ein neues Gesicht gegeben. Der Eselreiter in der U-Bahnstation ist nicht allein. Er ist umgeben von über hundert anderen Eseln, die an den beiden Seitenwänden der U-Bahn-Station jeweils in Fahrtrichtung der Züge entlang laufen. Die Esel sind in Schwarz auf weißem Grund gezeichnet. Sie tragen ganz unterschiedliche Lasten: Da ist der Esel, der eine Scheckkarte trägt. Andere Esel tragen Reifen, eine Waschmaschine, die Uhr, ein Telefon, den Globus, das Atommodell. Ich entdecke einen Panzer, eine Gitarre, die Flasche, das Gehirn, den Davidsstern, einen Paragraphen, das Siegertreppchen. Dinge, die meinen Alltag besetzen und mein Leben steuern.

Tja, fast hätte ich ihn übersehen, den Mann auf dem Esel. Doch jetzt ist er die zentrale Figur auf dem Wandfries für mich. Er blickt mir frei ins Gesicht. Wenn ich jetzt durch diese Station fahre, suche ich als erstes seinen Blick. Ich fühle mich ein wenig von ihm gestellt. Vielleicht ist es Jesus, der mich fragt: Welche Gedanken besetzen Dich? Wem schenkst Du Glauben?  Und wo geht der Weg für Dich hin?

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