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Ich bin das, was du nicht bist: Maria und Marta
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Ich bin das, was du nicht bist: Maria und Marta

Stephan Krebs
Ein Beitrag von Stephan Krebs, Evangelischer Pfarrer, Langen

Niemand ist gerne so wie sein Bruder oder seine Schwester. Um sich von ihnen klar zu unterscheiden, unternehmen Kinder einiges. Aber irgendwann muss dann doch jeder zu sich selbst finden, egal wie die Brüder oder die Schwestern sind. Das ist nicht leicht und kann auch weh tun, wie die Bibel erzählt.

Sie heißen Marta und Maria. Sie sind zwei Schwestern, wie es damals viele gab und wie es sie bis heute gibt. Marta ist die ältere und sie ist die vernünftigere. Die Eltern loben sie dafür, dass sie ihr Zimmer aufräumt und dass sie der Mutter in der Küche zur Hand geht. Marta ist ein Organisationstalent. Vielleicht hätte die jüngere Schwester Maria das auch ganz gut gekonnt. Aber wenn sie es versucht, ist ihre ältere Schwester immer schon da – und sie kann es besser. Also sucht sich Maria ein anderes Feld, wo sie glänzen kann.

So stellen die Eltern der beiden immer wieder fest, wie verschieden ihre Töchter sind. Die jüngere Maria ist eher verträumt. Man hat sie gerne bei sich, denn sie kann gut zuhören. Die Eltern sind stolz auf sie, weil sie so kluge Fragen stellt. Aber wenn die Mutter sie bittet einkaufen zu gehen, dann hält sie den Atem an, ob Maria auch alles mitbringen wird.

Die ältere Schwester Marta betet abends gerne im Bett. Zusammen mit Vater oder Mutter spricht sie immer dasselbe Gebet – ein Ritual, das sie liebt. Maria, die jüngere, betet auch, aber nicht immer. Und wenn, dann erzählt sie Gott leise und intensiv, was ihr gerade auf dem Herzen liegt. Davon wissen die Eltern gar nichts.

Was die Schule angeht, da machen sich die Eltern um die jüngere Maria etwas Sorgen. Sie lernt nur, wenn sie etwas wirklich interessiert. Um die ältere Marta machen sich die Eltern dagegen keine Sorgen. Die geht schon ihren Weg. Und das tut sie auch. Vielleicht hätte es Marta gut getan, wenn sich die Eltern auch mal um sie gesorgt hätten. Dann hätten sie vielleicht entdeckt, dass Marta im Grunde ihres Herzens ein ängstliches Mädchen ist. Sie sehnt sich danach, von der Mutter in den Arm genommen zu werden, einfach so. Nicht als Belohnung, sondern aus Liebe. Aber dazu kommt es nicht. Meistens sitzt da schon Maria auf dem Schoss der Mutter. Beim Anschmiegen ist sie immer schneller.

Marta macht sich auch Sorgen um ihre kleine Schwester. Einmal, weil das zu ihr als vernünftigem Mädchen gut passt. Zum Anderen weil es unterstreicht, wie lebenstüchtig sie selber ist. Marta ist davon überzeugt, dass ihr Weg der bessere ist. Aber auf sie wartet ein harter Dämpfer. Oder besser gesagt: Ein heilsamer Schock, mit dem Jesus sie befreien will.

Musik: “I am what I am” von Gloria Gaynor

Über Marta und Maria, die ungleichen Schwestern, erzählt die Bibel eine Geschichte. Dabei geschieht etwas, das ist bedeutsam für alle Geschwister, die einander einengen. Und es ist bedeutsam für alle, die innerlich hin und her gerissen sind zwischen zwei verschiedenen Stimmen, die sie in sich tragen.

Marta und Maria wohnen zusammen in einem Haus. Die Geschichte beginnt damit, dass Jesus die beiden zuhause besucht. Die ältere Schwester Marta hatte ihn und seine Jünger eingeladen. Als die Gäste da sind, legt Marta, die patente und allzeit bereite gute Seele, so richtig los. Die Gäste sollen gemütlich sitzen, gut essen und trinken.

Marta springt im Dreieck – Küche, Keller, Wohnraum. Es dauert nicht lange, da fällt ihr auf, dass ihre kleine Schwester gar nicht mithilft. Wo ist Maria, längst erwachsen, aber immer noch die Kleine? Die sitzt doch tatsächlich drin bei den Gästen und genießt die Nähe von Jesus. Die Last der Gastgeberin liegt ganz allein auf ihr, denkt Marta. Und sie wird sauer.

Wie schade, dass sie sich jetzt nicht für sich etwas Zeit nehmen kann! Dann würde sie merken, wie widersprüchlich sie sich verhält. Sie ist stolz darauf, dass sie alles alleine schultert, sie - die Heldin Marta. Zugleich fühlt sie sich von ihrer Schwester im Stich gelassen. Dafür verachtet sie ihre faule Schwester ein bisschen. Aber sie ist auch neidisch auf sie.

Marta ärgert sich allerdings nicht nur über sie, sondern auch über ihren Gast. Jesus beachtet die kleine Schwester offenbar mehr als ihre Gastgeber-Künste. Marta geht hin und sagt zu ihm: „Fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester alleine dienen lässt?“ Vermutlich hat sie damit gerechnet, dass beide ein schlechtes Gewissen bekommen. Die Schwester, die das nicht zum ersten Mal erlebt, wird die Augen verdrehen, widerwillig aufstehen und irgendetwas aus der Küche holen. Und Jesus wird sich für seine Nachlässigkeit entschuldigen und dann ihre Verdienste aufmerksam loben. Und Marta wird glücklich sein!

Aber es kommt anders. Jesus antwortet: „Marta, du hast viel Sorge und Mühe.“ Ein doppeldeutiger Satz, der Marta mitten ins Herz getroffen haben wird. Sie weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Lachen, weil Jesus all ihren Einsatz anerkennt. Ja, er hat gesehen, was sie alles schultert! Und weinen, weil ihr bewusst wird, dass diese Begriffe ihr ganzes Leben prägen: Sorge und Mühe. Der kleine Satz von Jesus entlarvt ihr Lebensdrama. Sorgen und Mühen - das hat sie gelernt. Es ist immer ihr sicheres Feld gewesen. Darin war sie ihrer Schwester voraus. Dafür war ihr die Anerkennung der Eltern sicher und die aller anderen auch. Aber insgeheim wird sie sich immer gewünscht haben, auch einfach mal nur so da sein zu können wie ihre kleine Schwester. „Marta, du hast viel Sorge und Mühe.“ Was für ein treffender Satz für Marta und alle ihre Wesensverwandten!

Dann setzt Jesus noch einen drauf. Er tut etwas, was Geschwister überhaupt nicht leiden können und dennoch selbst ständig tun: Jesus vergleicht die beiden.

Zwei Schwestern im Vergleich. Wer macht es besser? Marta, die vernünftige oder Maria, die spontane? Jesus entscheidet das klipp und klar und sagt: „Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Maria hat das gute Teil erwählt.“ Die Bibel berichtet nicht, wie es weiter geht. Sicher wird es Marta schwer getroffen haben, denn es zertrümmert ihr Selbstbild. Davon hat sie doch immer gelebt, dass sie es richtig macht, dass sie den guten Weg geht! War das wirklich alles falsch?

Mir tut sie leid. Und mich überrascht, dass Jesus diese klare Position bezieht. Was will er damit erreichen? Jesus geht es immer darum, Menschen zu befreien aus Zwängen, die ihr Leben einschränken. Mir scheint, dass es bei Marta die engen Mauern ihrer Familiengeschichte sind, die ihr den Weg zu einem freieren Leben versperren. Indem Jesus sie hart, aber liebevoll irritiert, eröffnet er ihr einen neuen Weg. Er führt Richtung Freiheit und zu ihr selbst.

Wenn sie ihn geht, dann wird Disziplin nicht mehr das einzige Elixier ihres Lebens sein und auch nicht das ihres Glaubens. Sie wird etwas vom Zauber des Augenblicks lernen. Wenn ihr etwas Schönes begegnet, wird ihr erster Gedanke nicht sein, was diesem Schönen alles passieren könnte. Sondern sie wird hoffentlich die Schönheit erst einmal einfach genießen und für diesen Moment Gott dankbar sein.

Hoffentlich versucht sie nicht so zu werden wie ihre jüngere Schwester. Das wäre nicht ihr Weg. Sie kann eine vernünftige und umsichtige Frau bleiben, ein Organisationstalent. Vielleicht kann sie darin sogar noch besser werden als vorher, denn nun wird sie von Sorgen und Mühen nicht mehr beherrscht. Vielmehr beherrscht sie den Umgang mit ihnen.

Und was ist mit der jüngeren Schwester, mit Maria? Ist nicht auch sie gefangen in ihrer Rolle als kleine Schwester? Das mag sein. Aber Jesus wendet sich der zu, die ihn dringender braucht.

Marta und Maria – das können zwei Schwestern sein, wie sie zu allen Zeiten leben und aneinander leiden. Aber vielen Menschen werden beide irgendwie bekannt vorkommen. Sie verkörpern zwei Stimmen, die auch in einer Brust stecken können. Viele Menschen sind innerlich hin und hergerissen zwischen der Stimme der Vernunft und der Stimme des Gefühls. Gerade Frauen mit der Doppelbelastung von Arbeit und Familie können ein Lied davon singen. Aber auch Männer, die sich zwischen Familie und Arbeit aufteilen. Oft kommen dabei die eigenen Gefühle und Wünsche zu kurz.

Ihnen macht Jesus Mut: Sorge und Mühe – das kann nicht alles sein. Auch die Maria-Seite im Menschen braucht ihre Zeit.

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