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Erntedank
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Erntedank

Ein Beitrag von Karl-Martin Unrath, Pfarrer der Evangelisch-methodistischen Kirche, Saarlouis

„Aller Augen warten auf dich, und du gibest ihnen ihre Speise zur rechten Zeit. Du tust deine Hand auf und sättigst alles, was da lebt, nach deinem Wohlgefallen.“  (Psalm 145,15.f.) Diese Worte aus einem Lied der Bibel, einem Psalm, werden heute, am Erntedankfest, in unzähligen Gottesdiensten überall im Land gelesen, gebetet und gesungen. Und der Altar wird festlich geschmückt sein. Mit Sonnenblumen und Ähren. Mit Kartoffeln und Karotten und allerlei Gemüse. Obst, vor allem Weintrauben und Äpfel. Dazu Brot und Wasser. Vielleicht noch eine Flasche Wein. Zumindest auf dem Land, wo ich mit meiner Familie lebe, ist das noch so. Der Obst- und Gartenbauverein lässt es sich nicht nehmen, am Erntedankfest so richtig aufzufahren. Und das ist auch gut so.

Der reich geschmückte Altar erinnert uns: Wir leben aus der Fülle. Wir haben allen Grund zum Dank. Wir dürfen richtig feiern. Wenn es doch nur für alle gelten würde, dass sie aus der Fülle leben. „Du sättigest alles, was da lebt nach deinem Wohlgefallen.“ Das stimmt ja nicht. Rund eine Milliarde Menschen haben nicht genug zu essen. Sie hungern. Der Hunger, diese uralte Geißel der Menschheit, konnte nicht etwa ausgemerzt oder auch nur zurückgedrängt werden. Er hat vielmehr in den letzten Jahren dramatisch zugenommen. Seit 2010 ist die Zahl der Menschen, die hungern, um etwa 44 Millionen angestiegen, sagen die Fachleute der großen Hilfsorganisationen. Grund ist eine immense Verteuerung der Lebensmittel, gerade auch der Grundnahrungsmittel, in den letzten Jahren.

Alleine zwischen Januar 2007 und April 2008 wurde Reis in Bangladesch um 66% teurer. Die Hirse in Nigeria hat sich um 100% verteuert. Für den Weizen mussten die Menschen im Senegal das Dreifache zahlen. Und die Preisspirale dreht sich massiv weiter. Ist es da nicht fragwürdig, vielleicht sogar geschmacklos und zynisch, wohlgestimmt vor den überreich geschmückten Altar zu treten und das traditionelle Erntedanklied zu singen. „Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land…“?

Als jüngerer Pastor habe ich das durchaus so empfunden. Dann kam noch die Umweltfrage dazu. Und so manche Fragwürdigkeit einer industrialisierten Landwirtschaft. Das alles hat mich damals in Versuchung gebracht, meiner Gemeinde den reich geschmückten Altar madig zu machen. Ich bin heute nicht mehr sicher, ob ich das je getan habe. Falls ja, bitte ich um Verzeihung. Heute denke ich, je reicher der Altar geschmückt ist, desto besser. Desto erkennbarer wird nämlich, dass die Fülle tatsächlich groß genug ist, dass niemand hungern müsste. Desto drängender wird die Frage, warum trotzdem nicht alle satt werden. Und desto größer wird die Sehnsucht nach einem Erntedankfest, dass alle, alle mitfeiern können.

„Früher konnte ich mit 20 Dollar meinen Einkaufswagen füllen. Jetzt geht das nicht mehr ... Ich gebe 40 Dollar aus, und es ist immer noch nicht genug. Ich kann noch nicht mal einen Einkaufskorb füllen, weil alles so teuer ist. Wir schaffen es einfach nicht“, sagt Maria Antonia Leon aus El Salvador. Sie hat für eine fünfköpfige Familie zu sorgen. In den armen Ländern des globalen Südens müssen die Menschen im Schnitt bis zu 80% ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben. Bei uns sind es durchschnittlich etwa 10 %. Wenn dann immer alles teurer wird, ist ganz schnell der Moment gekommen, dass das Geld einfach nicht mehr reicht.

Frauen sind die ersten, die hungern. Ein Landarbeiter aus Bangladesch berichtet: „Früher haben wir immer versucht, ein wenig Nahrung im Haus zurückzulegen. Heute machen wir das Gegenteil: Alle essen weniger. Frauen müssen die größten Opfer bringen. Sie essen erst, nachdem alle anderen versorgt sind.“ Und eine Frau aus Kenia sagt: „Wir haben ja Kinder, wir gehen lieber ohne Essen aus dem Haus, damit unsere Kinder zu essen haben.“ Eine Mutter aus einem Dorf in Mauretanien erzählt, warum sie einen leeren Topf aufs Feuer setzt, wenn sie das Essen für ihre Familie nicht mehr bezahlen kann: „Wenn wir den Kindern sagen, dass es nichts zu essen gibt, schreien sie und wir könnten nichts tun. So schlafen sie durch das Geräusch des kochenden Wassers ruhig ein.“

„Mit Essen spielt man nicht“, heißt die Studie, die die Hilfsorganisation Oxfam in diesem Jahr vorgelegt hat und der diese Stimmen von Betroffenen entnommen sind. Und auch darauf weist Oxfam hin: Hungrige Kinder schreien. Das ist nicht nur für sie furchtbar, sondern auch für ihre Eltern. 2011 gab es mehr Berichte über häusliche Spannungen in den Ländern, die von der Nahrungsmittelkrise betroffen waren, als im Jahr davor. Häusliche Gewalt nahm zu. Wenn alles Geld für Lebensmittel ausgegeben werden muss, bleibt nichts mehr übrig, um Kinder zur Schule zu schicken. Wenn auf dem Feuer nur noch Wasser kocht, woher soll dann das Geld für Bücher und die Schuluniform kommen? Ohne Schulausbildung aber ist der Weg aus der Armut unmöglich.

So verdammt die derzeitige Nahrungsmittelkrise weitere Generationen zu einem Leben in Armut. Dabei ist das Wort „Nahrungsmittelkrise“ eigentlich irreführend.  Die Ursache ist nämlich nicht wirklich eine Krise der Nahrungsmittel, also ein Mangel. Grundsätzlich besteht das Problem darin, dass Nahrungsmittel so teuer geworden sind. Wenn dann tatsächlich auch noch Ernteausfälle durch Dürre oder Schädlingsbefall hinzukommen, ist die Katastrophe da. Und genau das erleben wir derzeit. Das heißt, wir erleben es ja nicht. Unser Erntedankaltar ist reich geschmückt. Obwohl, es soll nicht vergessen werden: Auch bei uns gibt es viele Menschen, deren Einkommen nicht reicht, um sich und ihre Familien ausreichend zu ernähren. Sie verhungern nicht. Aber sie leiden Mangel. Die langen Schlangen vor den Lebensmitteltafeln zeigen das deutlich. In der nächsten Zeit wird sich das noch verschlimmern. Die Bäcker haben schon angekündigt, dass Brot teurer wird.

Für eine Milliarde Menschen geht es tatsächlich und ganz real um Leben und Tod. Weil die Nahrungsmittelkrise vor allem die Grundnahrungsmittel ständig verteuert.

Was macht die Lebensmittel weltweit eigentlich so teuer? Der Preis von Waren richtet sich nach Angebot und Nachfrage. Sollte man meinen. Tatsächlich gilt das für die Preise der Grundnahrungsmittel nicht, bzw. nicht mehr. Natürlich spielen Ernteausfälle nach wie vor eine Rolle. Eine gewisse Schwankung in den Preisen gab es deshalb schon immer. Kurzfristig und zumeist regional. Aber die Grundnahrungsmittel werden nicht deshalb teurer, weil das Angebot immer knapper würde. Tatsächlich sind Lebensmittel in den ersten Jahren des Jahrhunderts sogar billiger geworden; Reis z.B. um rund 35%.

Den ersten Preisschock für Lebensmittel gab es 2008. Die Zahl der Hungernden, so die Hilfsorganisation Oxfam, stieg daraufhin auf über eine Milliarde. Mitursächlich für den rapiden Preisanstieg auch eine Reihe von negativen Faktoren, die es (leider) schon lange gibt. Das Land ist ungerecht verteilt, Kleinbauern haben zu wenig Land und sie werden gegenüber den großen Konzernen benachteiligt. Vielen fehlt der Zugang zum Wasser. Böden verschlechtern sich durch nicht-nachhaltige Landwirtschaft. Frauen, die ja in vielen Ländern die Feldarbeit machen, werden diskriminiert. Nur, wie gesagt, das alles ist nicht neu und erklärt nicht die extreme Verteuerung.

Neu dazu gekommen ist die Verwendung von Lebensmittelpflanzen und Anbauflächen für Bio-Sprit und Energiegewinnung. Sie hat nicht nur Grundnahrungsmittel verteuert und damit die Hungerkrise verschärft. Sie schafft auch, das wird immer deutlicher, neue ökologische Probleme. Aber auch das erklärt die Verteuerung der Grundnahrungsmittel noch nicht ausreichend.

Der entscheidende Grund dafür, dass Lebensmittel so teuer geworden sind, liegt in der zunehmenden Spekulation mit Agrarrohstoffen. Damit ist die Spekulation mit Lebensmitteln auch die wesentliche Ursache für die wachsende Zahl von Menschen, die hungern. Spekulation mit Agrarrohstoffen tötet. „Wir nehmen an, dass Indexfondsaktivitäten (also Spekulation) […] eine Schlüsselrolle bei der Preisspitze von 2008 gespielt haben.“ Das sagen nicht etwa Vertreter wirtschaftskritischer Hilfsorganisationen. Das Zitat stammt vielmehr von Mitarbeitern der Weltbank und der EU-Kommission. Selbst das Weltwirtschaftsforum hat in diesem Jahr eingeräumt, dass die Entwicklung der Nahrungsmittelpreise eng mit der Spekulation verbunden ist.

Die Spekulation mit Agrarrohstoffen hat rapide zugenommen. Seit 2003 stieg das Volumen der Agrarindexfonds (dabei geht es immer um Warentermingeschäfte mit Agrarrohstoffen) von neun auf 99 Milliarden US-Dollar. Deutsche Banken sind daran mit über 11 Milliarden beteiligt. Kaum eine Sparkasse, die heute ihren Kunden nicht empfiehlt, Papiere von Agrarindexfonds in ihr Portfolio aufzunehmen. Was ist falsch daran? Warentermingeschäfte mit Agrarrohstoffen gibt es schon lange. Sie sind auch durchaus sinnvoll. Nahrungsmittelerzeuger und -händler können mit einem Warenterminkontrakt das Risiko von Preisschwankungen absichern.

Das Problem entsteht da, wo nicht mehr reale Waren gehandelt werden, sondern die Warenterminkontrakte selbst. Im Fachjargon heißen diese Geschäfte „Futures“. An den Warenterminbörsen haben sich schon immer auch Spekulanten getummelt. Da war o.k. so lange sie in der Minderheit blieben. Sie brachten Geld in das System, das so liquide blieb. Früher kamen auf einen Spekulanten zwei, die wirklich mit Waren gehandelt haben. Heute kommen auf einen realen Warenhändler zwei Spekulanten.

Durch die Spekulation werden die Preise gebildet. Die haben zwar mit dem realen Warenwert überhaupt nichts mehr zu tun. Aber sie gelten dann auch für die realen Lebensmittel. Obwohl nur etwa 7% der Agrarrohstoffe an den Börsen gehandelt werden, bestimmen die Agrarindexfonds, also die Spekulation, den Preis für den gesamten Markt. Gleichzeitig bergen überhitzte Spekulationen immer die Gefahr von Spekulationsblasen. Die platzen früher oder später, die Preise stürzen ins Bodenlose und viele Erzeuger ins Elend.

„Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben“, heißt es im biblischen Buch der Sprichwörter (Spr. 14,34). Ungerechtigkeit zerstört nicht nur das Leben derer, die direkt darunter zu leiden zu haben. Sie zersetzt jede menschliche Gesellschaft. „Gerechtigkeit erhöht ein Volk!“ Offensichtlich wächst das Bewusstsein dafür, wie fragwürdig Finanzspekulationen mit Lebensmitteln sind – auch bei den Banken. Die Commerzbank, die DekaBank der Sparkassen und die Landesbank Baden-Württemberg wollen alle Anlageprodukte, die mit Agrarrohstoffhandel zu tun haben, aus ihrem Angebot nehmen. Im Gegensatz dazu immer noch dicke dabei: die Deutsche Bank und die Allianz.

Zum Glück nimmt auch in der Politik die Kritik an der Spekulation mit Agrarrohstoffen zu. Es gäbe durchaus Möglichkeiten, den Warenterminhandel mit Lebensmitteln zu regulieren. Damit die Politik Druck macht, braucht es den Druck der Wähler auf die Politik, also unseren. Was können wir sonst tun? Vor allem: Uns nicht an Agrarrohstoffindexfonds beteiligen. Es zwingt uns ja niemand, am Hunger der Ärmsten auch noch Geld zu verdienen. Was auch ganz und gar nicht schadet, ist, fair gehandelte Waren einzukaufen. Es gibt sie in fast jedem Supermarkt. Übrigens auch in vielen Kirchengemeinden. Und damit sind wir wieder beim heutigen Erntedankfest.

„Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit. Du tust deine Hand auf und sättigst alles, was da lebt, nach deinem Wohlgefallen.“  (Psalm 145,15.f.) Ja, so könnte es sein: Alle werden satt. Die Schöpfung Gottes gibt das her. Die reich geschmückten Erntedankaltäre zeigen es. Die geschmückten Altäre sind ja keine Leistungsschau der Bauern oder der Obst- und Gartenbauvereine. Sie sind ein Dankopfer. Gott, der das Leben gibt und die Mittel zum Leben, wird Dank dargebracht. Die Kartoffeln und Möhren, Lauch, Weintrauben und Äpfel, Brot und Wasser und die Flasche Wein werden gleichsam in den Bereich des Heiligen gerückt. Weil sie Mittel zum Leben sind. Und weil das Leben Gott heilig ist. Unser Leben und das der Mutter aus El Salvador, der aus Mauretanien, der Kenianerin, des Landarbeiters aus Bangladesch und das der Frauen, von denen er erzählt. Das Leben der einen Milliarde von Menschen, die hungern müssen. Dass denen, die Gott heilig sind, die Mittel zum Leben vorenthalten werden, ist nicht nur skandalös und ungerecht. Es ist eine Sünde. Und die ausufernde Spekulation mit Lebensmitteln ist es auch.

Um den Hunger zu besiegen, braucht es regulierte Finanzmärkte, eine nachhaltige Landwirtschaft, es braucht Landreformen sowie Umwelt- und Klimaschutz. Es braucht gerechte politische und wirtschaftliche Strukturen. All das braucht es. Vor allem aber braucht es eine veränderte Einstellung zum Leben, das Gott heilig ist. Und damit auch zu den Lebens-Mitteln.

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