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Glas und Glauben

Glas und Glauben

Stephan Krebs
Ein Beitrag von Stephan Krebs, Evangelischer Pfarrer, Langen

Aus kleinen Begebenheiten können sich große Dinge ergeben. Im Nachhinein fragt man sich dann: War das nun Zufall? Oder hatte da jemand seine Hand im Spiel, weil er mit mir etwas Bestimmtes vorhatte? So ist es Johannes Schreiter ergangen. Auf einer alltäglichen Zugfahrt wurden die Weichen für sein ganzes Leben gestellt. Dabei saß er nicht einmal selbst in diesem Zug.

Für Schreiter ist klar: Auf jener Zugfahrt war nicht der Zufall am Werk, sondern Gott führte die Regie. Er ist evangelischer Christ und weiß sich fest in Gottes Hand – für ihn ist das eine beruhigende und befreiende Gewissheit – vielfach bewährt in einem 85 Jahre langen Leben. Den größten Teil davon hat er in der hessischen Stadt Langen, südlich von Frankfurt, verbracht.

Johannes Schreiter ist heute einer der weltweit renommiertesten Glaskünstler. Hunderte der schönsten Glasfenster hat er geschaffen. Der Weg dorthin begann 1957 in eben jenem Zug. Darin kamen zwei Reisende miteinander ins Gespräch. Die eine war eine Studentin, der andere war ein katholischer Priester, der sich um das schwierige Verhältnis zwischen moderner Kunst und den Kirchen mühte. Der Priester hörte aufmerksam zu, als die junge Studentin von einem Glasfenster schwärmte, das ein befreundeter Mitstudent gestaltet hatte. Er notierte sich dessen Adresse, und wenig später besuchte er den jungen Kunstabsolventen Johannes Schreiter.

Er sah dessen Fenster und war so begeistert, dass er alle Hebel in Bewegung setzte, um es auszustellen auf der sogenannten Interbau, der größten Architekturmesse der damaligen Zeit. Dort sah es wiederum der Dombaumeister von Würzburg. Er bat dessen Schöpfer, ein Fenster für den Neubau einer Kirche in der Nähe von Würzburg zu gestalten. Schreiter sagte sofort zu. Dies war sein erster Auftrag. Er konnte darin seine gerade erst erkämpfte künstlerische Identität verwirklichen. Diesem ersten Auftrag folgte der nächste – und der nächste. Es hat einfach nie wieder aufgehört – bis heute, fast 60 Jahre und Hunderte Fenster später. So kann eine kleine Begegnung ein ganzes Leben prägen.

Dabei wollte Schreiter eigentlich gar keine Glasmalerei mehr machen, denn damit war er von einem Lehrer im Studium überstrapaziert worden. Das kleine Interbau-Bild, das sein weiteres Leben bestimmen sollte, hatte er aus Reststücken hergestellt – aufgelesen aus dem Abfallcontainer einer Glasfirma. Doch das bescheidene Werk, das er daraus schuf, zeugte schon deutlich von seinem künstlerischen Talent und von seiner geistlichen Konzentration.

Heute sind seine Glasfenster auf allen Kontinenten zu finden – von Edmonton in Kanada bis Rio de Janeiro in Brasilien, von London in England bis Schomono Seiki in Japan. Die meisten in Deutschland. In Bibliotheken, Rathäusern, privaten Gebäuden, Synagogen und natürlich in Kirchen. Einige Beispiele: die Synagogen in Kassel, Mainz und Chemnitz, die Dome in Mainz, Limburg und Augsburg, die Stiftskirchen in Darmstadt und Stuttgart, die Peterskirche in Heidelberg, die Nikolaikirchen in Kiel und Stralsund.

Wie viele Glasfenster Schreiter entworfen hat, weiß er selbst nicht genau. Er arbeitet auch jetzt, als 85jähriger, unermüdlich weiter. Künstler und Christen brauchen keinen Ruhestand, sie leben ihre Berufung, so lange sie können.

Musik : „Allegretto“ aus „Mondschein Sonate“ von Beethoven

Derzeit arbeitet Johannes Schreiter an Kirchenfenstern für Osnabrück und Rothenburg ob der Tauber. Außerdem hat er noch einen besonderen Auftrag: Fenster für die Stadtkirche in seiner Heimatstadt Langen in Hessen. Wie schafft er es, über mehr als sechs Jahrzehnte hinweg derartig kreativ zu sein? Hat er einen Trick? Er sagt:

"Irgendwelche geistigen Techniken habe ich zur Provokation meiner Kreativität keine entwickelt. Ideen, die sich plötzlich einstellen, halte ich zunächst in kleinen Skizzen fest. Als wirklich ergiebig habe ich jedoch in den letzten Jahren das Ora et Labora erfahren."

Ora et labora – bete und arbeite. So lautet die alte Regel der christlichen Mönche, die sich Schreiter zu Eigen gemacht hat. Hier blitzen die zwei Geisteswelten auf, die er in seiner Person verbindet: Die Glaskunst und der Glaube. Beides sieht er in seinem Werdegang angelegt.

"Ich bin ganz sicher, dass die Veranlagung einfach zu jedem schöpferischen Tun ein Geschenk von oben ist, also eine Berufung. Spätestens als Schüler wurde mir klar, dass mir die Kunst als Aufgabe anvertraut worden war."

Doch nicht nur das Malen war Schreiter in die Wiege gelegt. Auch die Musik. Aber die konnte er nicht mehr zum Beruf machen, als er sich im Alter von 19 Jahren eine langwierige Verletzung am linken Arm zuzog. Das geschah 1949, da kroch er nachts auf allen Vieren unter einem Stacheldraht durch. Der hieß damals noch Zonengrenze und ist heute verschwunden. Damals floh Schreiter aus seinem Geburtsort Annaberg-Buchholz im Erzgebirge, weil er in den Uranbergbau zwangsrekrutiert werden sollte. Unter diesem „Stacheldraht“ endete sein Musiktraum. Doch aus seinen jungen Jahren gibt es einige Kompositionen von ihm. Einige davon erklingen in dieser Sendung. Die folgende trägt den Titel „Faustnatur“.

Musik: „Faustnatur“ von Johannes Schreiter

Wer ein Schreiter-Fenster sehen will, muss nicht unbedingt weit herumreisen. Auch im Internet kann man viele bewundern. Schnell ist das Auge geschult und erkennt das Besondere an seinen Fenstern. Er war der erste, der in der Glasmalerei eine künstlerische Idee über mehrere Fenster hinweg entfaltete. Er war zudem der erste, der seine Ideen von den Eingrenzungen der Fensterränder und Bleikanten befreite. Und vor allen anderen führte er große Acrylglasflächen in die Glasmalerei ein. Sie sind es auch, die sofort auffallen: die markant großen Farbflächen.

Das Auge versinkt geradezu in leuchtenden Blautönen, in erdigen Ocker-Braunschattierungen oder anderen intensiven Farben. Dabei scheint sich das Glas selbst unsichtbar zu machen. Es tritt zurück, damit allein die Farben sichtbar werden, die das hereinströmende Licht zum Leuchten bringt. Aber die Weite dieser Farbflächen wird unterbrochen. Kleine schwarze Linien durchziehen die Farbflächen wie Wege in einer Landschaft. Manche sind kerzengerade und geben dem Fenster eine klare Struktur. Andere schlängeln, mäandern und kräuseln sich durch die Buntglasflächen wie ein chaotisches Krabbeln.

"In meinen Arbeiten sind die Gegensätze von geraden und impulsiv-spontan wirkenden Linien kaum zu übersehen. Für mich beinhalten die Geraden eher geometrische, unumstößliche Ordnungen, die aber grundsätzlich der Gefahr ausgesetzt sind, zu erkalten, zu erstarren. Dem gegenüber stecken die spontanen, organischen Linien voller unberechenbarer Eigenschaften. Sie können zielstrebig, suchend, vital, torkelnd, explosiv bis anarchisch, erschöpft und gelegentlich sogar behutsam agieren. Jedenfalls ergänzen, beleben, stützen oder attackieren sie die weitaus stummeren, unbeweglichen Linien. Sie treten quasi symbiotisch auf."

Da ringen Chaos und Ordnung miteinander und brauchen einander zugleich. Aber das ist noch nicht alles. Zu den Schreiter-Fenstern gehört noch etwas Drittes: Kleine Zeichen und Symbole. Manche sind figürlich – wie etwa züngelnde Flammen, Knochen oder ein Fingerabdruck. Andere sind ganz abstrakt, reduziert auf eine Grundform, etwa ein Pfeil. Eine Form findet sich in vielen Fenstern wieder. Schreiter nennt sie „Klammerfiguren“. Sie haben die Gestalt eines eckigen Hufeisens. Mal stehen sie nach oben hin offen. Dann wirken sie wie Hände, die sich gen Himmel recken – als Symbol des Empfangens. Oder die Klammerfigur steht umgekehrt, also nach unten hin offen. Dann symbolisiert sie die Hände Gottes, die geben, die segnen. Seitlich gedreht stehen die Klammerfiguren für Menschen, die einander geben und nehmen. Es sind Ur-Gesten des Lebens.

Auf den Fenstern von Johannes Schreiter gibt also viel zu entdecken, denn sie stecken voller kleiner Anregungen und Anspielungen. Aber den ersten Eindruck dominieren zweifellos die großen, satten Farbenflächen. Sie tauchen den gesamten Raum in eine Atmosphäre der Ruhe, der Gelassenheit. Der Stille vor Gott.

Musik: „Notturno lyrico“ von Johannes Schreiter

Stille vor Gott, Konzentration auf das Wesentliche – das ist Schreiters zentrales Anliegen. Das bezieht er zum einen auf den ganzen Lebensstil – Schreiter wirbt für die Kraft der Stille. Er warnt davor, sich im grellen Reizüberfluss des modernen Lebens zu verlieren. Konzentration auf das Wesentliche – das gilt zum anderen auch für Schreiters eigene Kunst. Sie zielt auf Kernaspekte des Menschseins. Er nennt das: „Ablenkung vom Unwesentlichen“. Schreiters Fenster sind schön – und sperrig zugleich. Auf die Schnelle sind sie nicht zu verstehen. Sollen sie auch nicht. Schreiter will den Betrachterinnen und Betrachtern etwas zumuten und damit auch etwas zutrauen – und etwas zusprechen. Was sind seine Ziele?

"Nun, in erster Linie sicherlich die, meine mir unter den Nägeln brennenden Anliegen mit möglichst vielen zu teilen. Dazu muss unbedingt auch mein Wunsch gezählt werden, den Analphabeten der Stille wieder ein Stückweit in diese zweifellos unverzichtbare Qualität zu locken. – Nichtsdestoweniger: Das Betroffen-Sein des Betrachters durch meine Botschaft lässt sich weder konzipieren noch manipulieren – es bleibt zum Glück ein Geheimnis."

Schreiter will also niemanden bevormunden, aber anregen will er schon – zum Beispiel nach Gott zu suchen im eigenen Leben. Dabei sind ihm Zweifel an Gott wohlbekannt. Am eigenen Leib hat er erfahren, was dem modernen Menschen weithin verloren gegangen ist.

"Verlorengegangen ist ihm zum einen das Misstrauen in seine Autonomie und zum anderen das in die Irrtumslosigkeit seines Verstandes. Der Aphoristiker Martin Kessel hat das absolut treffsicher auf den Punkt gebracht. Er schrieb: „Es gehört Verstand dazu, um zu erkennen, dass es Dinge gibt, an die der Verstand nicht heranreicht. – So war das übrigens auch vor der Bankrotterklärung meines anmaßenden Intellekts bei mir. Damit war allerdings der Boden für eine Umkehr hin zu den Maximen Jesu präpariert."

Schreiters Elternhaus war christlich-pietistisch geprägt. Doch das alleine brachte ihm Gott nicht so nahe, wie er es heute empfindet. Dazu bedurfte es einer existentiellen Grenzerfahrung. Sie geschah 1983.

"Während einer Gastdozentur in Neuseeland hatte ich mir eine Infektion zugezogen, die mich völlig lahm legte. Die Ärzte standen vor einem Rätsel. Auch ich war am Ende meines humanistischen Lateins. Meine geliebte Philosophie erwies sich als ein Rettungsring mit Löchern, und mein Vertrauen in den Fortschritt der Wissenschaft geriet genauso ins Wanken. Ich begriff, dass meine Hilfe nur noch geschenkweise, und zwar aus einer anderen Dimension kommen konnte. Ergebnis: Mein Paradigmenwechsel hin zu Christus! – Ich verlor nach dieser Lebensübergabe an den Herrn aller Herren nicht nur meine schlimmen, düsteren Ängste, sondern 1988 außerdem diese angeblich unheilbare Krankheit. Mein „Regierungswechsel“ bewirkte zudem noch eine tiefgreifende Veränderung meiner Farb-Welt. Sie verlor gewissermaßen ihre „Hoffnungslosigkeit“, ihr apokalyptisches Klima."

Musik: „Träumerei“ von Johannes Schreiter

Johannes Schreiter ist als Künstler ein bewusster evangelischer Christ. Was ist für ihn das Besondere und das Tröstliche am christlichen Glauben?

"Für den an die Zusagen der Bibel Glaubenden ist Gott der Handelnde. Er kommt auf den Menschen zu. Der Versöhnung-Suchende nimmt die Rettung aus seiner Misere ausschließlich im Glauben in Empfang. Er vertraut darauf, dass der Mann aus Nazareth vor 2000 Jahren für uns alles Not-Wendige wieder ins Lot gebracht hat. Mehr wird von ihm nicht verlangt. – Ein Christ wird folglich „ohne Verdienst“, also geschenkweise „gerecht, aus Gottes Gnade, durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“ Nun, da Gott bereits mehrmals als Heilender und Handelnder in meinem Leben gegenwärtig und tätig war, kann ich, ohne mich zu weit aus dem Fenster zu lehnen, mit Hiob bekennen: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt!“"

Schreiter ist nicht nur fromm, sondern auch kritisch. Kritisch gegenüber den Kirchen und gegenüber der Kunst. Energisch fordert er von beiden innere Substanz und eine klare Kante gegen das, was er die Entgeistung des modernen Lebens nennt.

"Das, was unser Glaube von uns fordert, ist bestimmt nicht zuletzt auch das Gegen-den-Strom-Schwimmen, das heißt gegen die Denk- und Praxismuster des sogenannten Zeitgeistes. Und unter Umständen auch, wo nötig, gegen lähmende Traditionen der Kirchen. Dies betrifft im Übrigen ebenso meine Kritik an der Herausforderungslosigkeit unterhaltungssüchtiger Kultur und lauer, nichtssagender Kunst. Für hohles, halbseidenes Entertainment sorgen doch wohl schon andere Medien zur Genüge, oder?"

Streng ist Johannes Schreiter – mit sich, der Gesellschaft, der Kunst und der Kirche. Zugleich weiß er um die Güte Gottes, die auch ihn trägt. In seinem Leben gelten Beten und Arbeiten, Güte und Strenge, klare Kante und chaotische Linien – zwischen all diesen Kontrasten gibt es etwas, worin der Mensch Johannes Schreiter einen Ruhepol für sich findet. Es ist ein Bibelvers des Propheten Jesaja. Es ist der, der bei jeder Taufe gesprochen wird. Und der hier das Schlusswort ist.

"Ich empfand, dass hier auch ich gemeint bin; dass dieser Anruf – „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“ – nicht bloß Jakob und Israel galt. So etwas befreit einfach enorm von unserem gleichsam angeborenen Ego-Stress. „Du bist mein“, sagt Gott. Die lästige Fürsorgepflicht liegt somit bei ihm. – Ungeheuer entkrampfend, finde ich!"

Musik: „Neckerei“ von Johannes Schreiter

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