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Matthias Claudius - ein evangelisches Porträt zum 200. Todestag
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Matthias Claudius - ein evangelisches Porträt zum 200. Todestag

Ein Beitrag von Gisela Brackert, Journalistin und Autorin im Ruhestand, evangelisch, Frankfurt

„Ich danke Gott und freue mich /Wie’s Kind zur Weihnachtsgabe/ Dass ich bin bin! / Und dass ich dich/ Schön menschlich Antlitz habe.“ In diesen wenigen Zeilen haben wir ihn schon, den ganzen Matthias Claudius. Haben wir das Unverwechselbare, das diesem Poeten eigen ist und das bis heute provoziert: er konnte sich von Herzen freuen über Dinge, die anderen kaum einer Erwähnung wert sind.

Man hat ihn naiv genannt, einfältig, fromm und gottergeben. Und fromm, im Sinne einer unangefochtenen Herzensfrömmigkeit, das war er sicher. Aber naiv? Kann ein solcher Naivling mit literarischen Größen seiner Zeit befreundet sein? Mit Herder, mit Klopstock, mit Lessing? Kann ein Einfaltspinsel Gedichte schreiben, die bis heute zu den literarischen Schätzen zählen und nicht nur in Büchern überlebten, sondern als Lieder tief im kollektiven Gedächtnis verwurzelt sind: Das Märzenlied „Wir pflügen und wir streuen“, das Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“, oder auch „Der Tod und das Mädchen“, das vor allem in der Schubert-Vertonung unsterblich wurde.

Nein, indem man ihn platt bügelt, wird man diesem Mann nicht gerecht. Matthias Claudius entstammte einer alten schleswig-holsteinischen Pfarrerdynastie und wurde 1740 als Sohn eines Pfarrers in Reinbeck geboren. Er besuchte die Lateinschule in Plön, ging zum Studium nach Jena. Versuchte es dort ebenfalls mit Theologie, fand sich von der akademischen „Gottesgelahrtheit“ jedoch wenig angesprochen und wechselte zur Jurisprudenz. Nach drei Jahren verließ er die Universität. Ein Abschluss lässt sich nicht nachweisen.

In den folgenden Jahren versuchte er, im Journalismus Fuß zu fassen, in bescheidenen, schlecht bezahlten Positionen. Zunächst bei einer Hamburger Zeitung für die Geschäftswelt, dann ab 1771 als einziger Redakteur einer neu gegründeten Zeitschrift mit dem Titel „Der Wandsbecker Bothe“. Dieses mehrmals wöchentlich ausgelieferte Blättchen mit politischen Nachrichten und einem unkonventionellen Feuilleton hat sich für immer mit dem Namen Matthias Claudius verbunden, obwohl die Ehe zwischen dem Blatt und seinem einzigen Redakteur nur vier Jahre dauerte.

Ganz im Gegensatz zu Claudius eigener Ehe mit der Wandsbecker Zimmermannstochter Rebecca Behn, der großen Liebe seines Lebens, der Mutter seiner zwölf Kinder.

Er hatte sie im Dezember 1770 auf Wohnungssuche in Wandsbeck kennengelernt. Das schöne junge Mädchen, das ihm unbefangen und tatkräftig entgegentrat, war sechzehn Jahre alt. Er selbst bereits dreißig. Ein gutes Jahr später wurde geheiratet. Immerhin konnte der Ehemann damals eine Anstellung nachweisen, mit der es freilich drei Jahre später schon wieder zu Ende war.

Claudius hat nach einem letzten gescheiterten Versuch in Darmstadt nie wieder einen sogenannten ordentlichen Beruf angestrebt. Das Arbeiten nach der Uhr, in Hierarchien und Kanzleien war seine Sache nicht. Er brauchte kreativen Freiraum, innere Unabhängigkeit und war zudem ein Familienmensch, wie selten einer gefunden wird. Er war aber auch ein Landmensch. Zu Hause wurde Platt gesprochen, die Entscheidung für das einfache Leben wurde bewusst getroffen.

Denn Ehr und Reichtum treibt und bläht/ Hat mancherlei Gefahren./ Und vielen hats das Herz verdreht,/ Die weiland wacker waren.
Und all das Geld und all das Gut/ Gewährt zwar viele Sachen/ Gesundheit, Schlaf und guten Mut kanns aber doch nicht machen.
Und die sind doch bei Ja und Nein/ ein rechter Lohn und Segen/ Drum will ich mich nicht groß kastei’n/ Des vielen Geldes wegen.
Gott gebe mir nur jeden Tag/ Soviel ich darf zum Leben/ Er gibt’s dem Sperling unterm Dach/ Wie sollt’ers mir nicht geben.

MUSIK

Wandsbeck ist heute ein Stadtteil von Hamburg mit 33.000 Einwohnern. Um 1770, als Matthias Claudius dort Wohnung nahm, war es ein Gut mit einem Schloss, zu dem ein Dorf gehörte mit etwa 500 Einwohnern. Sein Besitzer war damals der erfolgreiche Unternehmer Schimmelmann, der unter anderem die Finanzen der dänischen Krone verwaltete. Wandsbeck gehörte damals zu Dänemark, obwohl es kaum mehr als 5 km von Hamburg entfernt lag .Von Schimmelmann ging die Initiative zur Gründung des „Wandsbecker Bothen“ aus. Der gerade wieder arbeitslose Matthias Claudius wurde der einzige Redakteur.

Die Zeitschrift sollte politische Nachrichten übermitteln und Gedanken aus der sogenannten „gelehrten Welt“, eine Sparte, deren sich Claudius mit besonderem Eifer annahm und über die er versuchte, der Zeitschrift etwas Eigenes, etwas Unverwechselbares zu geben. Er gewann die literarischen Eliten seiner Zeit zur Mitarbeit, griff aber vor allem selbst zur Feder. Und das auf so eigenwillige Art, dass die Zeitschrift heute als eine der interessantesten Publikationen des 18. Jahrhunderts gilt, obwohl sie sich nur vier Jahre halten konnte.

Der Inhalt ist nicht leicht auf einen Nenner zu bringen, die Artikel sind nicht mit Namen gezeichnet und auch Claudius selbst tritt im Wandsbecker Boten in einer Vielfalt von Rollen auf.

Ich bin eine Bote und nicht mehr. Was man mir gibt, das bring ich her, gelehrte und politsche Mär.

Als Bote Asmus stilisiert er sich zu einem Menschen mit bescheidener Bildung und niedrigem sozialen Rang, der aber doch nicht umhin kann, sich über das, was er hin und her trägt, seine Gedanken zu machen. Das geschieht im Austausch mit weiteren erfundenen Personen, und so können die Dinge im Plauderton hin und her gewendet werden.

Bei sich selbst ist Claudius am ehesten in den eingestreuten Gedichten. Wie zum Beispiel in einem Vierzeiler unter dem Titel: „Als er sein Weib und’s Kind an ihrer Brust schlafend fand.“

"Das heiß ich rechte Augenweide/ Das Herz weidet sich zugleich/Der alles segnet, segne Euch beide! / Euch liebes Schlafgesindel, Euch."

Ähnlich persönlich das Gedicht „Als der Hund todt war“

"Alard ist hin, und meine Augen fließen/ Mit Tränen der Melancholie! Da liegt er tot zu meinen Füßen/Das gute Vieh!
Er that so freundlich, klebt’an mich wie Kletten/ Noch als er starb an seiner Gicht./ ich wollt’ihn gern vom Tode retten,/ Ich konnte nicht.
Am Eichbaum ist er oft mir mir gesessen/ In stiller Nacht mit mir allein,/ Allard, ich will dich nicht vergessen, /und scharr dich ein.
Wo du mit mir oft sasst, bei unserer Eiche/Der Freundin meiner Schwärmerey/ Mond, scheine sanft auf seine Leiche/ Er war mir treu."

Dass dieser Hund bei Mondenschein begraben wird, ist typisch für Claudius. Er hatte zu dem stillen Begleiter der Nacht ein ganz besonders Verhältnis. Claudius’ berühmtestes Abendlied , „Der Mond ist aufgegangen“, erschien nicht mehr im Wandsbecker Boten. Es entstand 1778 und fand in der Vertonung von Abraham Peter Schulz bald Aufnahme in die Volksliedsammlungen, die Liederbücher für Schulen und in die Gesangbücher der evangelischen Gemeinden. Ich glaube, es gibt niemanden, der es nicht kennt.

Musik: „Der Mond ist aufgegangen“

Die Distanzen sind groß, zwischen dem Internet-Zeitalter und der Wandsbecker Idylle. Zwischen der befreienden Genügsamkeit eines Matthias Claudius und dem Klammergriff der modernen Konsumwelt. Hat der Mann uns überhaupt noch was zu sagen? Diese Frage zu stellen ist legitim.

Und doch, es gibt im menschlichen Leben Situationen, die wir mit allen Vorfahren und allen Nachkommen teilen, nur jeweils in anderen Gewändern. Die Endlichkeit unseres Lebens verbindet uns. Aber auch die beharrlichen Unterschiede von Reich und Arm, von Aufwachsen und Altwerden, von Gesundheit und Krankheit, von Liebe und Verlassenwerden, von Kinderglück und Kinderelend – all das kann keine Technologie ausradieren, allenfalls verschärfen. Und wer sich auf diese existentiellen Bausteine des Lebens konzentriert – dem hat der Lebens-Weise aus Wandsbeck durchaus noch etwas zu sagen, und sei es, dass er Modelle anbietet, die nachdenklich werden lassen.

In der kinderreichen Lehrersfamilie, aus der ich komme, bin ich mit Matthias Claudius sozusagen aufgewachsen. Bestand das Mittagessen mal wieder nur aus Pellkartoffeln mit Quark, bis heute eines meiner Lieblingsessen, zitierten wir gern das Kartoffellied: „Pasteten hin Pasteten her, was nützen uns Pasteten“, um dann ins Loblied auf die Kartoffel einzustimmen:

"Schön rötlich die Kartoffeln sind/ Und weiß wie Alabaster./ Sie däun sich lieblich und geschwind/ Und sind für Mann und Weib und Kind/ ein rechtes Magenpflaster."

Und natürlich war uns auch die Situation nur zu vertraut, die Claudius in Reime fasst. aufgeteilt in die Rede der Mutter und den Chor der Geschwister, das „Lied, zu singen, wenn ein Wechselzahn gezogen werden muss“

"Wir ziehn nun unsern Zahn heraus/ Sonst tut der Schelm uns schaden/Und sey nicht bange kleine Maus! Gleich hängt er hier am Faden.
Der Zahn, der Zahn, der muss heraus, Sonst tut der Schelm nur schaden. (…)"

Eine Alltagssituation durch Liebe und Poesie zum Ereignis zu machen, das war eine Begabung des Familienmenschen Claudius. Er wählte dabei Themen, die Goethe und Schiller nie angefasst hätten. Sie hatten auch keine allzu hohe Meinung von ihm. Ja, man kann sagen: Nichts war weiter von Wandsbeck entfernt als die Weimarer Klassik. Claudius war ein Poet des Alltags: Kein großer Roman adelt ihn, kein Drama – nur scheinbar Beiläufiges, mit leichter Hand hingestreut.

Dennoch wurde Wandsbeck auf seine Art auch zum Pilgerort. Die heitere Atmosphäre im Hause Claudius war berühmt, er war ein Genie der Geselligkeit und muss etwas sehr Gewinnendes in seiner menschenliebenden Zugewandheit gehabt haben. In seiner Frau Rebecca hatte er darin eine ebenbürtige Partnerin. Wenn auch in aller Einfachheit: Ihre Tafel war immer für Gäste gedeckt. Und sie kamen reichlich, und zwar aus allen Schichten: Vom bäuerlichen Nachbarn über die literarische Welt bis hin zum schleswig-holsteinischen Adel, der denn auch von Fall zu Fall als Mäzen einsprang, bis 1785 eine Jahresrente des dänischen Kronprinzen die Familie Claudius von der drückendsten Not erlöste.

Claudius liebste Rolle war die des Hausvaters. Er hat seine Kinder selbst unterrichtet, hat mit ihnen musiziert und gespielt, hat sich gefreut, dass seine Söhne später ansehnliche Positionen errangen, die Töchter sich gut verheirateten.

Aber wäre nicht auf der anderen Seite die lebenskluge und umsichtige Rebecca gestanden, eine Frau mit großer Herzensbildung und hochgeschätzt von allen Freunden: Claudius Lebensentwurf wäre gescheitert. Er wusste das und hat ihr zur Silberhochzeit 1797 ein poetisches Denkmal gesetzt. Hier zwei der bekanntesten Strophen.

"Ich habe Dich geliebet und ich will Dich lieben/ Solang Du goldner Engel bist/ in diesem wüsten Lande hier, und drüben/ Im Lande wo es besser ist.
Ich danke Dir mein Wohl, mein Glück in diesem Leben./ Ich war wohl klug, dass ich Dich fand./ Doch ich fand nicht. Gott hat Dich mir gegeben./ So segnet keine andre Hand."

Segen, das ist ein für Claudius zentraler Begriff. Er sah ihn nicht nur im eigenen Leben wirken, sondern überall. Auch das Lied „Wir pflügen und wir streuen“ ist von Dankbarkeit für Gottes Segen erfüllt.

Musik: "Wir pflügen und wir streuen"

Matthias Claudius hat gleich nach seinem Ausscheiden aus dem „Wandsbecker Boten“ angefangen, seine dort erschienenen Arbeiten als Gesammelte Werke herauszugeben. Gewidmet hat er sie jemandem, den man in diesem Zusammenhang nicht unbedingt erwartet: Freund Hain. Eine beliebte Umschreibung damals für den Tod.. Die erste Illustration zeigt ihn als Gerippe mit der Sense. „Freund Hain“, so schreibt Claudius ausdrücklich, „soll als Schutzheiliger und Hausgott“ vorn an der Hausthüre des Buches stehen.“

Eine Widmung, über die wir Heutigen uns wundern. Aber die früheren Generationen hatten ein anderes Verhältnis zum Tod. Er war in ganz anderer Weise Bestandteil ihres Alltags. Claudius hatte schon als Kind etliche Geschwister sterben sehen, zuletzt den geliebten Bruder, mit dem er ins Studium gezogen war und der an den Pocken starb. Drei seiner Kinder starben in den Armen ihrer Eltern, zuletzt mit 21 Jahren eine blühende Tochter. Der Tod war als stiller Begleiter in jedem Haus präsent und die Not des Sterbens nichts Unbekanntes. Und diese Allgegenwart ließ sich nur ertragen, indem man ihn als düsteren Freund verstand. Freund Hain eben, auf seine Art ein Tor zum Leben. Dass wir endlich sind, macht unser Leben kostbar.

Die Möglichkeiten der modernen Medizin haben unser Verhältnis zum Tod verändert. Sie bekämpft ihn als Feind und diese Vorstellung hat sich bei vielen durchgesetzt. Doch wer den Tod wie Matthias Claudius als Pförtner zum ewigen Leben versteht, blickt anders auf ihn als der, der ihn mit der modernen Medizin zum Feind erklärt.

"Bin Freund und komme nicht, zu strafen/ Sei guten Muts. Ich bin nicht wild/Sollst sanft in meinen Armen schlafen"

Der Tod und das Mädchen. Dabei war Claudius die Furcht und das Zittern vor dem Tod nicht fremd. Er hat es, wie immer, in Worte von kunstvoller Kunstlosigkeit gefasst:

Ach es ist so dunkel in des Todes Kammer,/ Tönt so traurig, wenn er sich bewegt/ Und nun aufhebt seinen schweren Hammer/ Und die Stunde schlägt.

Doch der Tod behielt für Claudius nicht das letzte Wort. Das sprach für ihn Christus. Ein Diesseits ohne Jenseits konnte dieser Mann sich nicht vorstellen. Und ein Sterben ohne diese tröstliche Hoffnung auch nicht. Und wie er davon spricht, das kann auch im 21. Jahrhundert einen Menschen tief ins Herz treffen, gerade weil den meisten von uns dieses kindliche Vertrauen verloren ging.

„Wer nicht an Christus glauben will, der muss sehen wie er ohne in raten kann. Ich und du können das nicht. Wir brauchen jemand, der uns hebe und halte, dieweil wir leben und uns die Hände unter den Kopf lege, wenn wir sterben sollen. Und das kann er überschwänglich, nach dem, was von ihm geschrieben steht. Und wir wissen keinen, von dem wirs lieber hätten.“

Matthias Claudius starb am 21. Januar 1815 im Kreis seiner Familie, so wörtlich, „ruhig freundlich und gottergeben.“ (In einer Haltung zum Leben und zum Sterben, die er selbst so beschrieben hat: )Und wer die vierte Strophe von „Der Mond ist aufgegangen“ mit ein bisschen Aufmerksamkeit singt, den übt der alte Matthias Claudius in diese Haltung ein:

"Gott lass dein Heil uns schauen/ Auf nichts Vergänglichs trauen/ Nicht Eitelkeit uns freu’n./ Lass uns einfältig werden/ Und vor dir hier auf Erden/ Wie Kinder fromm und fröhlich sein."

Musik: 4. Strophe aus „Der Mond ist aufgegangen“

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