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Der Weg in ein neues Leben

Der Weg in ein neues Leben

Dr. Dr. h.c. Volker Jung
Ein Beitrag von Dr. Dr. h.c. Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt

Was tut man, wenn man mit einem Schlag alles verliert, was einem bisher wirklich wichtig war? Vermutlich: Erst einmal vollkommen ratlos da stehen: Zu viel Chaos im Kopf, zu viel Durcheinander im Herzen.

Genau so ergeht es zwei Jüngern von Jesus. Über sie erzählt die Bibel eine Geschichte, die zu Herzen geht. Sie beginnt im Moment tiefster Ratlosigkeit und endet als Ostergeschichte. Der Weg dazwischen ist mühsam. Dennoch macht die Geschichte Mut, diesen Weg zu gehen, denn er führt in ein neues Leben.

Aber Schritt für Schritt. Die Geschichte beginnt in Jerusalem wenige Tage nach dem Tod Jesu. Zwei seiner Jünger stehen beieinander. Der eine heißt Kleopas. Den Namen des anderen erfahren wir aus der Bibel nicht. Die beiden schauen zurück auf eine großartige Zeit, als sie mit Jesus durchs Land gezogen waren. Kleopas erinnert sich:

Kleopas: „Weißt du noch: Wo wir hinkamen, rannten die Leute zusammen.“

Der andere Jünger: „Ja – alle wollten Jesus erleben. Alle haben davon geredet, was er getan hat. Was er gesagt hat. Mächtiges. Wunderbares. Für mich hätte das ewig so weitergehen können.“

Kleopas: „Ja – und wir waren überzeugt: Er ist der Messias und wir sind dabei, wenn alle das begreifen.“

Doch dann war die Katastrophe gekommen. Jesus wurde verhaftet und gefoltert. Was folgte, war der schwärzeste aller Tage: Ihr Messias wurde getötet, gekreuzigt wie ein Verbrecher. Das war vor drei Tagen. Und die Jünger wissen immer noch nicht, was sie tun sollen. Mit dem Tod Jesus ist alles aus und vorbei. So scheint es. Die Gedanken gehen hin und her.

Eine Stimme in ihnen sagt: „Wir sollten abhauen, fliehen, denn sicher werden sie jetzt auch uns jagen, wir sind seine Jünger!“ Eine andere widerspricht: „Nein, wir bleiben! Gerade jetzt müssen wir zusammen halten – zusammen weinen und uns gegenseitig trösten!“ Eine dritte Stimme sagt: „Gehen wir besser nach Hause. Vergessen wir es einfach. Es war ein Traum und jetzt ist er vorbei.“

Das sind drei Wege, die bis heute viele gehen, wenn sie ihrer Enttäuschung und ihrer Trauer entkommen wollen: Manche versuchen zu fliehen. Andere wollen standhalten und die Trauer ausleben. Wieder andere versuchen sie einfach zu ignorieren. Eins ist aber klar: Welchen Weg man auch wählt, überallhin nimmt man sich mit, mitsamt dem ganzen Durcheinander der Gefühle und Gedanken.

So geht es auch den Jüngern in der Geschichte. Dazu hören sie noch Gerüchte: „Jesus ist gar nicht tot. Er wurde lebendig gesehen.“ Das behaupten manche. Aber keiner kann es beweisen. Da sagt Kleopas zu seinem Freund:

Kleopas: „Mir ist das alles zu viel. Lass uns erst einmal raus gehen aus Jerusalem.“

Der andere Jünger: „Du hast Recht. Laufen tut gut. Da kriegen wir Abstand.“

Kleopas: „Vielleicht auch wieder einen klaren Kopf.“

Die beiden gehen los. Vor ihnen liegt ein steiniger Fußweg durch gebirgiges Gelände. Ihr Ziel ist Emmaus – ein Dorf, das gut zwei Stunden von Jerusalem entfernt liegt. Sie ahnen nicht, was auf sie zukommt.

Musik: Ernest Bloch, Suite Hebraique, Satz 2 (Processional)

Was die zwei Jünger, Kleopas und sein Freund erleben, auf dem Weg nach Emmaus, zwei Stunden Fußweg von Jerusalem entfernt – wird im Lukas-Evangelium so erzählt.

Und siehe, zwei von ihnen gingen an demselben Tage in ein Dorf, das war von Jerusalem etwa zwei Wegstunden entfernt; dessen Name ist Emmaus. Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschichten. Und es geschah, als sie so redeten und sich miteinander besprachen, da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen. Aber ihre Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten. Er sprach aber zu ihnen: Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs? Da blieben sie traurig stehen. Und der eine, mit Namen Kleopas, antwortete und sprach zu ihm: Bist du der Einzige unter den Fremden in Jerusalem, der nicht weiß, was in diesen Tagen dort geschehen ist? Und er sprach zu ihnen: Was denn? Sie aber sprachen zu ihm: Das mit Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Taten und Worten vor Gott und allem Volk; wie ihn unsre Hohenpriester und Oberen zur Todesstrafe überantwortet und gekreuzigt haben. Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde. Und über das alles ist heute der dritte Tag, dass dies geschehen ist. Auch haben uns erschreckt einige Frauen aus unserer Mitte, die sind früh bei dem Grab gewesen, haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen, sie haben eine Erscheinung von Engeln gesehen, die sagen, er lebe. Und einige von uns gingen hin zum Grab und fanden’s so, wie die Frauen sagten; aber ihn sahen sie nicht. Und er sprach zu ihnen: O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten geredet haben! Musste nicht Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war. Und sie kamen nahe an das Dorf, wo sie hingingen. Und er stellte sich, als wollte er weitergehen. Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben. Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen. Da wurden ihre Augen geöffnet und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen.

Was für ein aufregender Moment! Wie werden die Jünger darauf reagiert haben? Ich stelle es mir so vor: Zunächst einmal wird es in dem Raum still gewesen sein. Kleopas und sein Freund werden hin und her geschaut haben. Abwechselnd zueinander und zu der Stelle, wo eben noch der Fremde gesessen hatte. Doch der ist und bleibt weg. Auf einmal weg.

Kleopas:„Was war das?“

Der andere Jünger: „Das war – Jesus. Hast du gesehen, wie er das Brot gebrochen hat?“

Kleopas: „Wie vor ein paar Tagen, als wir alle zusammensaßen. Es war wirklich Jesus!“

Der andere Jünger: „Es stimmt also: Jesus lebt. Wir haben ihn selbst gesehen. Das müssen wir unbedingt den anderen sagen. Los, komm`!“

Kleopas: „Aber es ist doch schon Abend. Willst du wirklich jetzt los, den ganzen Weg zurück im Dunkeln?“

Der andere Jünger: „Willst du etwa hier bleiben? Glaubst du etwa, dass wir hier jetzt einfach in Ruhe schlafen können!? Los komm, die anderen müssen es hören, so schnell wie möglich.“

Die Bibel berichtet wenig über diesen Rückweg nach Jerusalem. Aber man kann sich vorstellen, wie das gewesen sein könnte. Die beiden gehen aus dem Haus und bleiben einen Moment stehen. Draußen ist es frisch und dunkel. Über ihnen funkeln die Sterne. Dafür hatten sie vorhin, als sie kamen, bestimmt gar keinen Blick. Aber jetzt sehen sie den Himmel voller Sterne.

Kleopas: „Hier haben wir gestanden und ihn eingeladen. Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt.“

Der andere Jünger: „Ja, wir wollten den Fremden nicht einfach alleine in die Nacht schicken. Gute Gastgeber sein. Aber dann waren wir plötzlich Gäste bei ihm.“

Kleopas: „Wir haben einen Fremden eingeladen. Und gekommen ist Jesus.“

Allmählich gewöhnen sich ihre Augen an die Dunkelheit. Schemenhaft erkennen sie den Weg, der vor ihnen liegt. Nur den Anfang, ein paar Schritte weit können sie sehen. Alles Weitere liegt noch im Dunkel – wie alle Zukunft. Die wird man erst ergründen, wenn man losgeht, Schritt für Schritt. Die beiden tun es. Unterwegs stoßen ihre Füße an so manchen Stein. Doch das kann sie nicht aufhalten. Sie wollen unbedingt zu den anderen nach Jerusalem.

Musik: Hans Werner Henze, Fantasia für Streicher, 2. Satz

Nachdenklich gehen die beiden Jünger ihren Weg. Sie versuchen, die vielen Gedanken zu sortieren.

Kleopas: „Schade, dass Jesus nicht geblieben ist. Kaum haben wir ihn erkannt, ist er auch schon verschwunden.“

Der andere Jünger: „Warum haben wir ihn die ganze Zeit nicht erkannt? Erst im letzten Moment? Das ist doch eigenartig. Ich frag‘ mich, ob das am Ende alles nur Einbildung gewesen ist.“

Kleopas: „Nein, er war wirklich da. Den ganzen Weg sind wir mit ihm gegangen. Wir haben mit ihm gegessen.“

Der andere Jünger „Aber wir haben ihn nicht erkannt. Warum? Wir haben doch gewusst, wie Jesus aussieht und wie er spricht. Wir hätten ihn erkennen müssen. Warum haben wir das nicht?“

Er erhält keine Antwort. Wie sollten sie auch jetzt schon verstehen, dass Jesus nicht mehr derselbe ist wie vorher. Er ist eben nicht mehr der Jesus, der er für seine Jünger zu Lebzeiten einmal war. Er ist es. Er lebt. Aber anders, anders als vorher. Die Jünger erkennen ihn erst, als er das Brot bricht wie beim Abendmahl. In diesem Moment spüren sie: er ist bei uns, er ist mitten unter uns. Aber nicht so, dass sie ihn festhalten können. Dieses Geheimnis seiner Gegenwart feiern Christen bis heute, wenn sie Abendmahl feiern.

Die beiden Jünger auf dem Rückweg von Emmaus spüren, dass sie etwas Besonderes erlebt haben. Aber sie können es nicht beschreiben und erklären. Sie gehen ihren Weg weiter, sie schweigen. Zu hören sind nur die Geräusche der Nacht. Ab und zu klackert ein Steinchen über den Boden, wenn ein Fuß es angestoßen und ins Rollen gebracht hat.

Musik: Josef G. Rheinberger, Abendlied „Bleib bei uns, denn es will Abend werden“

Die beiden Jünger gehen durch die Nacht. Sie kennen den Weg. Und doch ist er jetzt ganz anders. Nicht nur, weil er jetzt im Dunkeln liegt und bei Nacht alles anders aussieht. Sondern, weil ihr Herz jetzt voller Staunen ist. Und voller Erinnerung. Jeden Meter hier sind sie mit ihm gegangen. Bei jedem Schritt haben sie etwas von ihm erfahren. Als sie an einem markanten Baum vorbei kommen, erinnert sich Kleopas:

Kleopas: „Hier sind wir vorhin eine Weile stehen geblieben. Als uns der Fremde alles erklärt hat.“

Der andere Jünger: „Genauer gesagt, als er uns beschimpft hat, wir seien Toren, zu träge im Herzen, um zu begreifen, was passiert ist. Da dachte ich: Was bildet der sich ein, der Fremde!“

Kleopas: „Jetzt wissen wir, warum er so geredet hat. Er war kein Fremder.“

Der andere Jünger: „Aber auch nicht der Messias. Jedenfalls nicht so, wie wir gehofft haben.“

Kleopas: „Das hat er ja versucht zu erklären. Aber so richtig verstanden habe ich das nicht. Verstanden habe ich: Er ist nicht der mächtige König, der alles anders macht. Mächtig und voll Glanz. Er hat gesagt, der Messias ist so, wie es der Prophet Jesaja beschrieben hat. Da stand doch: Er ist der, das Elend anderer auf seine Schultern nimmt. Der Schmerzensmann, der unter der Gewalt der Welt leidet und daran stirbt.“

Der andere Jünger: „Aber wir haben ja gerade erlebt: Das war nicht alles. Jesus lebt.“

Die beiden Jünger sind dem zentralen Geheimnis von Tod und Auferstehung von Jesus Christus auf der Spur. Die Menschen, die mit ihm damals unterwegs waren, fangen erst nach und nach an zu verstehen, wer Jesus war. Genauso alle, die danach kamen und kommen. Auch sie verstehen das erst nach und nach: Die Welt wird durch ihn nicht auf einen Schlag umgekrempelt. Denn Jesus ist kein machtvoller Held, kein weiser, neuer König, kein zauberkundiger Magier. Er ist hat auf sich genommen, was so viele bedrängt und niederdrückt: Gewalt und Schmerzen und den Tod. Er hat es auf sich genommen und durchbrochen. Mit seinem Tod und mit seiner Auferstehung ist die Botschaft verbunden: Gottes Kraft ist stärker als der Tod. Nach dem Tod kommt neues, verwandeltes Leben.

Niemand weiß, wie viel die Jünger damals von dem verstanden, was ihnen Jesus unterwegs erklärt hat. Sie waren zunächst einmal damit beschäftigt, bei Nacht den steinigen Weg nach Jerusalem zu bewältigen. Dabei kommen die beiden schließlich an die Stelle, wo sie auf dem Hinweg dem Fremden begegnet sind. Unwillkürlich bleiben beide stehen. Sie schauen sich um, als suchten sie ihn. Als wäre dies ein abgesprochener Treffpunkt. Doch das ist er nicht. Wieder beginnt Kleopas das Gespräch.

Kleopas: „Er kommt nicht. Warum ist er überhaupt wieder gegangen? Warum ist er in Emmaus nicht bei uns geblieben? Warum geht er jetzt nicht mit uns zurück und zeigt sich auch den anderen?“

Der andere Jünger: „Ja, aber das wäre gut. Alles war doch gut. Warum kann es nicht wieder so sein wie vorher?“

Musik: Kay Johannsen, „Christus, der uns selig macht“

Die beiden Jünger stehen dort, wo sich der Fremde zu ihnen gesellt hatte. Ich denke mir, dass sie in dem Moment noch nicht begriffen haben, warum nicht alles beim Alten hat bleiben können. Dann wären sie wieder die Jünger gewesen, die hinterherlaufen. Und Jesus der Meister, der Lehrer, der Prophet, der vorne weg geht.

Ich stelle mir vor, sie haben erst später verstanden: Es gibt kein Zurück. Es gibt nur ein Nachvorne. Das Leben, das hinter ihnen liegt, wäre zu wenig, es wäre ein Leben ohne den Auferstandenen.

Nun zögern die Jünger weiterzugehen. Denn nun liegt vor ihnen der dunkelste Teil der Stecke. Sie erinnern sich noch gut daran. Als sie auf diesem Weg herkamen, waren sie noch alleine gewesen. Alleine mit dem Bild vom gekreuzigten Jesus. Alleine mit ihrem Schrecken und ihrer Angst. Doch nun würden sie diesen Weg nicht mehr alleine gehen. Zwar ist er immer noch voller Steine und Staub. Immer noch geht er mühsam über Höhen und Tiefen. Und das wird so sein bis zum Ende ihrer Tage. Nun aber tragen die beiden Wanderer mit sich die Erinnerung an den Fremden, der ihnen als geschätzter Wegbegleiter ans Herz gewachsen war. Und in dem sie zuletzt Jesus, den Auferstandenen erkannt hatten. Während sie nun ihren Weg gemeinsam weiter gehen, kommt es ihnen so vor, als hörten sie seine Schritte, immer in ihrer Nähe.

So kommen die beiden Jerusalem allmählich näher. Schon sind die Mauern der Stadt schemenhaft zu erkennen. Sie fragen sich, ob die anderen ihnen glauben werden.

Verlassen wir an dieser Stelle die Jünger. Zumindest unsere Phantasie, wie der Rückweg verlaufen sein könnte. Hören wir, wie die Bibel selbst darüber in knappen Worten berichtet:

Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete? Und sie standen auf zu derselben Stunde, kehrten zurück nach Jerusalem und fanden die Elf versammelt und die bei ihnen waren; die sprachen: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und Simon erschienen. Und sie erzählten ihnen, was auf dem Wege geschehen war und wie er von ihnen erkannt wurde, als er das Brot brach.

Offensichtlich haben die Jünger in der Geschichte eine Ahnung davon bekommen, dass Jesus weit mehr ist als ein Lehrer oder Prophet. Sie beginnen zu ahnen, dass sein Tod eben nicht bedeutet, dass er gescheitert ist. Sein Tod ist ein Sieg – so verrückt das klingt. Gekreuzigt, gestorben und dann wahrhaftig auferstanden. Wie dies sein kann, war damals ein Geheimnis und es ist es bis heute. Es entzieht sich immer wieder dem Verstand, aber es kann Herzen erfüllen mit der Kraft des Glaubens. Es weckt Hoffnung auf Leben über den Tod hinaus. Und es gibt Kraft für dieses Leben – Kraft, auch die dunklen und schwierigen Wege zu gehen, und sich an den schönen Wegstrecken zu freuen. Die beiden Jünger in unserer Geschichte haben erfahren, was nach Ostern gilt: Welchen Weg ihr auch geht, der Auferstandene ist an eurer Seite.

Musik: „Christ ist erstanden“

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