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Zweimal hinsehen, um zu verstehen
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Zweimal hinsehen, um zu verstehen

Dr. Ulf Häbel
Ein Beitrag von Dr. Ulf Häbel, Evangelischer Pfarrer, Laubach-Freienseen

Es gibt Dinge im Leben, da muss man zweimal hinsehen, um sie zu verstehen; die erschließen sich nicht auf den ersten Blick. Das hat mir mein kleiner Patensohn wieder deutlich gemacht. Er wohnt zwei Häuser weiter, und er fährt sehr gern mit dem Traktor mit. Wenn ich bei der kleinen Landwirtschaft, die ich betreibe, den Stallmist auf den Acker fahre oder Futter zu den Schafen auf die Weide bringe, dann will er mitfahren. Sobald mein Traktor anspringt und er hört es, kommt er angerannt.

Nun ist ein anderer kleiner Junge in unsere Nachbarschaft gezogen; er wohnt genau zwischen meinem Patenkind und mir. Der will bestimmt auch mitfahren, habe ich gedacht. Alle kleinen Jungen fahren gerne Traktor. Und die beiden – sie sind ungefähr gleich alt – könnten nebeneinander auf dem Traktorsitz Platz haben. Doch der andere Junge wollte gar nicht; er guckte auch irgendwie komisch. Warum will der nicht mitfahren, habe ich mich gefragt.

Vielleicht sollte ich ein Kissen auf den Blechsitz legen, dann sitzen sie weich und warm. Noch besser wäre freilich ein Traktor mit Kabine. Darin ist man gegen Wind und Regen geschützt. Vielleicht müsste die Mutter des Nachbarjungen erst einmal mitfahren, und dann er alleine.

In meine Gedanken, welcher Aktionsplan wohl der richtige sei, mischte sich mein Patensohn ein: „Der fährt nicht mit“, sagte er zu mir. „Der hat Angst; hast du nicht seine Augen gesehen?“ Doch, ich hatte seinen scheuen Blick registriert. Der war mir aufgefallen. Aber offensichtlich hatte ich ihn damit noch nicht verstanden. Mein Blick war zu vordergründig, zu oberflächlich.

Manchmal muss man öfter und genauer hinschauen, um einen Menschen zu verstehen, um zu erspüren, wie es ihm geht oder woher seine Angst kommt. Das hat mir mein Patensohn klar gemacht. Und das gilt nicht nur für einen kleinen Jungen, der Angst vor dem großen Traktor hat. Das gilt auch sonst im Leben. Achtsam zu sein, statt nur zu registrieren, sich einzufühlen, statt nur etwas zur Kenntnis zu nehmen: Das tut gut.

Achtsam sein, nicht nur registrieren. Sich einfühlen. Ich versuche das mal beim Thema „Altern“, oder wie man es in der Diskussion nennt: Beim demographischen Wandel. Wir registrieren, dass es immer mehr alte Menschen unter uns gibt. Jeder vierte Deutsche ist alt. In unseren Nachbarländern ist es nicht viel anders. Immerhin wird bei dem Thema genau gerechnet. Fast jede Kommune hat einen Demographie-Beauftragten. Der kann genau vorrechnen, in wie vielen Jahren wie viel Prozent mehr alte Menschen es hier geben wird, wie die Bevölkerung abnimmt, oder wann ein Dorf – statistisch betrachtet – ausgestorben ist.

Da ist alles registriert, genau gezählt und prognostiziert. Aktionspläne, was da zu tun sei, sind oft schnell gemacht: Wenn es immer mehr Alte gibt, dann muss man eben immer mehr Altersheime und Seniorenresidenzen bauen. Oder das vielfältige Angebot für die reichen und rüstigen Rentner – seniorengerechte Kreuzfahrten, altersgerechte Mode, kostspielige Ernährungsprogramme und Wellnesseinrichtungen. Auf den ersten Blick ist das alles ganz einsichtig. Aber es ist eben nur eine Sicht auf das Alter. Da wird registriert und gezählt, statistisch erfasst. Aus den Daten lassen sich Prognosen, Kostenberechnungen oder Aktionspläne machen. Das ist die statistische und ökonomische Sicht. Doch damit ist noch kein Verständnis für die alten Menschen verbunden. Ich habe damit noch nicht verstanden, was das Altwerden oder Altsein bedeutet. Da muss man noch ein zweites Mal hinsehen, hinspüren, sich einfühlen.

Verständnis für Menschen beginnt mit der Empfindsamkeit für sie – mit Einfühlungsvermögen und Gespür. Einen Menschen zu verstehen ist mehr, als ihn zu registrieren. Jemanden wirklich wahrzunehmen ist mehr, als nur zu sehen, was er gerade macht. Selbst an der Kasse eines Supermarktes kann man das erleben.

Ich stand an der Kasse – vor mir eine Kundin, hinter mir andere. Die Waren, die ich kaufen wollte, hatte ich schon alle auf das Laufband gelegt. Und dann ging alles ganz schnell. Mit aberwitziger Geschwindigkeit tippte die Kassiererin Preise ein oder schob Waren über eine Glasplatte, bis es piepste. Wenn da mal ein Fehler passiert, dachte ich. Doch zum Nachdenken war jetzt keine Zeit. Es musste schnell weitergehen. Schließlich standen noch andere Leute da, die auch abgefertigt werden wollten. Eiligst sammelte ich die registrierten und bezahlten Sachen aus der Kassentheke zusammen. Da musste Platz für den nächsten Kunden sein. Doch dann passierte das Missgeschick. Der Kundin nach mir – es war eine alte Frau – war auf dem Laufband ein Becher Buttermilch umgekippt und dabei oben aufgeplatzt. Die Dinger gehen leicht kaputt; mir ist das auch schon mal passiert. Und nun war da eine Pfütze Buttermilch auf dem Laufband. Der alten Frau war das peinlich. Sie entschuldigte sich mehrfach. Die freundliche Kassiererin beruhigte die alte Frau; sie solle sich einen anderen Becher holen, ohne Leck. Doch das wollte die alte Frau nicht. Das Missgeschick sei ihr passiert und außerdem würde sie den ganzen Laden aufhalten. Sie würde die Buttermilch so mitnehmen, auch wenn ein Teil davon fehlt. Die Kassiererin packte den Becher in eine wasserdichte Plastiktüte und gab ihn der alten Frau. Und ich wischte mit meinem Taschentuch die Buttermilchpfütze vom Laufband. Zum Glück hatte ich ein großes und frisches dabei.

Ein paar Meter hinter der Kasse kamen die alte Frau und ich ins Gespräch. „Es ist mir sehr peinlich“, hat sie noch einmal gesagt. Sie hat schon immer befürchtet, dass ihr mal so etwas passiert. „Es muss immer alles so schnell gehen“, sagte sie, „und ich bin einfach nicht mehr so schnell.“ Wenn es einen anderen Laden gäbe, so einen wie früher, wo man bedient wird, dann würde sie lieber dort einkaufen. Aber wahrscheinlich würde dort alles mehr kosten, und sie müsste ihr Geld schon zusammenhalten.

Allmählich wurde mir klar, wieviel Mühe es alten, langsam gewordenen und vielleicht auch armen Menschen macht, in Supermärkten einzukaufen. Die sind auch nicht altersgerecht gemacht. Tempo ist angesagt, besonders an der Kasse. Da ist man als alter langsamer Mensch eher störend – mit oder ohne Buttermilchpanne. Vielleicht sollte es eine Kasse geben für junge, schnelle und eilige Leute und eine für alte Menschen, die es nicht so eilig haben.

In dem Dorf, in dem ich im Vogelsberg lebe, versuchen wir genauer hinzusehen: Was brauchen alte, was brauchen junge Leute? Wir bauen zwei Fachwerkhäuser aus. Die Gebäude mitten im Dorf standen jahrelang leer. Nun sollen daraus „Häuser der Begegnung“ werden. Alte Menschen sollen sich dort treffen, zusammen kochen, essen und schwätzen. Auch einen Dorfladen soll es geben. Darin wird man auch bedient, wenn man das will. Die Häuser nennen wir Dorfschmiede. Denn darin hat früher ein Schmied gearbeitet. Außerdem soll der Name ausdrücken, dass wir das Dorf neu schmieden und gestalten wollen, so dass es ein liebenswerter Lebensraum wird – besonders für die Alten.

In einem Vortrag über den demographischen Wandel habe ich gehört, dass man das Wort „alt“ oft so buchstabiert: A steht für arm; Altersarmut gibt es ja. L heißt langsam, lahm, gelähmt. Und T steht für teuer, denn es ist ja teuer wenn man Pflege braucht. Wir haben beschlossen das Wort „alt“ anders zu buchstabieren: es heißt eben nicht arm, lahm, teuer, sondern: Am Leben teilhaben – bis zum Schluss.

Manchmal muss man zweimal hinsehen, um etwas zu verstehen. Verstehen beginnt mit Einfühlungsvermögen. Wenn ich einen anderen Menschen wirklich verstehen will, dann muss ich mehrfach hinsehen, einfühlsam sein und achtsam mit ihm umgehen.

In einer Geschichte in der Bibel kommt so etwas vor. Sie steht im Neuen Testament – im Lukasevangelium, Kapitel achtzehn. Da kann man sie nachlesen. Jesus und seine Freunde, Jünger genannt, kommen nach Jericho. Das ist eine kleine Stadt am Rande der palästinensischen Wüste. Eine Menge Menschen sind da unterwegs – offensichtlich neugierig auf diesen Jesus, von dem man sich Wundergeschichten und Krankenheilungen erzählt. Am Straßenrand sitzt ein Blinder; der bettelt, weil er für sich selber nicht aufkommen kann. Als er irgendwie rausgekriegt hat, wer da vorbeikommt, schreit er laut: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Und die anderen fahren ihn an: „Sei still; es ist doch peinlich wie du rumschreist.“ Doch der Blinde gibt nicht auf und ruft noch lauter: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“

Und Jesus bleibt stehen, lässt den Bettler zu sich kommen. Dann sagt er zu ihm: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ Und der Blinde antwortet: „Dass ich sehend werde.“ Und Jesus sagt: „Sei sehend. Dein Glaube hat dir geholfen.“

Eine merkwürdige Geschichte, finde ich. Da sitzt der blinde Bettler am Straßenrand. Auf den ersten Blick ist doch klar, was mit ihm los ist. Bettelarm und blind noch dazu. Das sieht doch jeder: Da muss geholfen werden: Augenoperation oder Einweisung in eine kompetente Heilanstalt. Doch Jesus stellt die merkwürdige Frage: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“

Doch genau durch diese Frage spürt der blinde Bettler, dass sich Jesus ihm zuwendet, dass der spürt, wie es ihm geht. Wer hatte jemals so nach ihm gefragt: Sag mir, was ich für dich tun soll. Er merkt auf einmal: Der andere, Jesus, geht nicht einfach an mir vorüber. Er verharrt, er fragt nach mir. Jesus interessiert es, wer ich bin und wie es mir wirklich geht. Er scheint mich zu verstehen. Und Verständnis fängt mit Einfühlungsvermögen an.

Sag mir, was ich für dich tun kann. Ich glaube, dass diese Frage heilsam ist, wenn sie ehrlich gemeint ist. Es gibt Dinge im Leben, da muss man öfter hinsehen, um sie zu verstehen. Wenn es ums Verstehen von Menschen geht, dann ist so ein erster Blick, der nur registriert was los ist, zu vordergründig, zu oberflächlich. Und dann passen auch alle möglichen Prognosen und Ratschläge nicht.

Das war so bei mir und dem Nachbarsjungen, den ich zum Traktorfahren bringen wollte und nicht sah, dass er Angst hatte. Das ist oft so in den Diskussionen, was man tun soll, wenn es immer mehr alte Menschen gibt. Ohne zu fragen, wie es ihnen geht. Die Frage von Jesus aus jener Geschichte in der Bibel ist hilfreich: Sag mir, was ich für dich tun kann. Das heißt doch: Stehenbleiben und zweimal hinsehen, aufmerksam zuhören, um zu verstehen, achtsam miteinander umzugehen, statt nur zu registrieren, was ist. Sogar bei einem Menschen, den man liebt, kann man völlig daneben liegen, und es braucht eine Weile, bis man ihn versteht.

Da sitzt ein Neunjähriger in der Küche auf dem Schemel und schaut der Mutter bei ihrer Arbeit zu. Die Mutter wirft einen Blick auf ihn und denkt was die schon oft gedacht hat: Für sein Alter ist er ein bisschen schmächtig und klein. Der müsste wachsen; wer weiß was sonst aus ihm wird. Sie gibt ihm einen Ratschlag: Junge, iss ordentlich, damit du groß und stark wirst. Und sie macht ihm ein leckeres Wurstbrot, bei dessen Anblick der Junge die Maulsperre kriegt.

Die Mutter meint es gut. Sie startet einen neuen Versuch, ihm zu helfen: „Junge, wenn du körperlich nicht groß und stark wirst, dann streng dich an der Schule an und hör auf deine Lehrer.“ Und dem Jungen fällt die Englischlehrerin ein, die ihn ständig fertigmacht, weil er zu faul oder zu doof ist, Vokabeln zu lernen.

Der Junge sieht seine Mutter an. Erst bockig, dann traurig, den Tränen nah. Da dämmert es ihr. Sie legt die Sachen aus der Hand, kommt um den Tisch und nimmt ihn in den Arm. Sie sagt nichts, streicht ihm nur übers Haar. Nach einem Augenblick, in dem sie nur nebeneinander gesessen haben, sagt sie: „Weißt du was, du kannst mir mal die Kiste mit den Einkaufsachen von unten aus dem Auto holen. Ich habe Rückenschmerzen, die Kiste ist mir einfach zu schwer. Und nachher fahren wir zusammen in die Stadt, wenn du Lust hast, und kaufen dir einen neuen Ball. Der alte ist doch seit Tagen verschwunden. Da sollst du einen neuen haben. Da schnappt der Junge das Brot, beißt einmal rein, da wo die Wurst am dicksten ist, legt es wieder auf den Tisch und springt kauend los, um die Kiste zu holen. Die Mutter schaut ihm nach und denkt: Sieh mal an. So schwach ist er gar nicht. Der braucht keine extra Stullen. Der braucht, dass ich ihm etwas zutraue. Wenn der das Gefühl hat, dass ich ihn verstehe, dann wird er wachsen.

So war es auch in der Geschichte vom blinden Bettler. Jesus hat gemerkt, was der Mann brauchte. Er hat ihm zugetraut, selbst zu sagen, was er nötig hat: Nicht da sitzen und um Almosen betteln, sondern sehen können, richtig sehen können. So ist das: Wenn sich Menschen verstehen wollen, fängt das damit an: Zweimal hinsehen, genau zuhören, einfühlsam sein. Eben zu fragen: Wer bist Du; wie geht es dir; was brauchst du; was willst du, dass ich für dich tue.

Dieser registrierende, oberflächliche Blick: Mehr Alte heißt mehr Altersheime, weniger Kinder heißt weniger Schulen, mehr Autos heißt größere Autobahnen. Das ist zu einfach. Es stimmt doch: Manchmal musst du zweimal hinschauen.

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