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Paulus in Korinth

Paulus in Korinth

Dr. Joachim Schmidt
Ein Beitrag von Dr. Joachim Schmidt, Evangelischer Pfarrer, Darmstadt

Manchmal scheint es, als seien die alten Fragen ausgefragt und die alten Antworten zu Ende gesagt. Manchmal heißt es, dass heute alles anders sei als früher. Wir stünden vor ganz neuen Herausforderungen, sagt man, und die alten Bilder und Worte hätten keine Kraft mehr.

Ich glaube das nicht. Die alten menschlichen Erfahrungen und Schicksale, die Enttäuschungen und die Träume, die Suche nach Gott und die tiefen Lebenszweifel begleiten jeden Menschen auch heute, und es wird sie geben, solange es Menschen gibt. Das gilt zum Beispiel auch für die unauflösliche Spannung zwischen Freiheit und Sicherheit.

Deshalb möchte ich Sie heute Morgen zu einer Gedanken-Reise weit zurück in die Zeit einladen, ins Griechenland um das Jahr 50 nach Christus. Fliegen wir also nach Athen. Vom Flughafen zuckeln wir mit der S-Bahn knapp eineinhalb Stunden entlang der Autobahn nach Westen.

Am schlichten Bahnhof von Kórinthos steigen wir aus. Die kleine Hafenstadt liegt am Golf von Korinth, direkt am Ausgang jenes berühmten Kanals durch die Landenge zwischen der Halbinsel Peloponnes und dem griechischen Festland. Seine frühere Bedeutung hat der Kanal längst verloren. Fast nur noch Touristenboote tuckern ab und zu hindurch.

Auch sonst erinnert im modernen Korinth so gut wie nichts an die große Vergangenheit. Wir nehmen ein Taxi und lassen uns wenige Kilometer bergan fahren, zum Fuß des hoch aufragenden Felsmassivs Akrokorinth und zweitausend Jahre zurück in die Geschichte.

Musik: Gaspar Ganz + Fahimi Alqhai, Canarios

Viel ist heute auf dem Ausgrabungsgelände des historischen Korinth nicht mehr zu sehen von der eindrucksvollen Provinzhauptstadt römischer Zeit. Aber wer ein geschultes Auge für die Reste imperialer Prachtentfaltung hat, der wird sich schnell orientieren. Jahrtausendelang blühte Korinth wegen seiner Lage durch Handel, wurde wegen seines Reichtums aber auch immer wieder erobert, zerstört und wieder aufgebaut.

Zur Zeit des Paulus ist Korinth eine durch und durch römische Stadt, nach totaler Zerstörung neu begründet von dem berühmten Gaius Julius Cäsar um 50 vor Christus, eine pulsierende, moderne, laute, multikulturelle und multireligiöse Metropole. Zu italienischen Siedlern kommen Geschäftemacher aus allen Himmelsrichtungen: Makedonier und Afrikaner, Juden und Syrer, Ägypter und viele Völker aus Kleinasien. Unendlicher Reichtum und schreiende Armut liegen dicht nebeneinander. In den Kaschemmen, Bordellen und Liebestempeln der Aphrodite gibt es so gewaltige Orgien, dass der Name Korinth im restlichen Griechenland sprichwörtlich für Sittenlosigkeit steht.

Auf den Trümmern der alten griechischen Agora, dem Marktplatz im Mittelpunkt der Stadt haben die Römer ihr Forum errichtet und es mit Säulenhallen, Ladenstraßen, Markthallen und kleineren Tempeln für jeden Kult und jeden Geschmack umgeben.

Dort hat man in den letzten hundert Jahren zahllose lateinische Inschriften gefunden. Eine davon lautet auf Deutsch: „Errichtet auf Kosten des Erastus, als er Stadtkämmerer war.“ Hohe Persönlichkeiten pflegten damals als öffentliche Wohltäter aus eigener Tasche die eine oder andere städtische Einrichtung zu finanzieren.

Dieser Erastus ist kein Unbekannter. Er war offensichtlich auch ein hoch geachtetes Mitglied der Christengemeinde in Korinth. Am Schluss des Römerbriefs, den Paulus um das Jahr 55 in Korinth geschrieben hat, lässt er Grüße an die Mitchristen in Rom ausrichten:

Paulus: Es grüßt euch Erastus, der Stadtkämmerer.

Vom Forum führt eine prächtige, mit Marmor gepflasterte und durch Mauern geschützte Straße drei Kilometer weit zum nördlichen Hafen. Nur die ersten 100 Meter davon sind heute ausgegraben. Eine winzige Seitengasse führt uns zu unserem Ziel, wir tauchen ein in die Geschichte.

(Klopfen an einer Holztür)

Priszilla: (akustisch hinter der Tür) Wer ist da?

Autor: Ich komme von ziemlich weit her und suche den Paulus aus Tarsus.

Priszilla: Wer schickt Euch?

Autor: Niemand. Ich habe viel von ihm gehört und würde ihn gerne kennen lernen.

Priszilla: Kein Auftrag für ein neues Sonnensegel? Wir ersticken hier gerade in Arbeit.

Autor: Gewiss nicht. Ich muss auch bald weiter.

(Tür wird knarrend geöffnet)

Prizilla: Dann kommt herein. Wartet hier unten in der Werkstatt. Er ist noch oben beim Essen.

Musik: Gaspar Sanz + Fahimi Alqhai, La Gitare

Um das Jahr 51 oder 52 nach Christi Geburt kommt Paulus nach Korinth. Davor war er in Athen, wo er mit wenig Erfolg versuchte, den skeptischen Großstädtern die Botschaft von Jesus Christus nahe zu bringen. Schon von Weitem sieht er das Felsmassiv Akrokorinth, die korinthische Akropolis, die uralte Tempelstadt über der Stadt, weitaus imposanter als in Athen. Wie lange er in Korinth bleiben will, weiß er noch nicht. Es werden dann schließlich eineinhalb Jahre.

Wie immer sucht er zuerst Kontakt zur jüdischen Gemeinde. Die hat vor kurzem gezwungenermaßen Zuwachs bekommen. Kaiser Claudius hat, wie es beim römischen Geschichtsschreiber Sueton heißt, wegen der Streitigkeiten um einen gewissen „Chrestos“ alle Juden aus Rom ausgewiesen. Wir vermuten heute, dass damit natürlich die ersten Christen in Rom gemeint waren. Damals ist mit anderen auch ein jüdisches Zeltmacher-Ehepaar auf diese Weise nach Korinth gekommen. Aquila und Priscilla. Der gelernte Zeltmacher Paulus findet bei ihnen Arbeit und Unterkunft, mehr noch: Herzliche Freundschaft und Zusammenarbeit in der Mission über viele Jahre.

Aber Sie erinnern sich: Wir, Sie und ich, sitzen immer noch auf einem unbequemen Hocker in der Zeltmacher-Werkstadt in einer Seitenstraße von Korinth. Aus dem ersten Stock duftet es traumhaft nach einer kräftig gewürzten Fleischsuppe. Ohne es zu wollen, werden wir durch die dünne Holzdecke Zeugen eines Gesprächs zwischen Priscilla, die uns herein gelassen hat und einem Mann. Das muss wohl Paulus sein.

Paulus: Wo ist Dein Mann Aquila?

Priscilla: Kundschaft in Kenchräa. Er wird bald wieder da sein.

Paulus: Die Suppe ist wunderbar. Woher hast du das viele Fleisch?

Priscilla: Ich war heute Morgen beim Kaisertempel. Syrische Kaufleute haben gestern jede Menge Rinder als Opfer gebracht. Dank für gute Geschäfte.

Paulus: Opferfleisch?

Priscilla: Ja. Ich habe auch ein richtig schlechtes Gewissen. Aber die Theke war voll, und das Fleisch war billig.

Paulus: Und es schmeckt vorzüglich. Besonders bei dir, mit viel frischem Majoran und Thymian. Und Mulsum. (genießerisch) Man glaubt gar nicht, dass diese herrliche Würzsoße aus stinkendem Fisch gewonnen wird. Aber du weißt, was viele in unserer Gemeinde sagen würden?

Piscilla: Dass es eine Sünde ist, dieses Fleisch zu essen. Weil es aus dem Tempel des Kaisers stammt.

Paulus: So ist es. Sie würden sich heftig beschweren. Ich selbst sehe das aber ganz anders und sage dir: Mach‘ dir keine Gedanken. Es ist einfach Fleisch. Nicht der Kaiser persönlich.

Für uns Menschen im 21. Jahrhundert mag es eigenartig klingen, aber bei den ersten Christen ging es in Sachen Fleisch aus den heidnischen Tempeln um eine elementare Glaubensfrage. Und beim Tempel des Kaisers war die Sache sogar hochpolitisch und im Zweifel lebensgefährlich. Denn nur unter einer Voraussetzung waren die Römer tolerant gegenüber den vielen Religionen in ihrem Weltreich: Die göttliche Autorität des Kaisers in Rom musste anerkannt werden – was man durch Opfer in seinem Tempel unter Beweis zu stellen hatte. Das natürlich war für die Christen unmöglich, die doch allein Gott, den Vater Jesu Christi, anbeteten. Genau das war dann auch der Grund für die ersten, blutigen Christenverfolgungen.

Doch die Dinge lagen noch komplizierter: Denn oft gab es so viele Opfertiere in den kaiserlichen Tempeln, dass man dort der Mengen kaum Herr wurde und das Fleisch umgehend zum Aufbessern der Tempelkassen verkaufte. Nicht selten gab es auch eigene, preiswerte Tempel-Garküchen, mit denen sich das Tempel-Personal ein nettes Zubrot verdiente. Und damit sind wir mitten in der Konfliktlage der Gemeinde von Korinth: Viele Christen fragten sich: Ist es nicht Verrat am christlichen Glauben, von diesem kaiserlichen Opferfleisch auch nur zu kosten?

Musik: John Cage, aus Six Melodies (Nr. 3), Lee Santana (Laute) und Hille Perl (Gambe)

Priscilla: (etwas ängstlich) Sie sagen, dieses Fleisch zu essen, sei Gotteslästerung!

Paulus: Langsam! Wir beten es ja nicht an. Es ist doch nicht gotteslästerlich geworden dadurch, dass es auf dem Verkaufsstand des Kaisertempels lag.

Priscilla: Doch, oder?

Paulus: Nein, Priscilla! Nichts ist mehr unrein, oder gotteslästerlich oder was-weiß-ich, wenn wir Christen sind.

Priscilla: Warum denn?

Paulus: Weil es für uns nur einen Gott gibt, und weil überhaupt nur Christus zählt. Alles, die ganze Welt, auch alle Menschen, sind doch nur durch ihn! Da gibt es zwar die vielen Tempel um uns herum, aber sie sind doch in Wahrheit leer. Diese Götter sind eine Einbildung der Heiden.

Priscilla: Aber der Tempel des Kaisers …

Paulus: (lacht ein wenig) Der Kaiser ist der Kaiser, aber doch kein Gott. Er sichert unsere öffentliche Ordnung. Wir geben ihm natürlich auch unsere Steuern wie alle anderen auch. Das hat schon Jesus gesagt. Aber wir beten ihn nicht an. Und sein Opferfleisch schon gar nicht. Verstehst du? Wir sind ganz und gar frei.

Schon erstaunlich: Vollkommen gelassen geht Paulus mit jener Frage um, die anderen frommen Christen in Korinth schlaflose Nächte bereitet. Er hat erfahren, dass der Glaube an Jesus Christus frei machen kann, auch frei von frommen Ängsten. Je größer und weiter der Glaube ist, desto größer und weiter kann das Herz sein. Aber je enger der Glaube, desto enger auch das Herz.

Damit aber sind wir mitten in einer brennenden, aktuellen Diskussion: Wie kann der christliche Glaube Fundamentalisten und Extremisten begegnen? Zumal dann, wenn diese behaupten, aus religiösen Gründen zu handeln? Was kann er im tiefsten Grunde religiös motivierten Fanatikern entgegen setzen? Die Antwort des Paulus ist einfach und schwer zugleich: Die Stärke der Christen ist ihr Zeugnis von der großen Befreiung in der Liebe Jesu Christi.

Musik: Tschuri (Weltmusik aus Georgien)

Der Geist der heftigen, aber scheinbar fernen Debatte der Christen im alten Korinth ist auf einmal ganz nah. Es geht um innere Freiheit und um innere Sicherheit. Ein weites Herz ist nicht Jedermanns Sache. Deshalb ist die innere Freiheit der Christen immer gefährdet. Ängstliche verstehen Freiheit gerne als fehlende Eindeutigkeit und Toleranz als Gefährdung der eigenen Sicherheit.

Aber folgen Sie mir bitte noch einmal nach Korinth, 2000 Jahre zurück, in die Zeltmacher-Werkstatt in einer Seitenstraße von Korinth. Essen und Gespräch im oberen Stock sind beendet. Paulus klettert etwas mühsam den gekerbten Balken hinunter, der eine Treppe ersetzen muss.

Paulus: Friede sei mit dir! Verzeih, dass ich dich warten ließ. Ich höre, du hast einen weiten Weg hinter dir. Sag mir, wer du bist und was ich für dich tun kann.

Autor: Ich komme tatsächlich von viel weiter her, als du dir vorstellen kannst. Ich komme aus einer sehr fernen Zukunft. Du musst wissen: Auch in zweitausend Jahren wird es Christen geben. Sehr viele sogar. Und auf dem ganzen Erdkreis.

Paulus: Ach ja? Und warum kommst du zu mir?

Autor: Ich möchte dich etwas fragen, Paulus.

Paulus: Was ist es?

Autor: Das ist nicht leicht zu erklären. Du wirst in den kommenden Jahren viele Briefe schreiben, auch an die Gemeinde in Korinth. Da geht es auch immer wieder um die Frage, was ein starker Glaube ist und was ein schwacher. Zum Beispiel, ob man als Christ das Opferfleisch aus den Tempeln essen darf. Du sagst: Ja, denn der Glaube an Christus hat dich dazu befreit. Aber was ist nun, wenn dir ein anderer Christ sagt, dass genau das gegen sein Gewissen verstößt?

Paulus: Dann werde ich das respektieren, selbstverständlich! Und die Finger vom Fleisch lassen, solange er dabei ist. Ich will sein Gewissen nicht beschweren. Aber meine Freiheit, die bleibt.

Autor: Mit Verlaub, das klingt für mich, wie soll ich sagen: Wie Bekenntnis nach Bedarf, als würdest Du es Dir so zurechtlegen, wie es gerade passt.

Paulus: Es ist doch ganz einfach: Wenn mein Leben durch Christus frei geworden ist, dann bin ich wirklich frei. Dann kann ich tun, was gut und was nötig ist. Aber ich kann auch leicht unterlassen, was gerade nicht nötig ist. Zum Beispiel, andere mit meiner Freiheit zu provozieren. Ich darf alles. Aber nicht alles ist in jedem Moment gut. Und nicht alles baut die Gemeinde auf. Ich darf nicht nur an mich denken, sondern muss immer auch an die Grenzen der anderen im Blick haben.

Musik: John Cage, aus Six Melodies (Nr. 4), Lee Santana (Laute) und Hille Perl (Gambe)

Manchmal heißt es, heute sei alles anders als früher. Wir stünden vor ganz neuen Herausforderungen, und die alten Bilder und Worte hätten keine Kraft mehr. Unser Besuch beim Apostel Paulus in der multikulturellen Metropole Korinth vor 2000 Jahren hat uns heute Morgen vielleicht eines Besseren gelehrt.

Engstirnigkeit und religiöser Fanatismus sind keine Erfindungen unserer Zeit. Es gab sie schon immer, und es wird sie geben, solange es Menschen gibt. Immer sind ihre Ursprünge Angst und Unfreiheit und ihre Folgen Hass und Gewalt.

Seitdem er Christ geworden war, hat der Apostel Paulus sein Leben lang leidenschaftlich und unermüdlich für sein Gegenmodell zu diesen trostlosen Perspektiven geworben: Die wunderbare Freiheit und Gelassenheit, die aus dem Glauben an Jesus Christus entstehen kann. Aber die muss sich jeden Tag neu bewähren.

Musik: Jonny Robbels, Jenny’s Dance

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