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Jung oder alt? Auf jeden Fall wachsen und blühen!

Jung oder alt? Auf jeden Fall wachsen und blühen!

Pia Baumann
Ein Beitrag von Pia Baumann, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

„Sag mal, Frau Baumann, wie alt bist du eigentlich?“, fragt mich die sechsjährige Lina. Lina und ihre Klassenkameraden schauen mich neugierig an. Es ist die fünfte Schulstunde. Eigentlich haben wir Religion als Thema.

„Och“, sage ich, „das wollt ihr gar nicht wirklich wissen. Ich bin schon so alt, das könnt ihr euch nicht vorstellen.“

„Das glaube ich nicht“, meldet sich Malte zu Wort, „so alt wie mein Mutter bist du jedenfalls nicht. Die ist nämlich echt uralt.“.

„Wie alt ist denn deine Mutter?“, frage ich interessiert zurück. „Meine Mutter“, sagt Malte, „meine Mutter ist schon achtundzwanzig!“

„Vielen Dank, lieber Malte“, denke ich und freue mich. Schließlich bin ich gerade ganze achtzehn Jahre jünger geworden. Ich freue mich, obwohl dieses zweifelhafte Kompliment von jemanden kommt, der gerade erst lernt, sich im Zahlenraum von 0 bis 20 zu orientieren. Ich weiß, für ihn ist letztlich alles jenseits der zwanzig unvorstellbar alt.

Aber welcher Erwachsene freut sich nicht, wenn er oder sie für jünger gehalten wird? Nicht nur Frauen. Auch mein Kollege hört es durchaus gern, wenn man ihn auf unter vierzig schätzt.

Es gab mal eine Zeit, in der hat es mir gefallen, wenn ich älter erschien, als ich war. Weil ich ins Kino kam, obwohl der Film doch erst ab zwölf war. Oder am Türsteher der Disco vorbei, der eigentlich keinen unter achtzehn reinlassen sollte.

Diese Phase war allerdings begrenzt. Und nicht nur ich scheine ihr ein bisschen nachzutrauern.

Denn gesellschaftlich haben wir uns hier in Europa darauf geeinigt: Jünger sein ist gut, älter werden ist schlecht. Wenn ich jung bin, kann ich mir die Haare silbergrau färben, und alle finden es schick. Wenn ich meiner Tochter aber halb im Scherz sage, dass ich mir überlege, mich mit achtzig tätowieren zu lassen, meint sie: Dafür bist Du dann zu alt.

Irgendwie ist es das lästig. Ständig ist man entweder für irgendwas zu jung oder zu alt. Dabei finde ich, es ist gar nicht so eindeutig, was „jung“ ist und was „alt“.

Musik 1

Was ist jung und was ist alt? Die Antworten auf diese Frage sind nicht für jeden gleich. Schließlich beginnt das Älterwerden bereits mit dem Eintritt in diese Welt. Jahrelang war ich die Jüngste in der Familie. Bis sich dieser Zustand über Nacht änderte. Meine Schwester wurde geboren und ich, die bisher Jüngste, war plötzlich die Ältere. Und aus der Nummer kommen weder meine Schwester noch ich je wieder raus.

Zumindest auf dem Papier. Denn es ist nicht unbedingt gesagt, dass jeder und jede sich auch so alt fühlt, wie er oder sie ist.

Ich bin sechsundvierzig. Das ist mein kalendarisches Lebensalter. Aber was sagt das schon über mich aus? Treffender wäre es doch zu sagen: Ich bin alt genug und habe ausreichend Lebenserfahrung, um in einer dauerhaften Beziehung zu leben. Mitunter bin ich noch so albern, dass ich vor Lachen einen Schluckauf kriege. Und ich bin sicher nicht zu alt, heimlich mit dem Löffel aus dem Nutella-Glas zu naschen. Aufs Schaukelpferd gehe ich nicht mehr. Nicht weil ich nicht gerne schaukele, sondern weil ich einfach zu groß und zu schwer dafür bin. Und ich bin noch lange nicht abgeklärt genug, um mich nicht über gesellschaftliche und politische Ungerechtigkeit aufregen zu können. Beim Memoryspielen mit meiner Tochter sehe ich allerdings ganz schön alt aus.

Der Volksmund behauptet ja: Man ist immer nur so alt, wie man sich fühlt. Was wie eine Binsenweisheit klingt, ist durchaus wissenschaftlich belegt. Menschen, die sich jünger fühlen, als sie tatsächlich sind, haben gute Chancen, länger zu leben. Bis zu acht Jahren. Denn sich jünger fühlen, soll sich positiv auf das Herz- und Kreislaufsystem auswirken, so ein Ärztemagazin. Das klingt doch vielversprechend.

Aber seien wir ehrlich: Auch wer sich jünger fühl, hält das Älterwerden nicht auf. Spätestens an meinem Geburtstag wird mir das immer schmerzhaft bewusst. Dann schaue ich in den Spiegel und wundere mich, wo die Zeit geblieben ist. Und was sie mit mir gemacht hat. Das kann man leise bedauern. Tue ich auch.

Und trotzdem möchte ich die Zeit nicht zurückdrehen. Ich möchte nicht wieder jünger sein. So schön es auch war, ich mag nicht wieder Kind sein und Angst vor der nächsten Klassenarbeit haben. Nicht nochmal durch die Pubertät müssen mit all ihren Pickeln. Und auf den ersten Liebeskummer kann ich auch gut verzichten.

Wieder jünger sein, würde bedeuten, all das aufzugeben, was ich in den letzten Jahren und Jahrzehnten erreicht und erlebt habe. Also füge ich mich in das Unvermeidbare und werde älter. Und wenn die moderne Medizin Recht hat, liegen noch einige Jahrzehnte Leben vor mir. So Gott will. Deshalb möchte ich nicht nur auf das schauen, was hinter mir liegt. Sondern ich möchte mich freuen auf das, was kommt.

Beim Nach-Vorne-Schauen hilft das Wort „alt“. Denn die Wurzel dieses Wortes liegt in der germanischen Sprache. Und bedeutet ursprünglich: groß sein und werden, nähren und wachsen. Alt werden, das heißt also wachsen.

Genau diesen Gedanken finde ich auch in der Bibel wieder. In den Psalmen. Dort steht an einer Stelle: Und wenn sie auch alt werden, werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein (Psalm 92,14). So beschreibt die Bibel nämlich Menschen, die sich in ihrem Leben von Gott getragen wissen. Sie sind wie Bäume, die am Wasser gepflanzt sind. Sie wachsen. Sie blühen. Sie tragen Früchte.

Älter werden heißt, sich entwickeln. Teilhaben am Werden und Vergehen der Schöpfung. Ein Leben lang. Ganz ohne negativen Beigeschmack.

Wie aber kriege ich das für mich zusammen? Ich werde älter, meine Haare werden grauer, die Kräfte lassen irgendwann nach und trotzdem ist das laut Bibel nicht negativ: Ich blühe vielmehr und bin frisch und wachse ein Leben lang.

Musik 2

Die Bibel sagt: Älter werden heißt wachsen. Und ich bin mir sicher, sie meint damit nicht nur meine Ohren oder mein Nase. Angeblich sind es die Stellen am menschlichen Körper, die zeitlebens größer werden. Aber wenn es nicht meine Nase ist, was ist es dann?

Wachsen ist ja nicht unbedingt immer eine Frage der Menge. Und somit objektiv kontrollierbar. Vieles in meinem Leben ist auch gewachsen, das ich nicht in Zentimetern oder in Kilogramm messen kann.

Die Beziehung zu meiner besten Freundin zum Beispiel. Wir kennen uns seit dem Studium. Und je älter wir werden, desto dankbarer bin ich für ihre Freundschaft. Ich weiß, sie ist immer für mich da. Und andersrum ist es genauso. Habe ich ein Problem, ist sie die Erste, die ich anrufe. Bei ihr muss ich mich nicht verstellen. Ich kann die sein, die ich bin. Sie kennt meine Fehler und Schwächen. Und scheut sich auch nicht, sie anzusprechen. Aber sie bestärkt mich auch in dem, was ich gut kann. Dafür braucht es manchmal nicht viele Worte. Mitunter reicht ein Blick oder eine Umarmung aus und ich blühe auf. Das war nicht immer so. Das hat sich erst langsam entwickelt. Aber es ist in unserem Leben gereift und jetzt ernten wir die Früchte.

Ich bin auch viel gelassener geworden mit dem Alter. Ich muss nicht mehr alles gleich und sofort erledigen. Es fällt mir leichter, Wichtiges vom Unwichtigen zu unterscheiden. Und ich muss es auch nicht mehr allen recht machen. Das habe ich übrigens von meinen Kindern gelernt. Früher habe ich versucht, jeden Termin wahrzunehmen und möglich zu machen. Ich wollte niemanden enttäuschen. Heute kann ich Dinge auch abgeben.

Ich achte viel mehr darauf, dass mein Privatleben und das meiner Familie nicht zu kurzkommen. Die Work-Life-Balance, wie es so schön neudeutsch heißt, die muss stimmen. Das ist für mich ein Gewinn. Und auch für meine Arbeit fruchtbar.

Wer auf Gott vertraut, sagt die Bibel, wird blühen, fruchtbar und frisch sein, auch wenn er alt wird. Das ist ein Geschenk. Daran will ich festhalten. Vielleicht überlege ich mir das mit dem Tattoo zu meinem Achtzigsten ja wirklich. So als spätes äußerliches Zeichen und Blüte meiner ständigen Erneuerung.

Und bis dahin will ich versuchen, mein Leben und seine Früchte, nicht nur zu sehen, sondern auch zu genießen. Und irgendwann – so hoffe ich – gebe ich mein Leben, prall und reif und lebenssatt, in die Hände dessen zurück, der es mir geschenkt hat.

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