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Staunen sorgt für eine bessere Welt
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Staunen sorgt für eine bessere Welt

Ksenija Auksutat
Ein Beitrag von Ksenija Auksutat, Evangelische Pfarrerin, Stockstadt

Es gibt Augenblicke im Leben, die so voller Staunen sind, dass man sie nie mehr vergisst. Als ich nach der Geburt meiner Tochter sie zum ersten Mal in meinen Armen hielt, da staunte ich über jedes Detail an ihr: Das Gesicht, das Köpfchen mit dem feinen Haarflaum, die winzigen Hände mit den noch winzigeren Fingern und den allerwinzigsten Fingernägeln.

Ein neugeborenes Baby bringt eigentlich jeden Erwachsenen zum Staunen. Es ist einfach wunderbar, so ein winziges Geschöpf zu sehen. So klein und doch einmalig und unverwechselbar. Solche Augenblicke sind sehr kostbar. Und wie alles Kostbare selten. Als Erwachsene kommt man ja im normalen Alltag nicht mehr so leicht ins Staunen. Alles ist durchorganisiert, muss funktionieren, ist geregelt und erforscht.

Aber manchmal, da ergreift einen doch dieses Gefühl des Staunens: Im Urlaub zum Beispiel, ich gehe am ersten Abend im Urlaubsort abends, wenn es dämmert, immer noch einmal nach draußen, entweder runter an den Strand oder in den Bergen auf die nächste Anhöhe hinauf. Wenn dann die Nacht kommt, die Geräusche des Tages abklingen, die Sterne am Himmel aufscheinen, dann bin ich erfüllt von diesem Staunen über die Natur. Die Erschöpfung von der Anreise, die Hektik von Flughafen, und Autobahn – sie verblassen hinter dem ewigen Kommen und Gehen in der Natur: Tag und Nacht, Ebbe und Flut, Sommer und Winter – seit unvordenklichen Zeiten war das so und wird auch so weiter gehen.

Eigentlich könnte ich doch jeden Tag staunen über die Welt, die mich umgibt. Einfach mal draußen genauer hinschauen. Wenn ich ein Stück Grün sehe – vielleicht das Gras im Vorgarten oder das bisschen Rasen am Straßenrand – habe ich das Gefühl, dass es völlig unwichtig ist. Jeder kann darauf herumtreten, man beachtet es kaum. Doch jeder Grashalm ist eine lebendige Pflanze, die CO2 in Sauerstoff verwandelt und so für frische Luft sorgt. Und Gras ist nicht nur erstaunlich nützlich, es ist auch einfach schön: Früh am Morgen, wenn der Tau noch darauf liegt, sieht man das Sonnenlicht in den Tropfen schimmern, wunderschön.

Vielleicht denken Sie jetzt: Okay, so am Sonntagmorgen, egal ob gemütlich Zuhause oder schon unterwegs, da kann mal ein bisschen staunen. Aber was bringt das schon? Oh, eine ganze Menge – Sie werden staunen.

Viele Erwachsene scheinen das Staunen längst verlernt zu haben. Nur bei Kindern erkennen wir dieses wunderbare Gefühl, freuen uns an den staunenden Kinderaugebeim Zoobesuch zum Beispiel.

Psychologen in den USA haben das Staunen auch bei Erwachsenen gefunden. Sie haben in einer Untersuchung entdeckt: Wer staunen kann, verhält sich im Alltag sozialer. Wer das Gefühl des Erstaunens bei sich zulässt, verhält sich nachweislich kooperativer, hilfsbereiter und weniger egoistisch.

Die Wissenschaftler hatten dazu mehr als 2000 Freiwillige in verschiedenen Versuchen getestet.

In einem Experiment bekamen die Freiwilligen Filme zu sehen, mit denen bestimmte Reaktionen geweckt werden sollten. Einige Filme waren eher lustig, andere langweilig bis neutral gehalten. Eine Gruppe der Teilnehmer bekam Filme über Naturphänomene zu sehen. Ergebnis: Wen ein Film zum Staunen gebracht hatte, der verhielt sich anschließend hilfsbereiter, ausgleichender und bemühte sich, von der Gruppe akzeptiert zu werden oder neue Freundschaften zu schließen.

In einem anderen Experiment bekamen die Teilnehmer zehn Lotterielose und mussten entscheiden, ob sie einige davon mit anderen teilen wollten oder alle für sich behalten. Und wieder zeigte sich: Wer in verschiedenen Situationen über die Welt oder seine direkte Umgebung staunen konnte, erwies sich in der Folge als großzügiger und war eher bereit, von seinen Losen welche abzugeben.

Die Forscher sehen in diesen Ergebnissen, wie wichtig es ist, dass Menschen sich als Teil eines größeren Ganzen empfinden. „Man hält sich nicht mehr für den Mittelpunkt der Welt, wenn man staunt“, fasste ein Wissenschaftler die Beobachtungen zusammen. „Man denkt auch an andere und ihre Bedürfnisse.“ Wer staunen kann, sucht mehr Gemeinschaft und verhält sich in der Folge sozialer.

Ganz unterschiedliche Auslöser können Menschen zu diesem sozialeren Verhalten führen. Egal ob die Forschungsteilnehmer im Film sahen, wie bunte Farbtropfen in Zeitlupe in ein Glas Milch fielen, wie ein Tornado eine Landschaft verwüstet oder ob die Bilder sie in ein Eukalyptus-Wäldchen versetzten: Die Teilnehmer fühlten sich selbst nicht mehr so wichtig und sie waren eher bereit, anderen beizustehen und sich für das große Ganze einzusetzen. Erstaunlich! Aber wie bringe ich mich selbst und andere zum Staunen?

Das Gegenteil von Staunen ist der Gedanke, dass ich ja ohnehin schon alles weiß, schon alles gesehen habe und mich nichts mehr überraschen kann. Es braucht dann schon Sensationen, immer noch größere Rekorde, der Superlativ vom Superlativ, damit ich ins Staunen komme. Kleine Details oder zunächst Unscheinbares dagegen beachte ich dann gar nicht erst. Früher waren es gerade die Denker und Forscher, die staunen konnten und daraus Neues entwickelten. Aristoteles, einer der großen Philosophen im antiken Griechenland, sah im Staunen den Beginn des Philosophierens: Erst wenn man Dinge nicht als selbstverständlich gegeben ansieht, beginnt man, sie genauer zu betrachten. Dann zeigen sich erstaunliche, bisher unberücksichtigte und neue Wahrheiten. Neugierig sein und staunen gelten seitdem als der Anfang des Lernens.

Im frühen 17. Jahrhundert gab es eine Erfindung, die jeden staunen ließ: das Mikroskop. Auch der englische Naturphilosoph und Wissenschaftstheoretiker Francis Bacon war davon begeistert. Er schrieb: „Diese Mikroskope vermitteln uns verborgene, sonst unsichtbare Teilchen der Körper (…). Sie vergrößern alles, so dass man mit ihnen am Floh, an der Fliege und an den Würmern den Bau (…) des Körpers, die Farbe und Bewegungen – was vorher alles unsichtbar war – genau und mit großer Verwunderung sehen kann.“

Allerdings verläuft es oft so: Erst staunen und bewundern die Forscher – und dann versuchen sie sehr schnell herauszufinden, wie sie dieses Wunder in den Griff bekommen können. Das führt zu immer stärkerer Beherrschung der Natur.

Die meisten Menschen heute sehen darum die Welt als durchweg wissenschaftlich erklärbar an. Was sich jetzt noch nicht erklären lässt, das wird dann ihrer Meinung nach sicher irgendwann einmal in der Zukunft erforscht werden. Und irgendwann wird es keine Geheimnisse mehr geben und nichts mehr, worüber man staunen müßte. Oder doch?

Albert Einstein zum Beispiel war ein Forscher, der das Staunen nicht verlernt hatte – im Gegenteil. Er sagte einmal: „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.“

Wenn wir vor lauter Wissenschaft und Technik das Staunen vergessen, stirbt auch die Natur. Jeder kann einen kleinen Käfer mit dem Schuh zertreten. Aber alle Wissenschaftler der Welt zusammen können keinen neuen lebendigen Käfer bauen. Die Einmaligkeit des Lebens ist und bleibt ein Wunderwerk. Das Staunen ist deshalb nicht einfach ein romantisches Bewundern, sondern auch ein gutes Mittel gegen Machbarkeitswünsche und Größenwahn.

Die Bibel nennt die Natur mit dem altmodisch klingenden Wort „Schöpfung“. Weil Gott „hinter“ oder „über“ der Schöpfung steht, hat alles Tun von uns Menschen einen Halt und eine Grenze. Es gibt etwas, das größer ist als wir selbst. Das Staunen erinnert mich daran: Der Anblick einer schönen Landschaft. Liebe zwischen zwei Menschen. Die Lösung einer schwierigen Aufgabe. Staunen können trägt dazu bei, dass wir global verantwortlich sein können. Ich staune und staune und danke meinem Gott. Heute am Sonntag und an jedem neuen Tag, den wir staunend erleben dürfen.

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