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Halt im Leben finden

Halt im Leben finden

Ksenija Auksutat
Ein Beitrag von Ksenija Auksutat, Evangelische Pfarrerin, Stockstadt

Der Mensch braucht einen Halt. Etwas, das trägt. Worauf man sich verlassen kann. Wenn man Jugendliche fragt, dann sagen sie: Meine Familie – darauf kann ich mich verlassen. Und: Freunde. Und man verlässt sich als junger Mensch natürlich auch darauf, dass man es schon schafft, dass man seinen Weg machen wird, mit dem, was man lernt und kann.

Worauf verlässt man sich, wenn man älter wird? Klar, die Familie ist immer noch wichtig, auch Freundschaften. Aber viele spüren doch auch, dass das nicht alles ist. Wenn die Ehe scheitert oder man für eine Arbeit weit weg ziehen muss, was dann? Sicherheit ist etwas anderes als ein Halt.

Sicherheit verspricht einem vieles. Die Versicherung ist dafür da, steckt ja schon das Wörtchen „sicher“ im Begriff. Krankenversicherung, Haftpflichtversicherung und so weiter. Die sorgen dafür, dass man im Falle eines Falles finanziell abgesichert ist. Aber hält es einen? Und was für ein Halt wäre das denn, der immer stabil bleibt, nie wankt? Gibt es so etwas überhaupt?

Mitten im Berufsleben gibt einem natürlich auch der Alltag Halt. Jeder Tag hat seine Ordnung, vom Weckerklingeln am Morgen bis zu den freien Wochenenden, an denen man sich ausruht oder mit Freunden trifft. Ich frage mich, was gibt einem Halt, wenn das wegfällt?

Viele Paare stehen vor dieser Frage auch schon früher, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Als Ehepaar mit Kindern gibt einem ja meistens die Elternrolle vor, was man zu tun hat. Und daran hält man sich auch fest: Die Schulbrote schmieren, zum Elternabend gehen, bei den Sportwettkämpfen der Kinder oder im Musikverein mithelfen. Das Leben ist in dieser Phase meist besonders eng getaktet. Wenn sich das dann irgendwann ändert, tun sich Freiräume auf. Aber schafft man es, die zu füllen? Und erst recht geht es denen so, die in Rente gehen. Was ist ihre Aufgabe neben dem Alltag?

Diese Frage nach dem Halt in allen diesen grundlegenden Veränderungen, die man sich ja auch nicht immer selbst aussuchen kann, begleitet mich schon ein paar Jahre, denn ich bin jetzt fünfzig geworden. Und ich weiß natürlich, dass auch bei mir nicht alles immer so weiter gehen wird. Ein paar Menschen habe ich getroffen, die haben für sich Antworten gefunden. Und zwar auch welche, die schon eine Bewährungsprobe bestanden haben. Davon will ich erzählen.

Musik

Ein Mann, früher Richter von Beruf, hat für sich eine Antwort gefunden, was ihm Halt im Leben gibt. Er hatte seine Frau verloren, nach sechzig Ehejahren. Sie war sein Lebensinhalt, wie eine Nabelschnur hatte sie ihn mit der Welt verbunden. Nun war er allein und fühlte sich unendlich kümmerlich, er fühlte keine Lebensenergie. So kommt er in die Trauergruppe der Gemeinde. Da sitzt eine junge Mutter, Ende dreißig, drei Kinder. Ihr Mann starb plötzlich. Sie ist überfordert: ihre Trauer, die Kinder und dann noch die ganzen rechtlichen Sachen wegen der Rente und so. An diesem Abend hat der Witwer gemerkt: Er war doch eigentlich so reich. Sechzig gemeinsame Jahre hatte er gemeinsam mit seiner Frau erlebt, die Kinder waren alle aus dem Haus und selbständig. So viel Grund zu Danken. Und genau in diesem Augenblick merkte er, dass ihn das trug: sein reiches Leben. Und er wusste, er hatte noch so viel zu geben. Die Niedergedrücktheit verließ ihn wie ein schwarzer Vogel, der davon flog. Gleich an diesem Abend verabredete er sich mit der jungen Witwe, um ihr mit dem Papierkram zu helfen.

Dann war da der Mann, der nach der Scheidung allein lebte – und dann kam das Ende seiner Berufstätigkeit. In der leeren Wohnung hocken – das war ihm schrecklich. Eines Tages stieg er morgens aufs Fahrrad und merkte, das war gut. Immer weiter fuhr er. Und dann packte es ihn, er fuhr ein paar Wochen mit wenig Gepäck, ohne Vorplanung, bis an die Nordsee. Und beim nächsten Mal, fuhr er dort weiter, wo er zuvor aufgehört hatte, Niederlande, Belgien, Frankreich am Ärmelkanal, am Atlantik. Er hat Menschen kennen gelernt, Hilfe gefunden, wenn mal was kaputt war. Zwischendurch fuhr er mit dem Zug immer wieder zurück nach Hause. Mal, weil er zum Zahnarzt musste oder weil ein Freund gestorben war. Irgendwann in Polen traf er eine Frau. Er verliebte sich. Jetzt fährt er öfters zu ihr oder sie kommt ihn hier in Hessen besuchen. In seinem Wohnzimmer hat er eine riesige Europakarte an die Wand gehängt. Rote Linien zeigen, wo er überall schon lang gefahren ist. Es fehlt nur noch die Türkei. „Das habe ich alles erlebt, nur mit meiner eigenen Kraft, das hätte ich mir nie träumen lassen“, sagt er. Und: „Wenn ich mal nicht mehr fahren kann, dann macht das nichts, dann denke ich einfach an alles zurück, was ich gesehen habe, die Begegnungen.“

Musik

Was trägt einen, wollte ich wissen und habe zwei Antworten gefunden. Bei dem Richter, der aus seiner Trauer herausgefunden hat. Und bei dem Mann, der allein nach der Pensionierung eine neue Leidenschaft fürs Unterwegssein gefunden hat. Beide haben eine schwere Situation gemeistert. Der Richter kam zu dem Gesprächsabend für Trauernde in die Kirchengemeinde. Er hatte mit Gott gehadert und hier ein Forum für sich gewünscht. Er bekam ja nun keine Antwort von Gott, aber eine Botschaft hatte er an diesem Abend schon empfangen. Es war die Erinnerung an all das Schöne, die ihm neue Kraft gab.

Bei dem anderen war es der Weg in die Natur. Und die Erfahrung, aus eigener Kraft ganz allein unterwegs sein zu können, gab ihm neuen Lebensmut. Auch für diese beiden bedeutet es nicht, dass sie bis zum letzten Atemzug ohne neues Leid bleiben. Aber sie haben eine Grundlage, die ihnen hilft, ihr Leben anzunehmen. Eine Grundlage für schwere Zeiten, erprobt, tragfähig hoffentlich.

Auch der Theologe Dietrich Bonhoeffer hat Worte für seinen Halt gefunden. Er hat viel Leid und Schmerz erlebt. Der evangelische Theologe wurde 1943 unter dem Regime der Nationalsozialisten verhaftet und zwei Jahre später auf ausdrücklichen Befehl Adolf Hitlers hingerichtet. Seine Worte berühren mich immer neu, wenn ich sie höre. Mit Gott spricht er, wie in einem Gebet. Bonhoeffer sagt es so:

"Und reichst du uns den schweren Kelch,
den bittern des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne zittern
aus deiner guten und geliebten Hand."

Bonhoeffer weiß sich von Gott getragen. Nicht nur im Erfolg, an den sonnigen Tagen. Klar, das wünscht und hofft man vor allem von Gott: Gott möge einen segnen und behüten. Zu Recht. Wenn Gott ein Gott des Lebens und der Liebe ist, dann erhoffe ich mir, dass Gott das Gute will, auch in meinem Leben.

Im Neuen Testament sind aber auch andere Erfahrungen aufgeschrieben. Nämlich, dass Gott selbst Leid erlebt hat, Schweres und den Tod durchlitten hat. Gott hat das in und mit dem Menschen Jesus erfahren. Nichts Menschliches ist ihm fremd. Das ist die unerwartete und für viele schwer fassbare Botschaft, die die ersten Christen weitergeben haben.

Vielen Menschen, die selbst leiden oder gelitten haben, war und ist diese Botschaft ein Trost, der ihnen Halt gibt in schweren Stunden. Wie Dietrich Bonhoeffer.

Bonhoeffer öffnet sich der tiefsten Einsicht: das Leid, die Krankheiten, die Gewalt durch Verbrechen und Kriege, selbst Naturkatastrophen oder Unglücke – all das kann und wird niemanden von Gott trennen. Gott bleibt bei den Menschen, die leiden. Die guten und schönen Erlebnisse werden dadurch nicht wertlos. Im Gegenteil. Jedes Leben hat seine Schönheit, seine Würde. Anfang und Ende sind von Gott getragen.

Für mich ist das der Halt. Ich hoffe, dadurch nicht mehr zu hadern als nötig. Dieser Halt hilft mir, im Leid, in einer Krankheit nicht noch eine Strafe zu sehen für etwas. Er hilft mir auch, nicht mein Leben lang ängstlich zu sein, ob auch immer alles gut gehen möge.

Ich will versuchen, jeden Tag zu leben, dankbar für das Gute. Und hoffentlich dann tapfer im Schmerz. Mit den Worten von Dietrich Bonhoeffer:

"Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag."

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