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Stress

Stress

Thomas Zels
Ein Beitrag von Thomas Zels, Pastor, Freie evangelische Gemeinden Marburg

Ich bin im Stress! Sagte mir der Kollege. Ich hatte ihn nur gefragt, ob er mich ein Stück in die Stadt mitnehmen könnte, weil mein Auto in der Werkstatt war. Statt ja oder nein, sagte er nur: Ich bin im Stress! Das sollte wohl heißen: Lass mich in Ruhe. Ich murmelte \"Okay, okay\", machte einen kleinen Bogen um ihn und ging wieder. Was hat der denn für Stress?, dachte ich gereizt. Ich hab Stress! Ich musste viel zu viel auf einmal erledigen, war mit einem Projekt in Verzug, die Finanzierung war immer noch nicht geklärt, und jetzt musste ich schon wieder Bus fahren! Wahrscheinlich kam ich zu spät zum Zahnarzt, und anschließend zu spät nach Hause. Und da wartete sicher meine Frau ganz ungeduldig weil wir Tanzkurs haben. In meinem Kopf hörte ich sie schon sagen: Typisch, alles ist dir wichtiger als wir!

Am Sonntag beim Kaffee nach der Kirche wollte ich von zwei guten Bekannten wissen, wie es ihnen geht. Ach, hör auf, meinte einer. Ich fragte: Stress? Das war ein Treffer, und ich war gleich voller Verständnis.

Es ist schon komisch. Wo ich mich auch umhöre – alle Welt hat Stress. War das immer schon so? Stress, Hektik, innere Anspannung und das Gefühl unter Druck zu sein – so fühlen sich im Moment mehr als die Hälfte der Deutschen laut einer Studie. Sie haben den Eindruck, dass ihr Leben zunehmend anstrengender wird. Die Leistungsanforderungen sind schon hoch und sie steigen weiter. Das gilt nicht nur für den Beruf- Da sagt jeder Dritte, er arbeitet häufig am Limit. Stress entsteht auch durch die eigene Haltung zum Leben, durch meine Bewertung der Dinge. Wenn ich zum Beispiel aus Angst, beruflich abgehängt zu werden, noch eine Sprache lerne, oder glaube, bei der Förderung meiner Kinder dauernd etwas zu versäumen, dann mach ich mir selber Stress. Viele Familien müssen zum Beispiel Beruf und Kinder unter einen Hut bringen. Zusätzlich erledigen besonders Frauen die unbezahlte und wenig beachtete Hausarbeit. Ebenfalls eine Quelle von Frust und Stress. Da hilft es auch nicht, sich mit Statussymbolen für den ständigen Druck zu belohnen. Weder die neue Topfserie, noch die Konzertkarten machen den Druck kleiner. Und beim scheinbar so entspannten Shoppen entsteht auch wieder Stress, denn es gibt immer Dinge, die wir uns nicht leisten können. Dann wäre man bei einem neuen Stressfaktor, den Geldsorgen. Laut Statistik geht es bei Streitereien deutscher Paare meistens um´s Geld. Es ist ebenfalls keine Lösung, wenn die Kinder als Statussymbole herhalten sollen, indem sie begabter und erfolgreicher sein müssen, als die Eltern. Da sind ebenfalls neue Enttäuschungen und neuer Stress im Anmarsch. Kinder sind nicht programmierbar. Sie entwickeln sich anders als geplant.

Wie es aussieht, können wir dem Stress also kaum ausweichen. Oder vielleicht doch?

Seit einigen Jahren macht das Wort \"Entschleunigung\" Karriere, eine Gegenbewegungen zum Stress. Damit ist gemeint, das Leben bewusst zu verlangsamen, oder sogar radikal zu verändern, um dem Alltags-Stress auszuweichen. Ziemlich viele Zeitschriften profitieren schon von diesem Trend. Sie heißen beispielsweise \"Escape\", die Flucht, oder \"Weekender – Das Magazin für Einblicke und Ausflüge\". Klingt ein bisschen nach Welt-Flucht. Und tatsächlich spielen in solchen Zeitschriften Politik, Wirtschaft oder globale Probleme so gut wie keine Rolle. Ihr Thema ist der Rückzug ins Private. Da wird die vergessene Kunst des Papierschnitts empfohlen, oder das meditative Zeichnen von Schmetterlingsflügeln. Da gibt´s Tipps für das Nahfotografieren von Blütenblättern und Aussteigergeschichten dutzendweise. Aber ist das wirklich die Lösung, wenn da ein Paar seine Großstadtwohnung aufgibt, um sich in der kargen Wüste Kaliforniens niederzulassen? Oder wenn ein hochbezahlter Manager seinen Job an den Nagel hängt, um Gärtner oder Gitarrenbauer zu werden? Viele dieser europaweit vertriebenen Magazine füllen inzwischen die Regale der gängigen Bahnhofs- und Flughafenkioske. Während die Auflagen der Tageszeitungen sinken und die Politpresse um Leser kämpfen muss, boomen diese Wohlfühlzeitschriften. \"Flow – Das Magazin für Achtsamkeit, Positive Psychologe und Selbstgemachtes\" hat gerade seine Auflage auf zweihundertzwanzigtausend Hefte erhöht. Ähnlich ist es bei \"My Harmony – Das Magazin für gute Ideen und schöne Gedanken\", oder bei \"Emotion Slow – Mehr Zeit fürs Wesentliche\". Sie leben von der Sehnsucht nach einem entspannteren Leben.

Das liegt wohl daran, dass der Blick aufs Globale nicht rosig ist. Allein im letzten Jahr hätte man Angst kriegen können, so grausam ging es in Teilen der Welt zu. Kriege, wohin man schaut. In Israel und Palästina, im Osten der Ukraine, im Irak und in Syrien, an der Grenze zur Türkei, nur wenige Flugstunden von Frankfurt entfernt. Unzählige Flüchtlinge sind eine Folge dieser Kriege. Außerdem: Hunderte junge Deutsche reisten in den Mittleren Osten und beteiligten sich an den Gräueltaten des \"Islamischen Staates\". Die Reihe der schlechten Nachrichten reißt nicht ab.

Ich kann das Bedürfnis gut verstehen, die Augen zu verschließen und sich die Ohren zuzuhalten. Wenigstens ab und zu. Manchmal möchte ich das auch. Aber natürlich weiß ich, dass alles Verdrängen nichts hilft. Am Ende muss ich doch zurückkehren in die raue Wirklichkeit.

In meinem Gespräch beim Kirchenkaffee hätte ich dem gestressten Bekannten gern einen Tipp gegeben, wie er sich gegen seinen Stress wehren kann. Spontan fiel mir aber nichts ein. Der Dritte an unserem Stehtisch wollte allerdings etwas wissen. Wie ist das mit dem Satz von Jesus? Er war im Gottesdienst zitiert worden. Jesus hat gesagt: \"Kommt zu mir, ihr alle, die ihr euch plagt und von eurer Last fast erdrückt werdet; ich werde sie euch abnehmen… So werdet ihr Ruhe finden für eure Seele.\"1 Und mein Nachbar wollte jetzt wissen: Wie soll das gehen?

Was Jesus da gesagt hat, klingt fast zu schön, um wahr zu sein: \"Kommt zu mir, ihr alle, die ihr euch plagt und von eurer Last fast erdrückt werdet; ich werde sie euch abnehmen… So werdet ihr Ruhe finden für eure Seele.\" Aber wie funktioniert das? fragten wir drei uns im Gespräch. Wir waren doch gerade vorher im Gottesdienst und beim Abendmahl gewesen. Einer der beiden hatte das Brot und den Kelch wie eine stärkende Zwischenmahlzeit erlebt. Wie ein Pausenbrot. Es hatte ihn daran erinnert, dass er nicht alleine ist. Diesen Gedanken fand ich schön. Ich bin nicht allein, und beim Abendmahl merke ich das.

Uns kam außerdem der Gedanke, dass Jesus nicht umsonst gesagt haben konnte: \"Kommt her zu mir.\" In den Herausforderungen des Alltags vergesse ich oft, dass Jesus eigentlich immer da ist. Das gehört doch zum christlichen Glauben: Jesus ist auferstanden. Und das bedeutet auch: Er ist an meiner Seite. Nur ich bin mit meinen Gedanken ganz woanders. Eigentlich weiß ich auch, wie gut es tut, zu beten. Wenn ich zwischendurch Selbstgespräche führen kann, oder mir Zeit zum Nachdenken nehme, dann kann ich auch mal beten.

In den Tagen darauf hab ich gemerkt, wie gut es tat, nicht allein unterwegs zu sein. Es gab in meinem Alltag viel mehr kleine Möglichkeiten zum Innehalten, als mir bewusst war. Beim Autofahren zum Beispiel oder beim Kaffeeholen. Auf einmal war es gar nicht mehr so dramatisch, an einer Kasse anzustehen, oder im Wartezimmer zu sitzen. Oft betete ich zum Beispiel darum, mir nicht immer zu viele Sorgen auf einmal zu machen, sondern das zu sehen, was jetzt gerade anstand. Das half mir, gelassener und konzentrierter zu sein. Nicht nur beruflich war ich mehr bei der Sache als sonst. Auch an unserem Tanzkurs hatte ich richtig Spaß.

Ich verstehe jetzt, warum die Geschichte von einem sehr beschäftigten Rabbi erzählt wird. Er wurde einmal gefragt, wie er immer so gelassen sein könne, wo er doch so viel zu tun habe. Er antwortete: Das ist ganz einfach: \"Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich aufstehe, dann stehe ich auf. Wenn ich gehe, dann gehe ich.\" Da antworteten ihm seine Zuhörer: \"Aber das tun wir doch auch!\" \"Nein,\" entgegnete er, \"wenn ihr sitzt, dann esst ihr schon. Wenn ihr esst, dann steht ihr schon wieder auf. Und wenn ihr aufsteht, dann geht ihr schon!\"

Ich habe immer noch Stress. Aber die kleinen Gebete zwischendurch helfen mir, entspannter und ganz bei der Sache zu sein. Und sie rufen mir ins Gedächtnis: Ich bin nicht allein.

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