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Singen ist gefährlich
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Singen ist gefährlich

Dr. Ursula Schoen
Ein Beitrag von Dr. Ursula Schoen, Prodekanin, Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt
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Heute ist Reformationstag. Er erinnert daran: Am 31. Oktober 1517 heftete Martin Luther seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg. Alle, die am Tag darauf zum Allerheiligenfest in die Kirche kamen, sollten sie lesen können. In seinen 95 Thesen hat sich Martin Luther gegen die Lehre der damaligen Kirche gewandt.

Die Vergebung der Sünden ein Tarifsystem

Es ging um den Ablasshandel. Die damalige Kirche hatte aus der Vergebung der Sünden ein Tarifsystem gemacht. Man sollte sich das ewige Leben angeblich kaufen können. Je mehr Geld man der Kirche bezahlte, desto schneller sprang die Seele aus dem Fegefeuer in den Himmel.

Seelenheil und ewiges Leben – kann man weder kaufen noch verkaufen

Das brachte Martin Luther in Rage. Seelenheil und ewiges Leben – die kann man weder kaufen noch verkaufen. Auch die Kirche kann über Gott und Erlösung nicht verfügen. Es kommt vielmehr auf jeden einzelnen Christenmenschen an: dass er und sie Buße tut. Dass er und sie glaubt und vertraut: Gott ist mir gnädig. Gott vergibt und meint es gut mit mir.

Martin Luther war das Singen wichtig

Jeder Christ, jede Christin sollte im Glauben eine eigene Stimme haben. Stimme ist wörtlich gemeint. Denn neben vielem anderem, das Martin Luther in der Kirche reformiert hat, war ihm das Singen wichtig. Luther wusste: Musik erreicht auf eigene Weise das Herz und den Verstand. Luther schrieb deshalb selbst viele Kirchenlieder. In den Gottesdiensten sang die Gemeinde nicht mehr auf Latein, das kaum jemand verstand, sondern auf Deutsch. Das Singen wurde zum Markenzeichen der neuen evangelischen Bewegungen.

Lieder als Protest

Singen hat etwas Subversives. In vielen Protestbewegungen lange nach der Reformation hat das Singen eine große Rolle gespielt. Ein solches Protestlied ist 1912 das Lied „Brot und Rosen“. Textilarbeiterinnen in den USA haben es im Kampf gegen Hungerlöhne und Kinderarbeit gesungen. „Wenn wir zusammengehen, kommt mit uns ein besserer Tag“, heißt es da und an anderer Stelle: „Drum kämpfen wir ums Brot und wollen die Rose dazu!“ Beim Singen fühlen sich Menschen verbunden und stark. Die einzelne steht nicht mehr alleine, sondern kann Gemeinsamkeit spüren.

Die Stärke des Singens wurde von den Nazis mißbraucht

Diese Stärke des Singens kann auch missbraucht werden. Von wegen „Böse Menschen haben keine Lieder“. Diesen Satz haben die Nazis schrecklich widerlegt. Sie haben mit ihren Liedern ein Gemeinschaftsgefühl befeuert, das andere vernichtet.

Lieder des Widerstandes

Umso wichtiger und stärker die Worte und Lieder, die sich gegen den Wahn der Nazis gerichtet haben. Dietrich Bonhoeffer zum Beispiel, der evangelische Widerstandskämpfer, hat damals gedichtet: „Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag.“ Es ist eben nicht Hitlers Diktatur, sondern es sind Gottes gute Mächte, die letztlich entscheiden. Bonhoeffers Gedicht wurde nach dem Ende der Nazi-Herrschaft zu einem Lied vertont, das viele kennen und gerne singen.

„Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag.“

Für mich gehören Bonhoeffers Worte und das Lied auch zu dem, was mir Halt gibt in diesen Ausnahme-Zeiten: Wir sind trotz allem von guten Mächten wunderbar geborgen. „Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Dieses Gottvertrauen und diese Trotzdem-Kraft feiere ich heute am Reformationstag.

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