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Gutmensch? Meinetwegen
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Gutmensch? Meinetwegen

Thomas Zels
Ein Beitrag von Thomas Zels, Pastor, Freie evangelische Gemeinden Marburg

Die Liebe eines Menschen kann einen anderen beschützen. Der Hamburger Theologe Helmut Thielicke hat einmal erzählt, wie er das zum ersten Mal verstanden hat, mit zehn Jahren. Er hatte einen Jungen in der Klasse, den er absolut nicht leiden konnte. Keiner der Jungs konnte den leiden. Denn er war ein Streber, der sich auch noch um jede Prügelei drückte. Damals durfte man sich als Junge vor sowas nicht drücken, wenn man dazugehören wollte.

Eines Tages beschloss der Anführer der Jungs, es ihm zu zeigen. Heute würde man das Mobbing nennen, damals hieß das Klassenkeile. Als die Jungs am nächsten Morgen vor dem Schulgebäude darauf warteten, rein gelassen zu werden, sahen sie auch den Streber mit seinem Vater kommen. Offensichtlich hatten die beiden an diesem Tag den gleichen Weg. Der Vater war eine bekannte und angesehene Persönlichkeit. Die meisten Jungs hatten Respekt vor ihm.

Vor dem Tor zum Schulhof verabschiedete sich der Vater von seinem Sohn. Er streichelte ihm liebevoll über die Wange, strich über seine Haare und sagte ihm noch ein paar gute Worte für den Tag. Dann ging er, drehte sich noch mehrmals nach seinem Sohn um und winkte ihm lächelnd zu.

Helmut Thielicke berichtet, dass diese Szene auf ihn und die meisten Jungs eigentümlich gewirkt hat. Eine merkwürdige Scheu befiel sie. Nicht aus Angst vor dem Vater. Aber sie hatten gesehen, wie sehr er seinen Sohn liebte. Und da konnten sie sich einfach nicht mehr an ihm vergreifen. Der Anführer motzte zwar und warf den anderen vor, Angsthasen zu sein. Aber die geplante Klassenkeile fiel aus.

Später begriff Thielicke auch durch dieses Erlebnis, warum Gott das Gebot "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" so wichtig ist. Weil die Liebe eines Menschen einen anderen beschützen kann. Er schrieb: "Der letzte Grund dafür, dass wir unsere Mitmenschen lieben sollen, uns nicht an ihnen vergreifen, sie hindern oder ausnützen dürfen, ist, dass Gott sie liebt. Man würde sich an Gott selbst vergreifen, würde man seinen Menschen schaden. Wir sind von Gott geliebt und stehen unter seinem Schutz."

Die Liebe eines Menschen kann einen anderen beschützen. Bei Kindern und alten Menschen kann ich das besonders gut beobachten. Immer, wenn jemand da ist, der hinschaut, der sich kümmert, der dem anderen beisteht, dann wird die betreffende Person auch von anderen besser behandelt. Denn dann haben die anderen es auf einmal mit zwei Menschen zu tun. Dem Schützling und dem Fürsprecher. Einem geliebten Kind begegnet man schon im Kindergarten aufmerksamer, und einem geliebten Alten im Pflegeheim würdevoller. Im Blick auf Flüchtlinge trifft das auch zu. Wenn sie Fürsprecher haben, werden auch sie von anderen nicht so leicht abgewertet.

Aber Fürsprecher können sich auch Unmut einhandeln. Der zehnjährige Thielicke musste sich anhören, ein Angsthase zu sein. Nur weil er jemandem nicht unnötig wehtun wollte. Heute würde er vielleicht hören, er sei ein Weichei. Oder, noch aktueller, ein "Gutmensch". Aber was ist eigentlich schlimm daran, so ein "Gutmensch" zu sein?

Ich möchte nicht als \"Gutmensch\" bezeichnet werden. Denn \"Gutmensch\" hat sich in letzter Zeit zu einem vielgebrauchten Schimpfwort entwickelt. Zum Beispiel für Flüchtlingshelfer. Das Wort verdreht den "guten Mensch" verächtlich ins Gegenteil und beschimpft ihn als übertrieben gutmütig. Unterstellt ihm lächerliche, schädliche, sogar gefährliche Naivität. Seit der sogenannten Flüchtlingskrise wird dies Wort in der politischen Rhetorik vermehrt als Waffe benutzt, um andere schlecht zu machen oder zu verspotten. Nicht nur im rechtspopulistischen Lager. Ehrenamtliche Flüchtlingshelfer werden damit abgewertet, oder die, die sich gegen Angriffe auf Flüchtlingsheime stellen. Mit dem Ausdruck \"Gutmenschentum\" werden ganze Initiativen und politische Hilfs-Konzepte schlechtgeredet.

Nun wurde "Gutmensch" zum Unwort des Jahres 2015 gewählt. Die Aktion will auf unsachliche oder unmenschliche Formulierungen im öffentlichen Sprachgebrauch hinweisen. Gute Wahl! Denn Helfende sind weder pauschal naiv, noch handeln sie aus gedankenloser politischer Korrektheit. Sie tun einfach, was die Lage erfordert. Wir können stolz sein, dass in Deutschland so viele Einsatzwillige die Not von Flüchtlingen lindern helfen. Auch in Hessen.

Sicher muss die große Zahl Notleidender verträglich gehändelt werden. Sicher müssen Fremde die Prinzipien und Werte unserer Gesellschaft achten lernen. Und sicher muss kriminellen Entgleisungen entschlossen entgegengetreten werden. Aber den Wert und die Not einzelner Menschen zu sehen und ihnen zu helfen, bleibt immer noch das Wichtigste.

Und da will gerade ich als Christ vorn mit dabei sein. Denn zum Kern der christlichen Glaubenserfahrung gehört, dass Gott barmherzig ist und hilft, wenn wir ihn bitten. Ganz pauschal. Ohne vorherige Eignungstests. So, wie es in Psalm 36,8 steht: \"Wie kostbar, o Gott, ist deine Gnade! Menschen finden Zuflucht im Schatten deiner Flügel.\" Gottes Hilfe hat mich in Krisen wieder auf die Beine gestellt. Das zu erleben, wünsche ich anderen auch. Deshalb helfe ich. Ebenfalls ohne vorherige Eignungstests. Wenn ich auf Notleidende treffe, gebe ich was, auch wenn ich nicht immer weiß, ob´s was bringt. Ich werde Flüchtlinge freundlich und hilfsbereit behandeln, obwohl sich hin und wieder auch Kriminelle unter sie gemischt haben könnten. Und ich werde weiterhin die vielen tollen Menschen und Initiativen unterstützen, die helfen.

Bin ich deshalb ein "Gutmensch"? Meinetwegen. Aber was soll´s. Auch die Bezeichnung "Christ" war ursprünglich als Schimpfwort gedacht. Sowas ist nicht wichtig. Für mich als Christ zählt, Jesus Christus nachzufolgen, der gesagt hat: "Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist." Übrigens hilft meine Barmherzigkeit gar nicht immer nur den anderen. Sondern auch mir selber. Wie funktioniert das?

Barmherzig sein ist oft keine Einbahnstraße. Sie bringt auch mir was. Ein Entwicklungshelfer in Tibet berichtet, dass er mit einem Begleiter ins Himalaja-Gebirge wanderte und dabei in einen Schneesturm geriet. Die beiden Männer wussten, dass sie sich so schnell wie möglich durch die höher werdenden Schneemassen zurückkämpfen mussten, wenn sie überleben wollten. Auf dem Rückweg fanden sie einen Verunglückten, der im Schnee von einem Abhang gestürzt war. Der Entwicklungshelfer wollte dem Verletzten helfen.

Sein Begleiter lehnte das aber energisch ab. "Wir sind selber in Lebensgefahr," rief er gegen den Sturm, "wir können uns nicht noch mit einem Verletzten belasten! Dann werden wir alle drei sterben!" Als der Entwicklungshelfer sich dennoch den Bewusstlosen auf den Rücken hob, wandte sich sein Begleiter ab und verschwand im Schneegestöber. Das Tragen des Gestürzten war überaus anstrengend und machte die Schritte deutlich langsamer. Durch diese zusätzliche Anstrengung wurde dem Helfer aber auch wärmer und die Körperwärme übertrug sich auf den Verletzten. Dadurch erlangte der sein Bewusstsein wieder und konnte etwas mithelfen.

So erreichten sie das rettende Schutzlager. Vorher aber sahen sie noch den ehemaligen Begleiter im Schnee liegen. Er hatte wohl übermüdet eine Pause eingelegt und war dabei erfroren. Später kommentierte der Entwicklungshelfer das Erlebnis mit dem Satz: "Ich wollte einen anderen vor dem sicheren Tod retten, und hab dabei mein eigenes Leben bewahrt."

Barmherzigkeit ist keine Einbahnstraße. Oft bringt sie auch mir was. Und damit meine ich nicht nur die Dankbarkeit dessen, dem geholfen wurde. Ich selber entwickle beim Helfen Kräfte, die ich vorher nicht an mir kannte. Ich spüre, dass mein Leben sinnvoll verläuft, wenn ich anderen etwas Gutes tue. Und schließlich setze ich auch noch ein Zeichen für einen der wichtigsten Verhaltenstipps von Jesus: "So wie ihr von den Menschen behandelt werden möchtet, so behandelt sie auch. Das ist – kurz zusammengefasst – der Inhalt der ganzen Bibel."

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