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Das letzte Blatt am Kalender

Das letzte Blatt am Kalender

Vera Langner
Ein Beitrag von Vera Langner, Evangelische Pfarrerin, Ober-Ramstadt

Wer einen Abreißkalender hat, weiß und sieht es heute besonders deutlich: Der letzte Tag des Jahres hängt mit einem letzten Blatt am Kalender 2017. Nur noch dieses eine Blatt, nur noch dieser eine Tag und dann ist das Jahr vorbei.

Es wird Zeit, Abschied zu nehmen. Ein würdevoller Abschied soll es sein, stelle ich mir vor. Schließlich war es ein ereignisreiches Jahr. Die Bundestagswahl Ende September wirkt jetzt noch nach. Ein historisches Jahr war es auch durch das Reformationsjubiläum. 500 Jahre nach den 95 Thesen Martin Luthers war der 31. Oktober 2017 ein arbeitsfreier Tag in ganz Deutschland als Geschenk – nicht nur für Evangelische. Viele haben sich interessiert für das, was die Menschen und die Kirche damals vor 500 Jahren umgetrieben hat.

Und nun ist all das schon wieder Geschichte. Da hängt jetzt also nur noch der 31. Dezember 2017 an meinem Kalender. Irgendwie möchte ich diesem letzten Blatt, diesem letzten Tag nochmal die Ehre geben. Ich überlege, was diesen Tag einzigartig und kostbar macht.

Zum Glück ist heute Sonntag. Das erspart mir und vielen anderen sicherlich auch die sonst übliche Hektik beim Arbeiten oder Einkaufen noch auf den letzten Drücker im alten Jahr. Ich kann diesen Silvestertag ruhig angehen. Noch über 16 Stunden Zeit schenkt er mir. Zeit für Ideen, Gedanken und Aufgaben. Warum nicht mal eine Abschiedsrede halten für das zurückliegende Jahr 2017?

Musik: Francesco Sartori, Times to say Goodbye (Andrea Bocelli)

Liebes Jahr 2017, nun gehst du also zu Ende. Mit einer Abschiedsrede möchte ich dich würdigen und ganz persönlich verabschieden. Die Zeit mit dir war absehbar, 365 Tage, du warst kein Schaltjahr. Du hast mich eine Zeit erleben lassen, die mich wieder ein Jahr älter gemacht hat. Aber dafür bin ich auch reicher geworden an Lebenserfahrungen. Einige Tage des Jahres waren denkwürdig. Diese Daten bleiben im Gedächtnis: die Hochzeit des Sohnes, die Geburt des Enkelkindes, der Unfall in den Bergen. Tage voll Unruhe, Tage voll Glück.

Auch du, 2017, hast wieder von allem was im Angebot gehabt. Auch diese ganz normalen Tage, an die ich mich gar nicht mehr erinnern kann. So vieles ereignet sich Tag für Tag. Mein Gedächtnis reicht nicht aus, um alles noch vor Augen zu haben. Ist das nicht sogar erschreckend, wie wenig ich noch von dir weiß, 2017? Ich bin immer dankbar für diese Jahresrückblicke mit dem „Ach-ja,-das-war-ja-auch-noch-Effekt“. Geschichten, die ich längst schon wieder vergessen hatte und die doch wichtig waren, als sie sich ereignet haben.

Komisch ist das schon, liebes Jahr 2017. Es ist alle Jahre das gleiche. Du machst da keine Ausnahme. Immer wieder ist am Ende des Jahres dieses Gefühl, dass ich die Zeit vielleicht nicht gut genug, nicht bewusst genug, nicht effektiv genug genutzt habe. Wäre da nicht noch viel mehr drin gewesen, wenn ich nur manches anders gemacht hätte? Klar, im Nachhinein ist man immer schlauer und sieht im Rückblick einiges, was einfach blöd gelaufen ist, wo ich nicht unschuldig war, was ich hätte besser machen können. Aber nun heißt es Abschied nehmen, auch von den ungenutzten Chancen, den verhängnisvollen Geschichten, den vergeudeten Stunden.

Nur gut, dass da der Luther war 2017. Seine reformatorischen Gedanken darf ich doch bis heute auch für mich gelten lassen. Von Luther habe ich gelernt: Die ungenutzten Chancen, die verhängnisvollen Geschichten, die vergeudeten Stunden, all das, was mich mit schlechtem Gewissen zurücklässt, darf ich der Liebe von Jesus Christus anvertrauen, darf glauben, dass mir vergeben wird, darf darauf vertrauen, dass Gott gnädig auf mein zurückliegendes Jahr schaut. So hatte es Luther in den Texten der Bibel für sich neu entdeckt. Und du, liebes Jahr 2017, hast mich immer wieder mit diesen reformatorischen Ideen konfrontiert. Menschen wollten von mir wissen, warum damals vor 500 Jahren so viele begeistert waren von der neuen evangelischen Sichtweise.

In meiner Kirchengemeinde in Ober-Ramstadt bei Darmstadt haben wir deshalb die vier Säulen der Reformation als Thema für die vier Ausgaben unseres Gemeindebriefes gewählt. Diese vier Säulen nennt man die vier Soli von Matin Luther. Solus Christus, sola fide, sola gratia und sola scriptura. Natürlich nicht auf Latein, sondern auf Deutsch! Das war ja der entscheidende Durchbruch gewesen für die Reformation: Die Leute sollten einfach mal verstehen, was da in den Kirchen geredet wurde. Aber auch auf Deutsch klärt sich nicht immer gleich alles: Allein Christus, allein der Glaube, allein die Gnade, allein die Bibel, das sind theologische Brocken, keine leichtverdauliche Kost.

Soli ist die lateinische Mehrzahlform von solus, die es auch nicht einfacher macht, aber doch einen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart herstellt. Mit dem „Soli“ können einige nämlich noch was anfangen oder bekommen ihn vom Gehalt abgezogen für den Aufbau Ost als Solidaritätsbeitrag.

Soli bei Luther ist so etwas ist wie der lebenslange Solidaritätsbeitrag Gottes für seine Gotteskinder. Wer´s glauben kann, ist gut dran. Und wer allein auf die Gnade Gottes vertraut, hat mehr vom Leben. Die Worte der Bibel sollen allein zielführend sein und Jesus Christus allein der Heilsweg. Ob das so stimmt und ob wir heute die Perspektive nicht doch erweitern müssen 500 Jahre nach Luther, damit haben wir uns 2017 intensiv beschäftigt in den Kirchen und darüber hinaus. Dabei war die Erinnerung an die Reformation noch nie so ökumenisch. Der Papst persönlich hat Martin Luther gelobt für seine Hinweise auf die Gnade Gottes und den Wert der Bibel. An vielen Orten haben am Reformationstag katholische Geistliche auf evangelischen Kanzeln gepredigt. Das war einzigartig, liebes Jahr 2017. Dafür bin ich dir auch über diesen letzten Tag des Jahres hinaus dankbar. Du bist, wie du bist, ein einzigartiges Jahr.

Musik: Ein feste Burg ist unser Gott (Jay Alexander)

Liebes Jahr 2017, ich halte dir eine Abschiedsrede. Ich erinnere mich besonders gern an das Jubiläum 500 Jahre Reformation und an Geschichten, die dazu passen. Da war zum Beispiel die Sache mit der leeren Seite im Gemeindebrief. Eine Frau aus der Gemeinde sprach mich vor kurzem darauf an. Sie sagte: „Besonders gut hat mir im letzten Jahr diese Ausgabe mit der leeren Seite gefallen.“ Ich wusste sofort, was sie meinte. Denn ich hatte viele Rückmeldungen bekommen zu dieser leeren Seite. Es war die Sommerausgabe des Gemeindebriefs gewesen. Wieder mal wurde es knapp für das Redaktionsteam. Alle Texte und Bilder mussten rechtzeitig zum Abgabetermin zusammengestellt werden. Aber Krankheiten, Urlaubstermine und berufliche Zusatzaufgaben durchlöcherten die Zeitplanung und machten die gesetzten Ziele zunichte.

Da entstand auf den letzten Drücker noch eine besondere Doppelseite: „Nicht geschafft“ stand da einfach in dicken Buchstaben auf der einen Seite, ansonsten war die Seite leer. Daneben dann eine Erklärung der ehrenamtlichen Mitarbeiterin, die den Gemeindebrief herausgibt: „Hier sollten eigentlich Interviews mit Menschen aus unserer Gemeinde stehen zu der Frage: Was ist für Sie Gnade?  Ich habe es nicht rechtzeitig geschafft, diese Interviews zu führen. Das bedaure ich sehr. Es wäre bestimmt interessant gewesen.“

Und die ehrenamtliche Redakteurin des Gemeindebriefs schreibt weiter: „Ich durfte aber in meinem Leben auch schon die Erfahrung machen, dass nicht ich alles hinkriegen muss. Auch dann, wenn ich scheitere, wurde am Ende oft etwas Gutes daraus. Denn das liegt in Gottes Hand und es ist seine Gnade, die Gutes entstehen lässt. Ganz ohne mein Zutun. Unverdient. So liebt er mich. Dennoch. Allein aus Gnade. Darauf hoffe ich auch jetzt. Und eine Last fällt von mir ab.“ Zum Schluss ihrer Erklärung schreibt sie: „Und wo haben Sie schon einmal Gnade erleben können?“

Diese Doppelseite im Gemeindebrief hat der Leserin besonders gut gefallen. Deshalb sprach sie mich Monate später noch darauf an. Das hätte sie sehr ermutigt, sagt sie mir. Das wäre mal so ein konkretes Beispiel gewesen, wie das mit dem Glauben funktioniert und wie das Gottvertrauen einem helfen kann. Und dann kamen wir in ein intensives Gespräch.

Aus der Not, der Leere, dem Unvollendeten war Segensreiches geworden. Ausgerechnet die leere Seite hat Menschen ermutigt, über ihre eigenen unvollendeten Seiten des Lebens nachzudenken. Leserinnen und Leser haben mit anderen über die Ziele gesprochen, die sie nicht erreicht haben. Mal waren sie selber schuld, mal kam etwas anderes dazwischen, das sie gar nicht beeinflussen konnten. Das Bekenntnis: „Nicht geschafft!“ kann etwas lösen. Eine Last fällt von mir ab. Liebes Jahr 2017, darum gehört zu meiner Abschiedsrede auf dich auch der Absatz: „Nicht geschafft“. Den lasse ich frei und vertraue darauf, dass Gott auch mit dem, was ich nicht geschafft habe, etwas anfangen kann.

Musik: Christian Sprenger, Nun danket alle Gott (Genesis Brass und Christian Sprenger)

Liebes Jahr 2017, eine Jubiläumsausgabe der Bibel trägt deine Jahreszahl. Die Lutherübersetzung wurde neu revidiert und mit einer Schmuckausgabe herausgegeben. Aber das Wort Gottes entfaltet seine Kraft bisweilen auch durch ganz einfache Kalenderblätter. Diese Erfahrung hast du mir auch geschenkt, 2017, durch eine besondere Frau.

Auf den ersten Blick ist sie arm. Sie hat traumatischen Erfahrungen in ihrem Leben gemacht. Liebevolle Beziehungen kannte sie kaum. Das hat sie krank gemacht an Leib und Seele. Sie lebt in einem Alten- und Pflegeheim und sitzt seit kurzem im Rollstuhl. Früher war sie in unserer Kirchengemeinde aktiv. Nun begleite ich sie als Seelsorgerin aus der Ferne. Manchmal telefonieren wir miteinander oder wir schreiben uns Briefe. Sie schreibt mir oft lange Briefe und lässt mich Anteil nehmen an dem, was ihr Leben gerade bestimmt. Ich schicke nur gelegentlich einen kurzen Gruß mit einer Ansichtskarte. So bleiben wir in Verbindung trotz der Entfernung.

Sie bewohnt ein großes Zimmer mit schöner Aussicht und viel Licht. Sie kann noch lesen und ist dankbar, dass der liebe Gott ihr den Verstand gelassen hat, wie sie sagt. Kaufen kann sie sich kaum noch etwas. Mit dem wenigen Geld, das ihr bleibt, muss sie sehr sparsam umgehen. 2017 hatte sie einen besonderen Kalender, einen Abreißkalender mit 365 großen Blättern. Sie hat ihn geschenkt bekommen. Unter jedem Tag mit dem Datum steht ein Satz aus der Bibel, und auf der Rückseite finden sich Hinweise und Anregungen zu diesem Bibeltext. Sie lebt und arbeitet mit diesem Kalender. Tag für Tag setzt sie sich an ihren Schreibtisch und hat zwei Stifte parat: einen roten Buntstift und einen blauen Kugelschreiber. Mit dem roten Buntstift unterstreicht sie wichtige Worte und hebt heraus, was ihr einleuchtet. Mit dem blauen Kugelschreiber notiert sie ihre Kommentare an den Rand oder zwischen die Zeilen. Anschließend sammelt sie diese Blätter und legt sie dann in den Umschlag, mit dem sie mir ihre Briefe schickt. So überlässt sie mir die Tagesblätter, ihre Tagesgedanken, ihre Zeit mit Gott.

Es ist für sie eine heilsame Übung. Manchmal kann sie nachts nicht schlafen. Dann steht sie auf und bearbeitet ihr Kalenderblatt. Danach legt sie sich wieder hin und schläft ein. Manchmal kommen ihr tagsüber die Tränen vor Wut oder vor Schmerzen. Dann schaut sie nach, welches Bibelwort heute auf dem Kalenderblatt steht und welche Gedanken dazu auf der Rückseite zu lesen sind. Die Arbeit mit den zwei Stiften tut ihr gut. Sie konzentriert sich auf das, was sie da liest und was ihr selbst dazu einfällt. Das hilft ihr, sich abzulenken und etwas Linderung und Trost zu finden.

Auf den ersten Blick ist sie eine arme Frau, aber ich sehe auch, welchen Reichtum sie sammelt, weil sie sich mit biblischen Texten beschäftigt. Sie hat gelernt, Tag für Tag Ausschau zu halten nach einem Wort oder einem Satz, der ihr hilft, den Tag und die Nacht zu bestehen.

Wenn wir miteinander telefonieren, fragt sie mich nach meinen Aufgaben und Sorgen in der Gemeinde. Dann erzähle ich ihr von der bevorstehenden Konfirmandenfahrt oder den vielen Beerdigungen oder den Problemen auf der Baustelle unserer Kirche. Sie betet dann für mich und unsere Gemeinde, für die Konfis und ihre Familien, für die Bauarbeiter und die Trauernden. Tag für Tag hat sie so eine Aufgabe. Sie weiß, dass ich ihr dankbar dafür bin. Es tröstet mich, dass da jemand Zeit hat zum Beten für all die vielen Menschen in meiner Gemeinde, für die meine Zeit oft gar nicht ausreicht.

So bereichern wir uns gegenseitig und merken immer wieder, dass jeder Tag ein Geschenk ist, trotz aller Herausforderungen. Und dass es gut ist, glauben zu können, was die Bibel in Psalm 31 aufbewahrt. Da betet ein Menschen: "Ich aber Gott, hoffe auf dich und spreche: du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen. Lass leuchten dein Angesicht über mir, hilf mir durch deine Güte."

Liebes Jahr 2017, mit diesem Gedanken kann ich deinen letzten Tag noch einmal bewusst erleben. Und ich bin neugierig auf das, was kommt. Danke 2017, dass du mir 364 geschenkt hast und diesen einen letzten Tag. Heute in den Silvestergottesdiensten werden viele Menschen wieder Worte von Dietrich Bonhoeffer singen und ich freue mich darauf, mit einstimmen zu können: Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Musik: Von guten Mächten treu und still umgeben (Jay Alexander)

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