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Vom Opfer zum Täter

Vom Opfer zum Täter

Patricia Nell
Ein Beitrag von Patricia Nell, Katholische Pastoralreferentin und Religionslehrerin, Frankfurt
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Es macht mir noch immer zu schaffen, was da vor drei Monaten in Nordhessen passiert ist: Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke wird auf seiner Terrasse erschossen. Weil er sich für Geflüchtete eingesetzt hat. Der Täter ist seit seiner Jugend im rechtsextremen Milieu verwurzelt. In einem einzigen Augenblick hat er das Leben von Walter Lübcke ausgelöscht. Und das seiner Familie zerstört. Und auch sein eigenes. –

Warum um alles in der Welt wird einer zum Neonazi? Diese Frage beschäftigt mich zunehmend. Auch weil mir als Religionslehrerin an einer Berufsschule immer wieder fremdenfeindliche Gesinnungen begegnen. Und dabei ist mir klar: Viele Faktoren spielen da eine Rolle. Ein Aspekt aber fällt mir dabei immer wieder auf. Und ich denke, der kommt in vielen Überlegungen und Debatten zu kurz. Auch bei dem Mann, der Walter Lübcke auf dem Gewissen hat. Der Täter hatte nämlich keine unbeschwerte Kindheit. Stattdessen war er großen seelischen Belastungen ausgesetzt. Vor allem durch seinen Vater. Der war auch schon gewalttätig. Gegen die Mutter. Der kleine Junge bekommt das alles mit und lebt ständig mit einer riesen Angst vor dem Vater. Irgendwann ist die so groß, dass er sich einfach ein Messer unters Kopfkissen legt. Um nachts schlafen zu können. – Ein völlig erschöpftes Kind greift zur Waffe. Weil es sich anders nicht zu helfen weiß. Weil es sie irgendwann vielleicht selbst benutzen wird. Diese Geschichte ist leider kein Einzelfall. Seit dem furchtbaren Geschehen auf dem Frankfurter Hauptbahnhof wächst die Angst immer mehr. Was geht denn im Kopf eines Menschen vor, der es fertig bringt, ein 8-jähriges Kind ins Gleisbett zu stoßen? Kein Mensch weiß das!

Viele, die Gewalttaten begehen, haben leider ähnliche Schicksale. Es fehlt ihnen das, was für eine gesunde seelische Entwicklung absolut notwendig ist: Es fehlt ihnen das Gefühl von Sicherheit. Und die erfahren Kinder nur durch die Geborgenheit eines intakten sozialen Umfeldes. Durch Bezugspersonen, die ihnen von klein auf vermitteln: Die Welt, in der du lebst, ist gut. Und schön. Und sicher. Den Menschen, die dich umgeben, kannst du vertrauen. Kinder, die dagegen in unentwegter Angst aufwachsen, fühlen sich vielleicht ihr ganzes Leben lang bedroht. Und: Sie können so selbst zur Bedrohung ihrer Umwelt werden. Anders kann ich es mir nicht erklären. -

Walter Lübcke hat sich genau dafür eingesetzt, dass bedrohte Menschen wieder ruhig schlafen können. Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen. Und Gott sei Dank tragen so viele diesen Einsatz mit. Auch wir können etwas tun: Mit dafür Sorge tragen, dass traumatisierte Menschen Unterstützung bekommen und belastete Kinderseelen Hilfe. Damit sie eine Welt erleben, die vertrauenswürdig ist und Geborgenheit gibt. Nur so können sie sich zu Menschen entwickeln, die sich nicht dauernd bedroht fühlen, sondern sich stattdessen für die Schwachen stark machen. So wie Walter Lübcke, der sich mit seinem Leben genau dafür eingesetzt hat.

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