Sommernachklang auf dem Balkon
Viele Tage fließen an Gerlinde einfach vorbei. Doch ich glaube, dieser Sommertag war auch für sie besonders. Wir saßen gemeinsam auf dem Balkon. Da verbringt sie die Zeit besonders gerne.
Gerlinde hat Alzheimer. Mittlerweile im fortgeschrittenen Stadium. Am Anfang wirkte sie einfach etwas schusselig. Sie wusste nicht mehr den Namen der Nachbarin, die gerade eingezogen war. Bald vergaß sie jedoch, dass ihre eigenen Eltern bereits vor vielen Jahren verstorben waren. Heute kann sich Gerlinde nur noch an ihren Mann und ihren Sohn erinnern. Alle anderen Menschen sind ihr fremd geworden.
An diesem Spätsommertag aber freut sie sich über die Sonne auf dem Balkon und genießt den Gesang der Vögel. Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen.
Ich sitze ihr gegenüber und denke an das Lied von Paul Gerhardt. „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“. Ich sage die Worte laut. Ohne die Augen zu öffnen, spricht sie weiter: „…in dieser lieben Sommerzeit an deines Gottes Gaben. Schau an der schönen Gärten Zier und siehe, wie sie mir und dir sich ausgeschmücket haben.“
Gerlinde öffnet die Augen und lächelt mich an. In diesem Moment ist sie mir ganz nah. Ich fasse ihre Hand. Gerlinde erzählt mir, wie sie dieses Lied damals in der Schule gesungen haben. Für einen Moment versinkt sie in der Welt ihrer Jugend.
Bei einer Demenzerkrankung gleicht das Gedächtnis einer Festplatte, erklärte mir einmal ein Neurologe. Eine Schicht nach der nächsten wird gelöscht. Die jüngsten Erinnerungen gehen schnell verloren, die älteren bleiben noch eine ganze Weile erhalten.
„Geh aus, mein Herz, und suche Freud“. Das Lied von Paul Gerhardt gehört für Gerlinde zu diesen frühen Erinnerungen, die sich tief eingegraben haben. Ebenso wie die Worte des Vaterunsers oder einiger Tischgebete. All diese Lieder und Gebete sind wie ein Schatz, den sich Gerlinde bis heute bewahrt hat.
Ich glaube: Es lohnt sich, auf die Suche nach solchen Schätzen zu gehen. Schätze, die von einem tiefen Vertrauen auf Gott zeugen. Wer sich mit solchen Geschichten, Gebeten und Liedern umgibt, der kann Tröstliches sammeln für eine Zeit, in der er sie vielleicht dringend brauchen wird.
