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Mehr Zeit
Hans Braxmeier/Pixabay

Mehr Zeit

Anne-Katrin Helms
Ein Beitrag von Anne-Katrin Helms, Evangelische Pfarrerin, Erlösergemeinde Frankfurt-Oberrad
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Mir ist neulich etwas wirklich Blödes passiert. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs in die Stadt und wollte mich mit Freunden zum Kaffee treffen. Ich schloss mein Fahrrad mit einem Kettenschloss an einer Stange fest und ging in das Café. Nach ungefähr einer Stunde kam ich zurück zu meinem Fahrrad und sah schon: da hängt ein Zettel an meinem Lenker: „Wenn Sie zurückkommen, rufen Sie mich bitte an. Sie haben mein Fahrrad mit abgeschlossen.“ Dann folgte die Nummer.

Wie kann man nur so schusselig sein! Ich hatte mein Fahrrad an dem Fahrradständer festgeschlossen und dabei unabsichtlich das Fahrrad daneben noch mit angekettet.

Bevor ich bei der angegebenen Nummer anrief, dachte ich darüber nach, was ich sagen könnte. So was wie: Bitte entschuldigen Sie. Wie kann ich das wieder gut machen? Oder: Darf ich Ihnen Geld geben für die gestohlene Zeit? Oder: Es tut mir so leid. Jetzt habe ich bestimmt Ihren Zeitplan für heute Nachmittag durcheinander gebracht!

Ich wappnete mich innerlich, dass gleich jemand seinen Ärger über mich ausschütten würde. Ein Mann meldete sich, als ich durchklingeln ließ. Zaghaft sagte ich, dass ich diejenige bin, die sein Fahrrad aus Versehen mit abgeschlossen hat. Ich wollte gerade ansetzen und mich entschuldigen, da lachte der Mann fröhlich und meinte: „Sie werden es nicht glauben – Sie haben mir richtig Zeit geschenkt! Endlich konnte ich in Ruhe für meine Frau ein gutes Parfum aussuchen.“

Ich war platt. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich dachte, der ist jetzt sauer. Der wird schimpfen. Und sich beklagen, wieviel Zeit er meinetwegen verloren hat. Und nun das: Sie haben mir Zeit geschenkt!

Gerne hätte ich ihm noch gesagt, wie ich das bewundere, wenn jemand die Gunst der Stunde nutzt. Wenn ich den Augenblick sehe und genießen kann, statt die Zeit nur in messbare Einheiten von Minuten, Tagen und Wochen einzuteilen.

In der Sprache der Bibel gibt es zwei Wörter für unser deutsches Wort „Zeit“. Chronos und Kairos. Chronos – das ist die messbare Zeit. Die Zeit, die mir so oft fehlt und die mich in Hektik und Stress bringt. Dann sage ich: Ich habe keine Zeit. Obwohl das ja nicht stimmt. Ich habe Zeit: jeden Tag 24 Stunden. Aber ich habe sie oft verplant, eingeteilt und bewertet. Und deshalb fehlt sie mir so oft.

Kairos – das ist der gelebte Augenblick, der Moment. Die Zeit, in der ich mich nicht ärgere, obwohl es dafür Gründe gäbe. Kairos – das ist die wundervolle Zeit, die Gott mir schenkt. Sie kommt meistens dann, wenn ich gar nicht damit rechne. Jesus sagt dazu: Die Zeit ist erfüllt. (Mk 1,15) Sie ist da. Du musst sie nur ergreifen.

Der Mann, dem ich mit meinem Fahrradschloss Zeit „geschenkt“ habe, hat das gemacht: er hat den Kairos ergriffen, um seiner Frau eine Freude zu machen.

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