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Lieblingsplatz
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Lieblingsplatz

Norbert Mecke
Ein Beitrag von Norbert Mecke, Dekan, Evangelischer Kirchenkreis Melsungen
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„Neuer Lieblingsplatz!“ steht in roten Großbuchstaben auf der pappkarton-braunen Karte. Darunter sind Koordinaten abgedruckt. Mehr nicht. Auf der Rückseite die Briefmarke und ein Name.
Also: Handy raus und die Daten eingegeben. Es öffnet sich eine Karte. Nach wenigen Augenblicken schießt ein kleiner Markierungspunkt ins Bild. Er bleibt in der Mitte eines Dorfes stehen. Ich ziehe die Karte größer, erkenne Straße und Hausnummer.
Das ist also nach ihrem Umzug der neue Lieblingsplatz von Carolin – samt ihrer jungen Familie. Klasse, wenn jemand so einen Platz gefunden hat! Ich war noch nicht da. Aber diese Nachricht weckt die Fantasie: Gemütliches Wohnzimmer, eine Decke und Kissen zum Entspannen auf der Couch. An den Wänden Bilder, die dem neuen Zuhause schon auf den ersten Blick eine persönliche Note verleihen. Auf der Terrasse zwei Stühle – auf die Sonne ausgerichtet. Schön!
„Lieblingsplatz“. Wer das von seinem Zuhause sagen kann, hat es gut. Thomas hatte den unter der Brücke. Er hat ihn auch so genannt. Wohnungslos – aber die geschützte Ecke am Radweg war eben gefühlt unstrittig sein Platz. Naja. Dass er den „Lieblingsplatz“ nannte, war schon ziemlich beschönigend. Für ihn bezahlbare mögliche Lieblingsplätze mit Straße und Hausnummer: Fehlanzeige. Nicht in unserer Region. Nicht in der Quadratmeterzahl, die ihm zustand. Und dann die Erfahrung, dass andere „so einen wie ihn“ nicht in ihrem Haus haben wollen. Verdirbt ihnen ihren Lieblingsplatz.
Die Koordinaten unserer Lebenseinstellung sagen: Da muss doch eigentlich ein Platz für jeden sein! Aber wenn man näher ran-zoomt und es konkret wird: Gar nicht leicht. Die Wohnungsnotfallhilfen haben viel zu tun. Zu viel.
Inzwischen ist die Matratze unter der Brücke weg. Umzug. Thomas ist gestorben. Uralt werden die wenigsten Obdachlosen. Ich vertraue: Er hat jetzt himmlische Koordinaten. Da ist Raum. Voller Lieblingsplätze, so sagt es die Wohnraumgarantie, die Jesus Christus gibt.
Ich freue mich, dass ich selbst schon hier meinen Platz gefunden habe. So wie sicherlich die meisten. Selbstverständlich ist das nicht. Manchmal muss man dafür Kompromisse machen. Ist nicht immer alles „lieblingsmäßig“.
Aber alles ist mäßig, solange mancher gar nichts hat. Das darf aus unserem gesellschaftlichen Koordinatensystem nicht rausfallen!

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