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Bildung ist der Schlüssel
Bild: medio.tv/Dellit

Bildung ist der Schlüssel

Johannes Meier
Ein Beitrag von Johannes Meier, Evangelischer Pfarrer und Journalist, Kassel
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60 Jahre Ausbildungshilfe

Das erste Taschengeld. Endlich. 1,50 Mark pro Woche. Was ich mir davon alles anschaffen könnte! Ich glaube es waren dann Süßigkeiten. Ganz klassisch. Wahrscheinlich 30 Pfennige für Saure Pommes und 20 Pfennige für einen Schokokuss aus der Glastheke vom Bäcker, der so praktisch wie verlockend am Schulweg lag. Und die übrige Mark wanderte tatsächlich ins Sparschwein! Für größere, fast unerreichbare Kinderträume: Ein ferngesteuertes Auto, DAS wärs! – Ein paar Jahre später, als längst andere Taschengeldbeträge hartnäckig ausgehandelt worden waren und dazu noch der ersehnte Geldsegen der Konfirmation kam, kaufte ich mir die erste eigene Stereoanlage. Jahrelang wurde das edle Teil in Ehren gehalten, sogar diverse Studentenumzüge hat es schadlos überstanden. – Bis dann (abgesehen von irgendwelchen Nebenjobs) das erste eigene Gehalt auf meinem Konto landen sollte, gingen weitere Jahre ins Land. Wissen Sie noch, was Sie sich von ihrem ersten Arbeitslohn geleistet haben?

Bestimmt hat auch Allwin große kleine Träume gehabt, die er sich mit dem ersten selbstverdienten Geld nur allzu gern erfüllt hätte. Der Weg bis hierher war steinig genug gewesen: Mit seinen Eltern ist Allwin als Kind aus Indien nach Nordhessen gezogen, ein ziemlicher Kulturschock. In der Schule hat er es weiß Gott nicht immer leicht, allein schon die Sprache! Doch irgendwie kann er sich durchbeißen und schließlich sogar einen Ausbildungsplatz zum Industrie-Elektroniker ergattern. Auch die Lehrjahre sind dann zwar keine Herrenjahre, aber immerhin solche Sprichwörter kann Allwin inzwischen verstehen. Dass auf die Ausbildung dann tatsächlich eine Festanstellung in einem großen Industriebetrieb folgen soll, erscheint ihm fast wie ein Wunder: Der Junge aus Indien hat es tatsächlich geschafft!

Nach nicht einmal vier Wochen sieht er es dann fast ungläubig auf seinem Kontoauszug schwarz auf weiß: Das erste eigene Gehalt! Jetzt könnte er sich endlich einen lang gehegten Traum erfüllen! – Und genau das tut Allwin dann auch. Den Entschluss dazu hat er schon länger gefasst: Sein erstes selbst verdientes Geld will er spenden. Und zwar komplett. Er überweist es an die "Ausbildungshilfe – Christian Education Fund". Ein kleines Hilfswerk innerhalb der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Und das, obwohl Allwin selbst keinen Cent von dieser gemeinnützigen Organisation je erhalten hat. Der junge Mann aber blickt eine Generation weiter zurück:

Seine Eltern stammen aus ärmlichen Verhältnissen in Karnataka in Indien und wuchsen dort als Heimkinder auf. Durch die "Kindernothilfe" und den Verein "Kirche in Solidarität" wurde ihnen die Schulbildung ermöglicht, danach erhielten sie von der Ausbildungshilfe der kurhessischen Kirche Stipendien für ein Theologie- bzw. Lehramtsstudium. Als Pfarrer und Lehrerin gelangten Allwins Eltern schließlich durch ein kirchliches Partnerprogramm bis nach Nordhessen, wo sie für ein paar Jahre selbst Kinder und Jugendliche unterrichteten und ihr Sohn Allwin es bis zum Industrie-Elektroniker bringen sollte. "Ich wollte einfach etwas zurückgeben", sagt der jetzt und lächelt in die Fotokamera der Lokalzeitungsreporterin. Denn das ist natürlich eine Story wert.

"Junger Inder spendet sein komplettes erstes Gehalt." – So oder so ähnlich mag die Schlagzeile über Allwin in der Lokalzeitung gelautet haben. – Ich selbst bin als Berufsanfänger nicht auf solch einen edlen Gedanken gekommen. Wofür ich damals mein erstes Pfarrer-Gehalt ausgegeben habe? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr. Allwin aber wird sich sein Leben lang daran erinnern können. Mich und viele andere hat seine Geschichte nachhaltig beeindruckt.

Vielleicht wäre sie heute im großen Festgottesdienst zum 60jährigen Bestehen der Ausbildungshilfe noch einmal zur Sprache gekommen. Bestimmt hätten es sich Allwin und seine Eltern nicht nehmen lassen, selbst in der Pfarrkirche in Marburg mitzufeiern.

Doch das Jubiläumsfest muss wegen Corona leider ausfallen. So haben wir es im Vereinsvorstand der Ausbildungshilfe schon vor Monaten entschieden, Großveranstaltungen waren damals undenkbar und außerdem hätten zum Jubiläum einige Partner unserer Hilfsorganisation aus Indien und Afrika anreisen sollen. Das ging und geht ja noch immer nicht. Schade. So erinnert mich heute morgen nur der alte Eintrag in meinem Terminkalender daran, was wir an diesem Sonntag eigentlich hätten feiern wollen.

60 Jahre Ausbildungshilfe! Das sind die Geschichten von zig-tausenden begabten, jungen Menschen aus armen Verhältnissen in Afrika, Asien und Lateinamerika, die die Chance erhielten, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und so zur Gestaltung ihrer Gesellschaften beizutragen.

60 Jahre Ausbildungshilfe - das ist zum Beispiel die Geschichte von Edward aus Südafrika, dem trotz gutem Schulabschluss das Geld für eine Ausbildung fehlte, der nur Dank eines Stipendiums eine Lehre als Zimmermann machen konnte und heute selbst junge Handwerker in einem Trainingszentrum aus- und fortbildet.

Das ist genauso die Geschichte von Tabita aus Indonesien, deren Vater früh verstarb und für die ein Studium finanziell unerreichbar schien, die inzwischen aber ihre Bachelorprüfung als Deutschlehrerin bestanden hat. Und das ist eben auch die Geschichte vom großzügigen Industrie-Mechaniker Allwin und seinen Eltern aus Indien.

Jahr für Jahr kommen weitere solcher Erfolgsgeschichten hinzu: Dank der Ausbildungshilfe können jährlich etwa 2.500 junge Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika ihren Schulabschluss, ihre Berufsausbildung oder ihr Hochschulstudium absolvieren. Und was mich besonders freut: Sie erfahren durch diese Unterstützung zugleich, wie eine weltweit vernetzte Kirche eine tragende Gemeinschaft sein kann.

"Junger Inder spendet sein komplettes erstes Gehalt." – Diese erstaunliche Tat von Allwin, dem frisch gebackenen Industrie-Mechaniker aus Nordhessen, berührt vor allem deshalb, weil sie tiefe, ehrliche Dankbarkeit ausdrückt.

"Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin." (Psalm 139,14) heißt es in einem alten Gebet in der Bibel. Wunderbar gemacht, geschaffen als Ebenbild Gottes – das sind wir alle. Beschenkt mit vielfältigen Gaben und Begabungen, um uns daran zu freuen und sie einzubringen zum Wohle des Ganzen. Doch Kinder, die in armen Familien aufwachsen, haben oft nicht die Möglichkeit, ihre Gaben zu entdecken und zu entfalten. Das ist überall auf der Welt so, auch bei uns, das gilt in besonderem Maße aber in den armen Ländern unserer Erde.

Dass Allwins Eltern eine Schule besuchen und einen guten Beruf erlernen konnten, das war und ist in Indien nicht selbstverständlich. "Ich wollte einfach etwas zurückgeben", sagt nun in zweiter Generation der Sohn, dem die Eltern Dank ihrer eigenen Bildungschance schließlich selbst eine solche ermöglichen konnten.

"Education ist the key!" – "Bildung ist der Schlüssel!"

So lautet das Motto der Ausbildungshilfe, dem kleinen Hilfswerk unserer Landeskirche, das Allwin mit seiner außergewöhnlichen Spende so großzügig bedacht hat. Das Recht auf Bildung ist ein international anerkanntes, grundlegendes Menschenrecht. Und wenn es gebrochen oder nicht erfüllt wird, dann darf uns das nicht egal sein, denn es betrifft uns alle. Wie anders würde unsere Welt wohl aussehen, wenn Jungen und Mädchen wirklich überall zur Schule gehen und ihre Fähigkeiten ausbilden und einsetzen können?!

Ich selbst habe es ehrlich gesagt nie als Geschenk oder Privileg begriffen, dass ich zur Schule gehen konnte, zum Sport, in die Theater-AG. Aufs bestandene Abi oder den Studienabschluss war man sicher ein wenig stolz – aber echte Dankbarkeit...? Die empfinde ich wohl erst jetzt, wenn ich all die Geschichten junger Menschen bedenke, die mir durch die Ausbildungshilfe begegnet sind. Und wenn ich mir dann Zeit nehme, auf meinen eigenen Werdegang zurückzuschauen: "Ja, guter Gott, ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin. Und dass ich die Möglichkeit hatte, genau das zu entdecken und zu entfalten." – Wie ist das bei Ihnen? Welchen Menschen, welchen Möglichkeiten und Weichenstellungen haben Sie sich und das, was Sie heute sind, zu ver-danken? Es lohnt sich, darüber nachzudenken.

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