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Augenblick mal - Ich sehe dich!
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Augenblick mal - Ich sehe dich!

Dr. Ursula Schoen
Ein Beitrag von Dr. Ursula Schoen, Prodekanin, Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt

Der Frankfurter Bahnhof: Täglich sind hier fast eine halbe Million Reisende unterwegs. Hektik von morgens früh bis nach Mitternacht. Die Bahnhofsmission an Gleis 1 ist da ein kleiner Ruhepol. Hierher kommen Menschen, die praktische Unterstützung bei ihrer Reise brauchen. Eine Frau im Rollstuhl braucht jemanden, der ihr beim Einsteigen in den Zug hilft. Ein Mann ist unsicher und fragt, wie er sich in der Großstadt zurechtfindet. Zur Bahnhofsmission gehen aber auch Menschen, die nicht mehr mit ihrem Leben zu Rande kommen, die einfach nicht mehr weiterwissen.

Die Mitarbeitenden der Bahnhofsmission brauchen ein feines Gespür. Sie müssen schnell herauszufinden, was ihr Gegenüber in diesem Moment wirklich von ihnen will. Was sie ihm geben können und was nicht: Braucht die junge Frau wirklich nur eine Tasse Tee zum Aufwärmen, der müde wirkende Mann nur einen Menschen, der ihm mal zuhört, oder liegen dahinter viel größere Probleme.

Carsten Baumann ist der Leiter der Bahnhofsmission. Er ist Diakon, das heißt, er ist ein Sozialarbeiter mit einer besonderen christlichen Motivation. Für ihn ist jede Begegnung eine ganz eigene Herausforderung. Er sagt zu seiner Arbeit: „Ich erlebe von einem Menschen nur einen ganz kurzen Ausschnitt aus seinem Leben. Ich kenne seine Lebensgeschichte nicht. Ich weiß nicht, wie es für ihn nachher weiter geht. Nur diese kurze Momentaufnahme zählt.“ Carsten Baumann beschreibt weiter: „Ich will nicht immer sofort die Schublade aufmachen und sagen: Ah, das ist ein Drogenabhängiger oder ein Alkoholiker oder die hat eine schwere seelische Störung, sondern ich will den anderen sehen, wie er ist.“

Für Carsten Baumann ist es wichtig, offen und vorurteilsfrei zu bleiben. Die Situation kennen viele: Da kommt jemand auf mich zu, von dem ich nicht, weiß, was er von mir will. Ich gehe vorsichtshalber in die Abwehr oder weiche aus Angst aus. Carsten Baumann von der Bahnhofsmission hilft es in solchen Momenten, innerlich einen Schritt zurückzutreten. Erstmal Ruhe herstellen und nicht sofort reagieren. Das gibt ihm den Raum, sein Gegenüber besser in den Blick zu bekommen.

Er erzählt: „Neulich habe ich einen jungen Mann mit ins Beratungszimmer genommen. Er wirkt offen und nett. Plötzlich beugt der sich zu mir rüber und sagt: Ich weiß, Sie arbeiten mit der Polizei zusammen. Sie haben ein Aufnahmegerät unter der Jacke. Ok, dachte ich, das klingt krank. Und plötzlich kam: Ich stech‘ Sie jetzt nieder!. – Sprech-Pause – Da habe ich erst mal Luft geholt. Dann habe ich ganz ruhig zu ihm gesagt: Das machen Sie jetzt nicht. Darüber reden wir später! Irgendwann ist der Mann wieder gegangen.“

Mich beeindruckt diese Haltung. Was Carsten Baumann beschreibt, lässt sich auch auf andere Lebensbereiche übertragen. Nicht immer sofort reagieren, sondern innerlich erst einmal einen Schritt zurücktreten. Und dann in den Blick bekommen, worum es hier geht. Kann ich für den anderen etwas tun? Oder sage ich ihm ruhig: Das machen Sie jetzt nicht.

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