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Alles muss raus!
GettyImages/ArtMarie

Alles muss raus!

Johannes Meier
Ein Beitrag von Johannes Meier, Evangelischer Pfarrer und Journalist, Kassel
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ALLES MUSS RAUS! – Dieser Spruch klebt in knallroten Großbuchstaben auf einem Schaufenster in der Fußgängerzone. Alles muss raus! Vielleicht ein verspäteter Winterschlussverkauf? Oder womöglich eine Corona bedingte Geschäftsaufgabe? Ich weiß es nicht. Denn bei meinem letzten Spaziergang durch die Innenstadt von Kassel galt sowieso noch die Regel: „Kunden müssen draußen bleiben.“

Alle müssen raus - an die frische Luft

Im Grunde genommen ist dieses „Alles muss raus“ ja schon seit über einem Jahr das Pandemie-Motto. Im Sinne von: Alle müssen raus! An die frische Luft nämlich, da ist es am sichersten, haben wir gelernt, da haben die Aerosole keine Chance. Und jetzt Ende Mai macht das ja endlich auch wieder Spaß. „Geh raus, mein Herz, und suche Freud...“ Raus an die Frühsommerluft und ins frische Grün!

Alles muss raus! Noch nie habe ich so viele Spaziergänger und Jogger gesehen wie in den vergangenen 14 Pandemie-Monaten. Inzwischen kenne ich auch selbst wirklich jeden einzelnen Park der Stadt. Ich geh ja ständig raus. Wohin auch sonst? 10.000 Schritte soll der Mensch pro Tag tun, kein Problem!

"Dabei würde ich so gern auch mal wieder irgendwo rein gehen!"

Dabei würde ich so gern auch mal wieder irgendwo rein gehen! Und freue mich da, wo es wieder geht. Ja genau! Rein ins Kino, rein ins Theater, rein ins Restaurant oder rein in die Kneipe! Und ich hoffe: Jetzt dauert es nicht mehr lange, dann wird das auch wieder möglich sein. Darauf freue ich mich schon sehr!

Gottesdienst wieder analog und dreidimensional

Nachher werde ich immerhin mal wieder so richtig rein in die Kirche gehen. Bei uns werden jetzt nämlich endlich wieder ganz normale Gottesdienste gefeiert, also nicht digital gestreamt oder gezoomt auf dem Bildschirm, sondern analog und dreidimensional: Mit der harten Kirchenbank unter dem Hintern, dem weiten Gewölbe über dem Kopf und echtem Orgelbrausen in den Ohren. Wunderbar!

Durch Corona zum You Tube-Star

Obwohl: Gerade was meine Kirche anbelangt, da hatte dieses Motto „Alles muss raus!“ durchaus sein Gutes, finde ich. Es hat nämlich ganz viel Erfindungsgeist und Kreativität frei gesetzt. Als die Gottesdienste wegen Corona plötzlich raus aus den Kirchen mussten, ist notgedrungen unglaublich viel Neues entstanden. Auf einmal hingen da Wäscheleinen mit kleinen Andachten „to go“ vor der Kirche, und manch ein Pfarrer, manche Pfarrerin wurde sogar zum YouTube-Star.

.... wenn der Pfarrer raus zu den Leuten kommt

Ein Kollege düste für Gottesdienste an Hecken und Zäune mit wehendem Talar auf seinem roten Roller von Dorf zu Dorf und schließlich sogar durch die Tagesschau. Weil es wohl eine tolle Nachricht ist, wenn der Pfarrer mal raus zu den Leuten kommt und nicht umgekehrt darauf wartet, dass sich drinnen in der Kirche die Bankreihen füllen. Für mich hat die Kirche durch dieses „Alles muss raus!“ eigentlich erst so richtig zu sich selbst gefunden.

MUSIK

Der schönste Sommerhit aller Zeiten geschrieben in einer dunklen Zeit

„Geh raus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit an deines Gottes Gaben.“ Das ist ein Kirchenlied von Paul Gerhardt – und natürlich ohne „r“, schon klar, also: „Geh aus, mein Herz...“ muss es eigentlich heißen. Für mich einer der schönsten Sommerhits aller Zeiten. Geschrieben wurden diese hellen Verse in ziemlich finsteren Krisenzeiten, vor ungefähr 350 Jahren, kurz nach dem 30-jährigen Krieg.

"Der christliche Glaube ist nichts für Stubenhocker"

Paul Gerhardt erlebt Hungersnot und ein Massensterben an der Pest, von dem auch seine eigene Familie nicht verschont bleibt. Unsere aktuelle Corona-Krise gibt mir eine Ahnung davon, was andere vor uns aushalten mussten. Trotzdem oder gerade deswegen schreibt Paul Gerhardt einen überschwänglichen Lobgesang auf die Natur, das Leben und die schönen Gaben Gottes. Alles muss raus! Raus in die Gärten, raus in die Wälder, raus an die Luft! Schon Paul Gerhardt war ganz offensichtlich der Meinung: Der christliche Glaube ist nichts für Stubenhocker.

"Alles muss raus"-Geschichten in der Bibel

Und da ist was dran. Denn dieses „Alles muss raus“ – das könnte eigentlich auch als Überschrift über den wichtigsten Glaubensgeschichten aus der Bibel stehen. Schon ganz vorne, gleich nach der Schöpfungserzählung geht’s damit los: Adam und Eva müssen raus aus dem Paradies und mitten hinein ins pralle Leben, mit allem Schönen und Hässlichen, mit allen Krisen und Wundern.

Einige Seiten später folgt dann die große Befreiungsgeschichte der Bibel: Das Volk Gottes zieht raus aus Ägypten, durchs Schilfmeer in die Unabhängigkeit, fort von der Sklaverei. Alle dürfen raus! Immer wieder geht es genau darum in den Erzählungen von Gott und den Menschen.

Der Psalm 23 in der Bibel, den viele kennen, findet draußen statt: „Der Herr ist mein Hirte… und ob ich schon wanderte im finstern Tal…“ Der verängstigte Wanderer findet irgendwann raus aus dem finsteren Tal, weil das Vertrauen auf Gott ihn wie ein Stecken oder Wanderstab stützt und ermutigt. Der Prophet Daniel kommt Dank seines Gottvertrauens sogar raus aus der sprichwörtlichen Löwengrube. Jona gelangt raus aus dem Walfischbauch. Und Jesus geht raus aus seiner Heimatstadt Nazareth, um als Wanderprediger immer mehr Menschen zu erreichen.

"Raus mit allem, was ich zu geben habe!"

Alles muss, alles darf, alles kann raus! Das kann man doppelt verstehen: Raus in die Welt! Und: Raus mit allem, was ich zu geben habe! Das ist gar keine schlechte Zusammenfassung von Jesu Kernbotschaft: Seid freigiebig mit Liebe und Vertrauen zu euch selbst und zu anderen, weil ihr geliebte Menschenkinder Gottes seid!

MUSIK

Alles muss raus! – Ein Spruch mit mehreren Seiten

Alles muss raus! – Dieser Spruch hat mehrere Seiten. Er ist ein Werbeversprechen für Schnäppchen. Das ist eine Seite. Als Motto in Pandemie-Zeiten fordert er dazu auf: Trefft euch möglichst nicht in geschlossenen Räumen! Geht raus an die frische Luft!  Eine andere Seite.

Da gehorcht das „Alles muss raus“ der Not. Es ist keine Freiheit, sondern muss sein, um Ansteckung zu vermeiden. Aber ich verstehe „Alles muss raus!“ heute Morgen einfach mal als Zuspruch: Hab Mut und verlass deine Komfortzone! Geh raus und probier Neues aus!

Aus dem, was gerade möglich ist, das Beste machen

Das haben ja viele auch in den vergangenen Monaten gemacht und sich Neues einfallen lassen. Sie haben aus dem, was gerade möglich ist, das Beste gemacht. Ein findiger Lehrer nutzt die Konzertmuschel im Kasseler Bergpark Wilhelmshöhe als Open-Air-Klassenzimmer und schickt seine Schüler_innen auf Erkundungstouren durch die Natur. Ein Yoga-Club bietet Sport zum Mitmachen auf der grünen Wiese. Kunstwerke wandern aus dem Museum nach draußen und bald starten sicher wieder all die Freiluft- und Auto-Kinos.

Raus mit allen guten Einfällen und Ideen

So vieles muss, soll und darf sich ändern in unserer Gesellschaft und in der Art und Weise, wie wir unser Miteinander und diese Welt gestalten wollen. Also raus mit allen guten Einfällen und Ideen! Freigiebig sein, offen sein, runter von der einsamen Netflix-Couch und raus aus dem My-Home-is-my-Castle.

Raus mit dem Sperrmüll

Alles muss raus! Das erinnert mich auch an den Sperrmüll, den ich für die kommende Woche bestellt habe. Aufräumen und entrümpeln. Das hat auch was von: Hier ist kein Platz mehr für schlechte Energie und falsche Freunde. Toxische Beziehungen beenden. Freiräume schaffen.

Nach Corona - alles wieder wie vorher?

Wofür werde ich die Freiräume nutzen? Was habe ich vor, wenn die Corona-Einschränkungen mehr und mehr fallen? Soll alles einfach nur wie vorher werden – oder will ich, wollen wir manches anders machen? Was ist mir eigentlich wichtig? Was hat mich auf der langen Talwanderung der letzten Monate wirklich gestützt – und was war bloß falsche Ablenkung und ängstliches Pfeifen im Walde?

Alles muss raus - eine Richtungsansage

Alles muss raus! Das nehme ich als Richtungsansage für mich. Ein Blick nach vorn. Mich öffnen und rauslassen, was ich einbringen kann. Raus und aufstehen. Aufeinander zugehen. Voneinander lernen, miteinander umzugehen. Und sich bald wieder umarmen dürfen.

Alles muss raus, weil uns soviel geschenkt ist. Paul Gerhardt, der Dichter des Sommer-Evergreens „Geh aus, mein Herz“,  hat das so geschrieben:

„Ich selber kann und mag nicht ruhn,
des großen Gottes großes Tun
erweckt mir alle Sinnen;
ich singe mit, wenn alles singt,
und lasse, was dem Höchsten klingt,
aus meinem Herzen rinnen.“

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