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Vom Warten
Bild: Linus Schuetz/Pixabay

Vom Warten

Anke Haendler-Kläsener
Ein Beitrag von Anke Haendler-Kläsener, Evangelische Krankenhauspfarrerin, Flieden
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Warten ist nicht immer schön. Warten kann zermürben. So ging es mir Anfang November:

Ich stelle mir den Wecker, um ganz früh aufzustehen. Den Ausgang der Präsidentschaftswahlen in Amerika möchte ich so zeitig wie möglich erfahren. Ich war selbst einmal als junges Mädchen ein Jahr lang Austauschschülerin in den Vereinigten Staaten. Seitdem bin ich innerlich stark verbunden mit diesem Land. Meine Gastfamilie von damals ist noch heute wirklich Familie für mich. Ich habe in ihrer Baptistengemeinde den christlichen Glauben ganz persönlich kennen- und lieben gelernt.

Neben dem Altar der Kirche stand die amerikanische Flagge: Das hat mich schon damals irritiert. Meine Großmutter in Deutschland hatte während der Zeit des Nationalsozialismus die Deutschen Christen erlebt. Sie hatte mir von der unheilvollen Verquickung von Staat und Religion, von Thron und Altar erzählt. Auch dass viele der Christen in den USA selbstverständlich die Republikaner wählten oder der Pfarrer in der Kirche gegen die Kommunisten predigte – All das war schräg für mich. Aber das Schöne und Neue überwog. 

Diese Selbstverständlichkeit hat sich übrigens in den letzten Jahren gewandelt. Meine amerikanische Familie diskutiert und wägt pro und contra ab. Und tatsächlich haben sich vor vier Jahren und erst recht dieses Jahr viele dafür entschieden, ihre Stimme jemandem anders zu geben.

Ich stelle mir also den Wecker, um ganz früh aufzustehen. Die Zeitverschiebung führt dazu, dass wir hier das Ergebnis der US-Wahlen erst verspätet erfahren. Und ich möchte unbedingt wissen, wie sie ausgegangen sind. Auf wessen Seite meine Sympathien liegen, das unterscheidet sich nicht von den meisten Europäern. Aber um 5 Uhr morgens ist noch nichts klar, sagt der Radiosprecher. Ich muss warten.

Ich lasse das Radio an während des Duschens, während des Frühstücks und während der Fahrt zur Arbeit. Ich warte. Weil ich zuerst eine lange Sitzung habe, beauftrage ich meine Tochter, mir eine Nachricht zu schreiben, sobald sich etwas tut. Aber es tut sich nichts. Warten ist angesagt.

So vergehen die nächsten Stunden, ja sogar die nächsten Tage. Die ganze Welt wartet. Während ich diese Worte spreche, gibt es zwar ein klares Ergebnis. Aber die Ungewissheit geht weiter. Aus dem gespannten Warten ist ein besorgtes geworden: Was, wenn das Wahlergebnis von einer Seite nicht akzeptiert wird? Was wenn es zu Unruhen kommt? Wie lange noch?

Warten kann zermürben.

Musik: J.S. Bach, Präludium es-moll, BWV 853

Warten kann zermürben. Viele kennen das von Besuchen beim Arzt.

"Bitte setzen Sie sich noch einen Moment ins Wartezimmer!" Vielen ist der Satz vertraut. Der ältere Mann öffnet die Tür und setzt sich. Mit genug Abstand zu den anderen Wartenden und einer Maske vor Mund und Nase. Er sitzt und wartet, aufgerufen zu werden. Die letzten Tage haben sich angefühlt wie eine Achterbahnfahrt. Er war krank, musste untersucht werden und soll nun das Ergebnis erfahren. Wartezimmer – da können Minuten zu Stunden werden. Die Zeit dehnt sich aus wie Kaugummi. Der Magen drückt und tut weh. Richtig übel wird ihm. Wenn er sich nur vorstellt, was ihn gleich im Sprechzimmer erwartet. Er sieht sie schon vor sich, die betretenen Gesichter. Der Arzt wird herumdrucksen und nicht die richtigen Worte finden. Oder aber er wird ihm das Ergebnis wie ein Urteil an den Kopf knallen. Vogel, friss und stirb! Ach, vielleicht hätte er mit dem allen gar nicht beginnen sollen. Er hätte sich zuhause ins Bett legen und die Decke über den Kopf ziehen sollen. Dann säße er jetzt nicht hier so ausgeliefert. Es dauert und dauert. Warten bis man schwarz wird. Warten, ohne zu wissen worauf und wie lang - das ist grausam.

Ja, es gibt das sorgenvolle Warten.

Im vergangenen Jahr haben das viele von uns erlebt. Im Frühjahr ist die Corona-Pandemie in aller Härte ausgebrochen. Seitdem hat das sorgenvolle Warten eine ganz neue Dimension bekommen. Das konnten sich vorher die wenigsten so vorstellen. Warten darauf, dass das Kratzen im Hals verschwindet und sich als normale Erkältung entpuppt. Warten darauf, dass ein Test gemacht werden kann. Warten auf das (hoffentlich negative!) Ergebnis. Warten, dass die 14 Tage Quarantäne zu Ende gehen.

Warten darauf, dass endlich wieder Besuch kommen darf ins Seniorenheim und die einsamen Zeiten zu Ende sind: Das ist ein großer Kummer. Besonders für die Älteren unter uns und ihre Angehörigen ist es kaum auszuhalten. Menschen, die am Beginn einer Demenzerkrankung stehen, können gar nicht verstehen, warum das so sein muss. Sie verlieren ihre innerliche Balance und das, was sie stabil macht. Die Tochter kommt zuverlässig immer am Mittwoch zu Besuch. Wo bleibt sie nur? Ist ihr etwas passiert? Hat sie mich vergessen? Warten ohne Sinn und Ziel.

Ich bin sowohl Klinikseelsorgerin als auch Gemeindepfarrerin. Dabei erlebe ich, wie besonders ältere Menschen unter dem fehlenden Besuch leiden. Was ist wichtiger: seelische oder körperliche Gesundheit? Das ist schwer zu entscheiden. Gleichzeitig ist vielen dieses Dilemma bewusst. Sie legen die Regeln kreativ aus und ermöglichen einen Besuch eben doch. Im Sommer standen Sängerinnen und Sänger draußen auf der Wiese. Wildfremde schreiben Briefe. So wird es hoffentlich auch in der dunklen Adventszeit sein.

Musik: Johannes Brahms, O  Heiland, reiß die Himmel auf op. 74/2

Wenn eine Zeit mit Schönem gefüllt ist, dann fällt mir das Warten nicht schwer. Warten auf Weihnachten. Noch 25 Tage. Noch 25-mal aufstehen und ein Türchen im Adventskalender öffnen. 25-mal morgens eine Kerze anzünden und im Kerzenschein ein gutes Wort lesen. Die Pyramide zum Laufen bringen und das Räucherkerzchen duften lassen. Einen Lebkuchen essen und dabei zum ersten Mal im Jahr das Weihnachtsoratorium hören - oder all das tun, was die Adventszeit zu einer besonderen macht. Das kann bei verschiedenen Menschen ja durchaus unterschiedlich sein. Meine vorweihnachtlichen Gefühle sind da eher traditionell: Ich verknüpfe wunderschöne Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend damit. Diese Erinnerungen sind mir auch heute noch wertvoll. Schon als Kind war für mich diese Zeit die allerschönste, und noch heute freue ich mich das ganze Jahr darauf. Noch 25 Tage warten, und dann ist Weihnachten.

Wenn eine Zeit mit Schönem gefüllt ist, dann fällt mir das Warten nicht schwer. Ich ahne: am Ende dieser Zeit erwartet mich etwas. Etwas Schönes, etwas Überwältigendes. Es geht nicht einfach immer so weiter, ohne zu wissen wie lange, sondern da ist ein Ziel in Sicht. Das Warten wird belohnt.

Dann warte ich gern und genieße diesen Zustand sogar. Aber die Warterei kann sich auch lang anfühlen, so dass ich ganz zappelig werde. Eine der schönsten Beschreibungen dieser Wartezeit vor Weihnachten finde ich bei Astrid Lindgren. Sie erzählt von den Kindern aus Bullerbü: Die Vorweihnachtszeit beginnt damit, dass sie leckere Pfefferkuchen backen. Sie fahren in den Wald, um mit den Vätern die Weihnachtsbäume zu schlagen (die Mütter müssen zuhause bleiben und Essen kochen, die armen…). Am Morgen des Heiligen Abends dann schmücken sie zuerst das kleine Bäumchen des blinden Großvaters und erzählen ihm genau, was alles daran hängt. Sie tragen einen großen Korb mit festlichen Gaben zu Kristin ins Waldhaus, ihrer armen Nachbarin und tanzen ein bisschen um ihren Baum. Dann schmücken sie den eigenen Baum. Und dann?

"Danach gab es nichts mehr zu tun, als zu warten. Lasse meint, diese Stunden am Weihnachtsnachmittag, an denen man nur so herumsitzt und wartet und wartet, die sind es, von denen die Menschen grauhaarig werden. Wir warteten und warteten und warteten, und manchmal ging ich an den Spiegel, um zu sehen, ob ich schon graue Haare hatte. Aber wunderlich genug, mein Haar blieb so weizengelb wie vorher. Bosse klopfte ab und zu an die Uhr, weil er glaubte, sie sei stehengeblieben." (Astrid Lindgren, Mehr von uns Kindern aus Bullerbü, S.14) 

Musik: Antonio Vivaldi, Violinkonzert C-Dur R. 190, Largo

Warten voller knisternder Spannung. So haben es die Kinder in Bullerbü erlebt. Heute am 1. Advent beginnt auch für mich das hoffnungsvolle Warten. Das Warten lähmt mich nicht oder macht mir Angst, weil sein Ausgang ungewiss wäre. Nein, ich freue mich sogar aufs Warten. Ich freue mich darauf, diese Zeit zu gestalten und sie Tag für Tag zu etwas Besonderem zu machen. Gerade dieses Jahr, in dem so vieles ausfallen muss: Adventsfeiern, Weihnachtsmärkte. Morgens eine neue Seite im Adventskalender aufschlagen. Geschenke für meine Lieben besorgen und sie hübsch einpacken. Briefe schreiben. Plätzchen backen. Kein Warten um des Wartens willen, sondern um dem Ziel näher zu kommen. Ich will mich dem Ziel Schritt für Schritt annähern. Denn das große Ziel, auf das hin ich warte, ist Weihnachten. Ich kann warten, wenn ich etwas er-warte.

Im christlichen Glauben gibt es eine innere Bewegung, die wir von den Juden übernommen haben. In der Vergangenheit ist etwas passiert, an das wir uns erinnern. Die Erinnerung holt dieses Geschehen aus der Vergangenheit heraus und stellt es mitten in die Gegenwart. So wird es ganz lebendig. Hunderte, ja Tausende von Jahren ist es her und doch ganz nah. 

Gott hat sein Volk aus Ägypten befreit. Jedes Jahr am Pessachfest erinnern sich Juden daran und werden so Teil dieser Geschichte. Sie ziehen selbst durch die Wüste. Sie erwarten die Befreiung für sich ganz persönlich. Sie erwarten sie, und so können sie warten.

Ähnlich ist es im christlichen Glauben. Vor zweitausend Jahren wurde Gottes Sohn Jesus Christus geboren. Jedes Jahr erinnern wir uns daran und holen seine Geburt in die Gegenwart hinein. Sie wird ganz lebendig. Wir gestalten die Adventszeit als eine Wartezeit voller kribbelnder Vorfreude. Und dann am Heiligen Abend spielen wir in Krippenspielen die Geburt nach – nicht als ein sentimentales Ereignis in der Vergangenheit, sondern als etwas, das heute passiert. Wir erwarten Jesu Geburt und können deshalb warten.

Das folgende Lied aus dem Evangelischen Gesangbuch bringt diese innere Haltung zum Ausdruck:

Wir warten dein, o Gottes Sohn,
und lieben dein Erscheinen.
Wir wissen dich auf deinem Thron
und nennen uns die Deinen.
Wer an dich glaubt, erhebt sein Haupt
und siehet dir entgegen;
du kommst uns ja zum Segen.

Wir warten dein, du kommst gewiss,
die Zeit ist bald vergangen;
wir freuen uns schon überdies
mit kindlichem Verlangen.
Was wird geschehn, wenn wir dich sehn,
wenn du uns heim wirst bringen,
wenn wir dir ewig singen?

(EG 152,1+4)

Musik: J.S. Bach, Wir warten dein, o Gottessohn

Warten kann quälend sein - warten kann schön sein und knisternd. Ich kann warten, wenn ich weiß, was mich erwartet. Das Gedicht "Wintertag" beschreibt noch eine andere Seite des Wartens. Der Dichter Manfred Poisel schreibt:

Warten
auf etwas
von dem
nichts mehr ich weiß

Nur
ahnend Bilder
voll
Wärme und Licht

Schneeglöckchen
ungeduldig
im schmutzigen
Schnee
Wie lange noch?

(Manfred Poisel, Wintertag)

Manchmal wird die Zeit des Wartens lang. Wie lange noch?

Mir hilft der Gedanke, dass ich nicht nur selbst warte, sondern dass ich auch erwartet werde. Gott wartet. Gott wartet auf seine Menschen. Er wartet, dass wir nach seinen Geboten leben. Er wartet, dass wir ihm vertrauen. Er erwartet uns schon - ungeduldig so wie der Vater vom verlorenen Sohn. Wie ein Liebhaber auf seine Geliebte. Er steht da mit ausgestreckten Armen und ohne Worte.

Das Bild vom wartenden Gott kann einen langen Atem geben. Ich erlebe das sogar dann, wenn das menschliche Leben wirklich in Frage steht und ich Menschen im Sterben begleite. Die Krankenhäuser, in denen ich arbeite, rufen mich, wenn es dem Ende zugeht. Viele Menschen wünschen sich, gut verabschiedet zu werden. Und auch für Angehörige ist das oft ein Trost. Wie gut, dann zu glauben: Da ist jemand, der uns auch jenseits dieser Pforte erwartet. Gott steht da und wartet mit weit geöffneten Armen.

Warten und erwartet werden – das lässt getrost leben. Am schönsten ist das für mich im 1. Vers des Liedes von Dietrich Bonhoeffer ausgedrückt:     

Von guten Mächten wunderbar geborgen
er-warten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Heute ist der 1. Advent. Gott wartet auf uns. Und wir auf ihn.

Musik: Antonio Vivaldi, Lautenkonzert D-Dur RV 93, 3. Satz: Allegro

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