Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Sommerzeit, geschenkte Zeit
Bild: hakan kaydu/Pixabay

Sommerzeit, geschenkte Zeit

Johannes Meier
Ein Beitrag von Johannes Meier, Evangelischer Pfarrer und Journalist, Kassel
Beitrag anhören:

Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer! – Normaler Weise lasse ich solch eine altmodische Begrüßung zu Beginn meiner Sonntagsgedanken ja eher weg – aber an diesem Morgen freue ich mich besonders, dass Sie eingeschaltet haben. Jetzt schon! Eine Stunde früher als gewöhnlich, Respekt! – Sie wissen schon, was ich meine: Ab dem heutigen Sonntag leben wir wieder in oder mit der Sommerzeit! Die, die nicht verschlafen wollten, haben sicher schon gestern Abend vorm Zubettgehen ihre Uhren um eine Stunde vorgestellt. Wenn es die Uhren nicht automatisch von selbst erledigen. Wie die von meinem Handy zum Beispiel. Im Badezimmer und in der Küche muss ich zum Vorstellen aber immer noch selber ran. Manchmal dauert es Tage, bis das endlich getan ist – und verursacht deswegen immer mal kurze Verwirrung. Ups, ich muss ja längst los, ist ja immer noch die alte Zeit hier auf der Uhr!

Winterzeit und Sommerzeit. Alle Jahre wieder wird auch gerne heftig darüber diskutiert, ob diese Zeitumstellung eigentlich sinnvoll ist – oder ob man sie nicht besser endlich abschaffen sollte. Eine Mehrheit der Deutschen ist inzwischen laut Umfragen dafür. Nur bei der Frage, welche Zeit dann eigentlich das ganze Jahr über gelten sollte, sind sich die Menschen nach wie vor uneinig. Also bleibt wohl alles beim Alten, bis auf Weiteres. In diesem Jahr beschäftigen uns ohnehin ganz andere Probleme. Ach, was waren das noch für selige Zeiten, als die Frage der Zeitumstellung tatsächlich für ein paar Tage die Schlagzeilen bestimmte? Lange her. Wie aus einer anderen Welt kommt mir das jetzt vor.

Ich persönlich mag die Sommerzeit. Ich habe immer das Gefühl, als würde mir durch sie etwas Zeit geschenkt. Die Tage sind nun länger – auch wenn sie in Wahrheit ja nach wie vor bloß 24 Stunden zählen. Aber die Sonne geht nun eben später unter, das Licht bleibt länger bei uns – und wir bleiben länger im Licht.

„Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie mich leiten (...) zu deiner Wohnung, (...) zu dem Gott, der meine Freude und Wonne ist,“ so heißt es in einem alten Gebet in der Bibel, im Psalm 43, der nach evangelischer Ordnung für die kommende Woche steht. Gottes Licht für die erste Sommerzeit-Woche. Das passt doch!

Wie gesagt: Ich mag die Sommerzeit! Sie schenkt meinen Tagen am Abend eine Stunde mehr Licht. Eine Stunde mehr Zeit, um mit Freunden in den letzten Sonnenstrahlen vor der Kneipe zu sitzen. Eine Stunde mehr Zeit, um im Park die erste Grillparty zu feiern. Eine Stunde mehr Zeit, um gemeinsam Sport zu treiben oder spazieren zu gehen oder ins Kino oder ins Theater... – Ja, vonwegen. Das alles erscheint heute wie aus einer alten, längst vergangenen Zeit. Restaurant- und Kneipenbesuche, Grillfeste, Sport treiben in der Gruppe, Kulturveranstaltungen und Party? – Das war einmal. Darauf müssen wir jetzt erst einmal alle verzichten. Sommerzeit hin oder her.

Was also bringt mir die geschenkte Stunde mehr Sonnenlicht in diesem verrückten Jahr 2020, in dem seit ein paar Wochen doch fast nichts mehr so ist, wie es einmal war. Nur die gute alte Zeitumstellung ist trotzdem gekommen. Die Sommerzeit beginnt heute einfach so wie immer, als ob nichts wäre. Aber was fange ich in diesem Jahr mit ihrem Geschenk an? Eine Stunde mehr Zeit, um... – Ja, was denn? – Haben Sie eine Idee?

Vielleicht: Eine Stunde mehr Zeit, um mit einem Glas Rotwein auf dem Balkon zu sitzen. Um den Nachbarn zuzuwinken, um mit Freunden und Angehörigen zu telefonieren und zu chatten, um noch bei Tageslicht ein gutes Buch zu lesen oder was Leckeres zum Abendessen zu kochen, um mit den Kindern zu spielen und um die frische Frühlingsluft zu genießen.

„Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie mich leiten,“ bete ich heute mit dem Psalm für die neue Woche. Ja, sie sollen mich leiten in dieser irren Zeit. Und das alte Gebet aus Bibel schenkt mir dann noch die folgenden Worte: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichtes Hilfe und mein Gott ist.“ – Genau, Guter Gott, dafür hab Dank, gerade zum Beginn der Sommerzeit in diesem Jahr. Ich möchte das, was mir durch sie geschenkt wird heute annehmen und nutzen, trotz allem.

Und das könnte doch bedeuten: Eine Stunde mehr Licht, um weniger Trübsal zu blasen. Eine Stunde mehr Licht, um neue Zuversicht zu spüren und um mich selbst und andere immer wieder neu zu ermutigen.

Sommerzeit. Ab heute. Endlich eine Stunde mehr Licht. Geschenkte Zeit.

Aber viele von uns haben jetzt reichlich davon: Schulfrei! Uni geschlossen! Nicht mehr jeden Tag ins Großraumbüro pendeln, stattdessen ein paar Stunden Homeoffice. Keine Fortbildungen oder Tagungen mehr. Ein mächtig ausgedünnter Terminkalender. – Für manche mag das ja durchaus seine angenehmen Seiten haben, für andere ist es existentiell bedrohlich. Und dann gilt ja auch: Keine Urlaubsreisen in ferne Länder mehr, kein Sportverein, kein Chor, kein Kinoabend, keine Kneipe, keine Partys, kein Konzert oder Museumsbesuch. Auf einmal ist die Freizeit nun wirklich frei. Und ab heute sogar gefühlt noch eine Stunde länger.

Wie oft hatte ich in meinem alten Leben das Gefühl, dass mir die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt. So wie der Sand in einer Sanduhr, vom oberen Glas ins untere, unaufhörlich. Die Sanduhr als Symbol für unser Dasein: Es beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod und zwischendurch findet Leben statt.

Und jetzt? – Der Sand der Sanduhr läuft noch immer vom einen Stundenglas ins Andere. Doch: Das Leben findet nicht mehr so statt, wie wir es gewohnt waren. Vielleicht ist das nicht nur furchtbar, beängstigend, ärgerlich. Vielleicht liegt darin auch eine Chance. Die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen, zu mir, mich und mein Leben neu zu sortieren, Prioritäten zu überdenken.

Ein gutes Leben bemisst sich ja eben nicht daran, wie viel ich in der Schule oder der Uni gebüffelt und gelernt habe. Für ein erfülltes Leben muss man ja nicht einen möglichst vollgestopften Terminkalender haben. Lebensglück kann ich mir letztlich wohl weder erarbeiten noch erkaufen. Und so sehr ich meine Hobbys liebe und meine Freizeit gerne mit vielfältigen Aktivitäten verbringe, so ahne ich doch auch: Vieles davon ist wohl nichts weiter als lärmender Zeit-Vertreib, um das Rieseln der Sanduhr zu übertönen.

Jetzt aber ist die Welt stiller geworden. Und ab und zu höre ich sie dann, die Sandkörner meiner verrinnenden Zeit. Ob mir das Angst macht? Ja, vielleicht, manchmal schon. Aber die Sommerzeit, die ab heute wieder gilt und die ich nachher bei meiner Küchenuhr einstellen werde, sie erinnert mich an die eigentliche, an die große Zeitumstellung, die Gott meinem Leben schenkt. Der Sand rieselt nicht mehr ins Leere! Was das für Christen bedeutet, hat der Dichter Hanns Dieter Hüsch einmal so beschrieben:

Ich bin vergnügt, erlöst, befreit. 
Gott nahm in seine Hände meine Zeit,
mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen,
mein Triumphieren und Verzagen, 
das Elend und die Zärtlichkeit.


Ja, daran mag ich glauben: Gott nahm in seine Hände meine Zeit. Und da ist sie und da bin ich, da sind wir alle gut aufgehoben.
 

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren