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Musik befreit
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Musik befreit

Anke Haendler-Kläsener
Ein Beitrag von Anke Haendler-Kläsener, Evangelische Krankenhauspfarrerin, Flieden
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„Wo man singt, da lass dich ruhig nieder. Böse Menschen haben keine Lieder…“  Ein Spruch, den ich oft höre, wenn es um Musik geht. Und vor meinem inneren Auge sehe ich Bilder von Lagerfeuern in meiner Jugend. Es wird Nacht, kalt ist es, und alle müssen zusammen rücken. Der Rücken erfriert allmählich, das Gesicht wird heiß, wir starren ins lodernde Feuer. Einer spielt schrammelnd Gitarre, und die anderen sin­gen dazu. Die Moorsoldaten. Oder Donna Donna Donna. Das waren damals so die Hits. Da waren mir die anderen plötzlich ganz nah und vertraut. Das gemeinsame Singen verbindet mehr, als vieles andere.

Heute sitze ich nicht mehr am Lagerfeuer. Aber ich spüre ein ähnliches Gefühl, wenn ich gemeinsam mit anderen singe. Im Gottesdienst in der Kirche. Oder noch besser im Chor. Die einzelnen Stimmen ergänzen sich wunderbar und ergeben einen herr­lichen Klang. Die Töne schwingen, reiben sich aneinander und lösen sich wieder auf. Da rieselt es mir manchmal eiskalt den Rücken herunter, und ich fühle mich meinen Mitsängern und Sängerinnen nah. Worte sind dann gar nicht nötig. Wir gehören zu­sammen.

„Wo man singt, da lass dich ruhig nieder. Böse Menschen haben keine Lieder…“ Diese Volksweisheit spricht mir aus dem Herzen. Sie stammt eigentlich von einem deutschen Schriftsteller und Dichter. Johann Gottfried Seume (1763-1810) heißt er und hat zur Zeit Goethes gelebt. In seinem Gedicht „Die Gesänge“ hat er 1804 so gedichtet:

Wo man singet, lass dich ruhig nieder,
Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;
Wo man singet, wird kein Mensch beraubt;
Bösewichter haben keine Lieder.

Schön wär´s … schön wär´s, wenn sich die Bösewichter so leicht ausmachen ließen. Aber dem stehen leider auch andere Erfahrungen entgegen. Ich denke an johlende Menschen zum Beispiel in einer Kneipe, in die ich einkehre, um nur nach dem Weg zu fragen. Stammtischgesänge: Sie machen mir Angst, und ich würde mich nur un­gern bei ihnen niederlassen. Oder an grölende Massen im Stadion: Solange sie für meinen Verein singen, ist alles gut. Wenn aber die Stimmung kippt und gegen mich gesungen wird, dann möchte ich mich verkrümeln.

Auch bei der Hitlerjugend oder dem Bund Deutscher Mädchen wurde gesungen. Dort gab es genau die Lagerfeuerromantik, an die ich selbst so schöne Erinnerungen habe. Einerseits waren sie eine Gemeinschaft. Andererseits wurden dadurch genau die ausgegrenzt, die nicht dazugehören sollten. Das Singen wurde missbraucht, um Menschen in ihren Bann zu ziehen. Durch Musik allein ist man also noch nicht vorm Bösen gefeit.

Musik hat beides: Schönes und Ermutigendes, aber auch Beängstigendes. Und heute am Sonntag Kantate möchte ich gern diesen verschiedenen Seiten nachgehen.

Diese beiden Seiten werden für mich deutlich an einer Geschichte aus der hebrä­ischen Bibel.

Das Volk Israel wird aus der Sklaverei in Ägypten befreit. Mose zieht ihnen voran durch die Wüste. Vierzig Jahre lang dauert diese Flucht. Am Ende darf Mose das Volk aber nicht selbst ins gelobte Land führen, sondern er darf es sich nur aus der Ferne anschauen. Er sieht das gelobte Land vom Gipfel des Berges Nebo aus und stirbt dort oben. Als Nachfolger wählt er Josua aus. Dieser Josua ist es, der dann das ver­heißene Land betritt und erobert.

Eine der ersten Städte, die die Israeliten erobern, ist Jericho. Diese Stadt ist durch große Mauern befestigt. Sie ziehen um die ganze Stadt herum: Erst das Kriegsvolk, dann sieben Priester mit ihren Posaunen und mit der Bundeslade, und dahinter alle Menschen. Sechs Tage lang umkreisen sie jeweils nur einmal die Stadtmauern. Am siebten Tag aber, ganz frühmorgens als die Morgenröte aufgeht, wiederholen sie dieses Spektakel dann siebenmal. Es heißt: Das Kriegsvolk erhebt ein lautes Geschrei. Die Priester blasen ihre Posaunen und erzeugen damit einen ohrenbetäubenden Lärm. Sieben mal. Da stürzt die Mauer ein. Sie fällt einfach um. (1. Samuel 6,15-20).

Musik lässt Mauern einstürzen, ja Musik hat eine gewaltige umstürzende Wirkung. Deshalb machen sich viele Jahrhunderte später die afroamerikanischen Sklaven im Süden der USA genau diese Geschichte zu Eigen. So wie Josua die Mauern von Jericho zum Einstürzen bringt, genauso erhoffen sie es für sich selbst. Einen Um­sturz. Auch die Mauern, die sie umgeben und an der Freiheit hindern, sollen ein­stürzen: 

Joshua fit the battle of Jericho, Jericho, Jericho
Joshua fit the battle of Jericho,
and the walls came tumbling down.

Dieser Song macht ihnen Mut, für ihre Rechte zu kämpfen. Ich traue mich nicht, die Situation von damals so eins zu eins auf meine Lebenssituation zu übertragen. Denn heute ahne ich, dass sich hinter dieser Geschichte von Jericho einige offene Fragen verbergen. Was ist denn mit den Bewohnern von Jericho, die einfach vertrieben oder sogar getötet werden? Warum werden sie einfach so überrannt?

Dennoch spüren unterdrückte Menschen genau das aus dieser Erzählung: Da steckt eine zeitlose Wahrheit in der alten Geschichte von Jericho. Im Singen kann ich mir diese Wahrheit aneignen. Im Singen verbinde ich mich mit dem Volk Israel. Es hat seine Fesseln zersprengt und ist ins gelobte Land der Freiheit gezogen. Und Jericho wurde ohne Gewalt erobert. Die Mauern stürzen einfach durch den Klang der Posaune ein. Das wird auch zu meinem Traum.

´Cause the battle is in my hands, so heißt es in einer weiteren Strophe. Der Kampf liegt in meiner Hand. Ich habe es in der Hand, meine Situation zu verändern. Ich kann mein Leben verbessern. Und im Singen wird das heute schon wahr. Im Singen nehme ich die Zukunft vorweg. Wenn ich singe, bin ich frei.

Dass Musik frei macht, haben auch die Menschen erlebt, die zur Zeit der Refor­mation im 16. Jahrhundert lebten. Musik war der Herzschlag der Reformation. Sein allererstes bekanntes Lied hat Martin Luther im Jahr 1523 komponiert. Zwei Augus­tinermönche bekannten sich zur neuen reformatorischen Lehre. Deshalb wurden sie in Brüssel verbrannt. Als ihm das zu Ohren kam, war er zutiefst erschrocken und empört darüber. Deshalb schrieb er ein langes und aufrührerisches Lied mit 12 Strophen. Das Lied wurde auf Flugblättern verbreitet und landauf landab von den Menschen gesungen. „Ein neues Lied wir heben an“, so nannte er es. Ein Protest­song.

Singen als Protest – das machte die Protestanten aus. Das war ihr Markenzeichen. Viel mehr als eine liturgische Reform war dieser Aufschrei der Beginn der Reforma­tion. Und da es damals ja kein Radio gab, waren alle auf Livemusik angewiesen. So wurde das Singen dieser Lieder bald zu einer wirkungsvollen Propaganda.

Ein weiteres Beispiel sind die Berichte von lautstarken Auseinandersetzungen: Soge­nannte altgläubige Priester versuchten, die Messe in ihrer gewohnten Form zu le­sen, wurden aber vom Volk überstimmt durch das laute Singen von Lutherliedern. Auch Fronleichnamsprozessionen oder Beerdigungen wurden auf diese Weise ge­stört.

Und die weltliche und kirchliche Obrigkeit spürte, dass sie dem Einhalt gebieten musste. So wurde zum Beispiel in Hildesheim (1524 und noch einmal im Jahr 1531) das Singen auf offener Straße verboten. Es gibt tatsächlich Berichte darüber, wie Handwerksgesellen, die ihre Lieder schmetterten, geschlagen und verhaftet wurden. Aber das ist natürlich ein hilfloser Versuch, einer neuen Idee Einhalt zu gebieten.

Das Singen wurde zu einer der schärfsten Waffen der Reformation.

Das gibt es bis heute. Auch bei der friedlichen Revolution in der DDR trafen sich Menschen in den Kirchen, um zu singen. Lieder sind Ausdruck einer inneren Haltung und transportieren mehr als nur den Gehalt der Texte. Sie sind gesungenes Be­kenntnis.

Musik macht frei. Davon erzählt auch diese Geschichte: Israel erwählt sich einen König. Er heißt Saul und ist nach einiger Zeit des Regierens zutiefst belastet. Heute würden wir vielleicht sagen, er war psychisch instabil oder sogar psychisch krank. Die Bibel sagt in ihrer Sprache: Ein böser Geist kam über ihn. Jedenfalls wird ihm das Leben schwer und das Regieren erst recht. In solchen Phasen lässt er niemanden an sich heran, ja die Menschen fürchten sich, in seine Nähe zu kommen. Nur einer kann ihm aus diesem Tief heraushelfen: Der Hirte David. Denn David spielt wunderschön auf der Harfe. Sooft nun der böse Geist von Gott über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So wurde es Saul leichter und es ward bes­ser mit ihm und der böse Geist wich von ihm. (1. Samuel 16,23)

Ich kann mir das lebhaft vorstellen und kenne es selbst. Musik bewirkt etwas in mir. Sie macht das Leben leichter und vor allem tiefer. Wenn die Töne einer bestimmten Musik in mich eindringen, dann entstehen dort Schwingungen. Sie rühren an alte Erinnerungen. Das geht viel mehr unter die Haut als bloße Worte.

Vor kurzem habe ich eine CD gekauft, die ich in meiner Jugend vor über 30 Jahren gehört hatte - natürlich damals als Langspielplatte aus Vinyl. Ich kann gar nicht be­schreiben, was für ein Sturm an Empfindungen das in mir ausgelöst hat, als ich sie das erste Mal gehört habe. Unglaublich. Ein großes Reservoir an Lebenskraft, zu dem ich auf andere Weise gar keinen Zugang gehabt hätte. Ohne diese Musik wären alle diese Erinnerungen und Gefühle in mir verschüttet geblieben. So aber wurden sie wieder lebendig.

Natürlich kann das auch nach hinten losgehen. Denn bei manchen dieser Erinnerun­gen und Gefühle ist es ja gut, wenn sie verschüttet bleiben. Manche alte Schallplatte will ich bis heute nicht hören, denn ihre Musik löst zu viel in mir aus. Ich glaube nicht, dass ich mit dem Schmerz, den sie entfacht, umgehen könnte. Das Unterbe­wusste will uns schützen, indem es manches zur Seite legt und weg tut.  Sonst kann einen die alte Geschichte überrollen, ohne dass man sich dagegen wehren kann. Sie macht einen platt. Damit will ich lieber vorsichtig sein.

David geht vorsichtig mit Saul um. Er scheint genau zu wissen, was er tut: Sooft nun der böse Geist von Gott über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So wurde es Saul leichter und es ward besser mit ihm und der böse Geist wich von ihm.Er spielt die Harfe und beruhigt Saul damit. Mit seiner Musik zähmt er die wilden Bestien, den bösen Geist. Die Harfenmusik tut Saul unendlich gut und heilt ihn. Die Anfänge einer Musiktherapie.

Das Instrument, auf dem die Priester in Jericho blasen, ist ja auch nicht irgendein Blasinstrument. Es ist ein Widderhorn, ein Schofar. Darauf wird eigentlich an den hohen Feiertagen geblasen. Es ist ein heiliges Instrument, das auch im Gottesdienst genutzt wird. Diese Musik (die Musik von Josua, die Musik von David) und der Glaube an Gott gehören eng zusammen.

Das kenne ich selbst auch. Es gibt Musik, bei deren Klängen spüre ich: Ich komme zur Ruhe. Ich bin getragen. Das sind nicht nur wohlklingende Töne, sondern sie wei­sen auf etwas, auf jemanden hinter der Musik hin. Sie sind für mich ein Fingerzeig von Gott. Mir persönlich geht das zum Beispiel in der Passions- und Osterzeit so, wenn ich Bach höre. Die Matthäuspassion. Die Johannespassion. Das Osterorato­rium.

Es gibt Lieder, die mich schon seit Jahrzehnten begleiten und in denen ich mich im­mer neu wiederfinde. Eines davon ist: Wer nun den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn alle Zeit, den wird er wunderbar erhalten in aller Not und Traurigkeit. Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut, der hat auf keinen Sand gebaut. (EG 369)

An manchen Tagen beschreibt das genau mein Lebensgefühl. An anderen Tagen steht es ihm diametral entgegen. Aber ich singe es trotzdem, wie einen Protest. Wie ein Lied voller Sehnsucht. Vielleicht haben Sie das ja auch: Ein Lied, das Sie schon lange begleitet und aus dem Sie immer wieder Kraft schöpfen. Wenn ich es singe oder Musik von Bach höre, dann geht mir das Herz auf. Die Töne erreichen mein In­nerstes und tun einfach gut. Sie machen mich innerlich frei. Ich spüre, wie ich in die­sen Klängen Gott begegne.

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