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Mohammeds Apfelbaum
S. Hermann & F. Richter

Mohammeds Apfelbaum

Irmela Büttner
Ein Beitrag von Irmela Büttner, Evangelische Pfarrerin, Offenbach-Bieber
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In der Bibel ist viel von Nächstenliebe die Rede. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, hat Jesus gesagt. Doch das scheint gar nicht so einfach zu sein, gerade da, wo unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen. Oft beobachte ich, dass Menschen an einem Ort zusammenleben können, aber zu einem wirklich friedlichen Miteinander kommt es nicht.

Ich bin Pfarrerin in Offenbach. Hier läuft vieles ziemlich gut: Menschen unterschiedlicher Kulturen leben zusammen in dieser großen Stadt. Es finden viele interkulturelle Begegnungen statt. Und doch denke ich immer wieder: Ich muss noch viel lernen.

Das denke ich, seit ich vor einigen Jahren Henning Vierck kennengelernt habe. Ich habe ihn im Comenius-Garten in Berlin-Neukölln getroffen. Der Comenius-Garten ist eine kleine Parkanlage in der Nähe des Böhmischen Dorfes. Der Garten ist nach Johann Amos Comenius benannt. Der war der letzte Bischof der Böhmischen Brüder. Das war eine christliche Glaubensgemeinschaft, und sie haben im ausgehenden Mittelalter etwas Besonderes versucht: Während der Hussitenkriege haben sie sich entschlossen, trotz allen Streites um sie herum gewaltfrei zu leben.

Das hat Henning Vierck beeindruckt. Deshalb hat er sich viel mit den Gedanken von Johann Amos Comenius beschäftigt und den Garten angelegt, mitten in Neukölln, diesem großen Stadtteil in Berlin, der bekannt dafür ist, dass es eben nicht friedlich zugeht zwischen den Menschen, die dort wohnen.

Henning Vierck hat lange für das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte gearbeitet. Er erzählt: Seine Kollegen dort haben ihn am Anfang für verrückt gehalten: Ein Garten, in dem Menschen lernen sollen, wie man friedlich zusammen lebt in diesem Stadtteil mit all den Türken, Syrern und Palästinensern? „Der Garten hält kein Jahr, dann ist er kaputt.“ Das sagte einer von ihnen. „Wenn ich so etwas in Neukölln vorhätte, würde ich erst die Bevölkerung austauschen“, sagte ein anderer.

Doch Henning Vierck hat an seine Idee geglaubt, und er hat mir eine Geschichte erzählt, die mich bis heute nicht losgelassen hat.

Eines Tages tauchte Mohammed vor dem Tor des Gartens auf, ein Junge aus der Nachbarschaft. Er machte sich an den Fahrrädern zu schaffen, schraubte die Griffe ab. Herr Vierck sprach ihn an. „Das gefällt mir nicht, was du da machst.“ „Wieso?“, entgegnete Mohammed, „soll er doch sein Rad nicht alleine lassen.“ – „Aber du würdest doch auch nicht wollen, dass man dir die Fahrradgriffe klaut.“ – „Ich passe ja auch auf meine Sachen auf.“

So ging es hin und her. Mohammed ging irgendwann, Herr Vierck wusste, dass die vielen Worte nichts nutzten, dass er wiederkommen würde. Er sprang über den Zaun und rannte, so schnell er konnte, zu einem Fahrradladen einige Straßen weiter. Er kaufte die schönsten Fahrradgriffe, die er finden konnte. Als er zurück zum Gartentor kam, war Mohammed tatsächlich wieder da. Herr Vierck schenkte ihm die Fahrradgriffe.

Von da an verstanden sie sich. Mohammed lernte von Herrn Vierck, was der alte Bischof Johann Amos Comenius gelehrt hatte: Wie schön es ist, die Dinge fließen zu lassen, den Garten wachsen zu lassen, behutsam mit den Pflanzen, den Tieren und Menschen umzugehen. Und Herr Vierck lernte von Mohammed, wer die Menschen waren, die rund um den Garten wohnten. Die Türken, Syrer, Palästinenser und all die Großfamilien in den umliegenden Straßenzügen.

Als ein paar Jungs eines Tages mit einem Messer Stämme von Bäumen im Garten zerschlitzten, fragte Herr Vierck Mohammed: „Was soll ich tun?“ Mohammed sagte ihm, wer die Jungs waren und zu wem er gehen sollte, damit sie begriffen, dass das nicht in Ordnung war.

„Wenn man es der falschen Person sagt“, sagte Mohammed, „geht die Nachricht wie ein Lauffeuer durch die Nachbarschaft, und die Eltern prügeln ihre Kinder. Das macht alles noch viel schlimmer.“

Seit Henning Vierck Mohammed die Fahrradgriffe geschenkt hatte, war zwischen den beiden eine Freundschaft entstanden. Diese Freundschaft veränderte das Miteinander der Menschen rund um den Garten.

Mohammed half Herrn Vierck, das zu erreichen, was dieser sich immer gewünscht hatte: eine friedliche Oase ganz im Sinne des alten Bischofs Johann Amos Comenius mitten in Berlin-Neukölln. Ein friedliches Miteinander.

Die Jungs sind nicht mehr wiedergekommen, um die Stämme der Bäume zu zerschlitzen. Stattdessen kommen immer mehr Kinder aus der Nachbarschaft, um mit Henning Vierck zusammen die Pflanzen im Garten zu pflegen und die Äpfel von den Bäumen zu ernten. Kinder aus den unterschiedlichsten Familien. Kinder aus Familien deutscher Herkunft, türkischer, syrischer, palästinensischer.

Sie lernen von Herrn Vierck, behutsam mit der Natur und miteinander umzugehen. Auch die Erwachsenen kommen in den Garten, spazieren über die Wege, vorbei an den Apfelbäumen und Kirschbäumen, Brennnesseln, Flockenblumen und Wiesenpippau. Wenn sie Herrn Vierck sehen, grüßen sie ihn freundlich, und er grüßt zurück.

Seinen Freund Mohammed hat Henning Vierck verloren. Er starb an Krebs. Ins Krankenhaus brachte Herr Vierck Mohammed die Äpfel des Apfelbaumes nicht weit vom Tor des Gartens entfernt. Doch sie konnten Mohammed nicht retten. Seitdem aber ist es Mohammeds Baum, und Herr Vierck bringt Mohammeds Familie jedes Jahr einen Korb voll Äpfel.

Was für eine besondere Freundschaft, denke ich. Sie begann mit einem Geschenk. „Wie das Leben“, sagt Herr Vierck. „Hass entsteht erst, wenn mir etwas weggenommen wird. Wenn ich mich jedoch daran erinnere, was mir zu allererst gegeben worden ist, kann ich den Hass überwinden.“

Und noch etwas sagt er: „Wenn ich den Kindern von Adam und Eva erzähle, die Geschichte, mit der in der Bibel alles anfängt, dann leuchten ihre Augen, und sie sagen: Dann sind wir ja alle Brüder und Schwestern.“

Ich staune darüber, wie diese Gedanken so einfach sind und wieviel sie doch in diesem Fall in Berlin Neukölln bewirkt haben. Und ich frage mich, wieviel mehr sie noch bewirken könnten, wenn Menschen, indem sie sich etwas schenken, das Gefühl überwinden, dass ihnen etwas genommen wurde. Wie die Fahrradgriffe vor dem Tor von Herrn Viercks Comenius-Garten in Berlin Neukölln.

 

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