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Bild: Gerd Altmann/Pixabay

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Tina Oehm-Ludwig
Ein Beitrag von Tina Oehm-Ludwig, Evangelische Pfarrerin, Versöhnungskirche-Matthäuskirche Fulda
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Es gibt Bilder, die prägen sich ein. Unwiderruflich. Oft genügt ein einziges Wort, ein Geruch oder ein Klang, und sie sind wieder da. Schöne Bilder: von beeindruckenden Orten und atemberaubenden Landschaften, von unvergesslichen Erlebnissen und von besonderen Menschen. Bilder, die einem ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Und daneben die weniger schönen Bilder: von Orten, an denen man nicht oder nie mehr sein möchte, von Ereignissen, die selbst in der Erinnerung oder aus der Ferne schmerzen, von Menschen, deren Bilder sich mit Tränen verbinden. Welche Bilder haben sich Ihnen eingeprägt?

Musik: Josquin Desprez, Missa Pange lingua, Sanctus

Es gibt Bilder, die prägen sich ein. Unwiderruflich. Mir haben sich die Bilder meiner ersten Kinderbibel eingeprägt. „Die Heilige Schrift in farbigen Bildern nach Schnorr von Carolsfeld“ lautet ihr Titel. Noch bevor ich die Geschichten der Bibel lesen konnte, habe ich die Gesichter derer gekannt, von denen da erzählt wird. Die Gesichter von Adam und Eva, als sie aus dem Paradies vertrieben wurden. Das Gesicht von Noah, als er zusammen mit seiner Familie aus der Arche getreten ist. Das Gesicht von Mose mit den beiden steinernen Tafeln in der Hand und von David bei seinem Sieg über den Riesen Goliath. Ich wusste, wie der barmherzige Samariter aussieht – und der verlorene Sohn. Ich kannte Petrus von Angesicht zu Angesicht – und Judas, der im Unterschied zu den übrigen Jüngern nie einen Heiligenschein hatte. Und natürlich Jesus. Noch heute sehen die Menschen der Bibel so und nicht anders für mich aus. Auch Abraham. Sein Gesicht zeigt in meiner Kinderbibel eine unglaubliche, fast wilde Entschlossenheit. Und zugleich eine Traurigkeit, als ob er den Schmerz der ganzen Welt zu tragen hätte. Seine linke Hand ruht auf dem Kopf seines Sohnes Isaak – liebevoll, beschützend. Doch seine rechte Hand ist hoch erhoben – und in ihr befindet sich ein Messer.

Die Geschichte zu diesem Bild aus meiner Kinderbibel lautet folgendermaßen:

1 Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich.

2 Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.

3 Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, von dem ihm Gott gesagt hatte.

4 Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne.

5 Und Abraham sprach zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen.

6 Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak. Er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand; und gingen die beiden miteinander.

7 Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer?

8 Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen die beiden miteinander.

9 Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz

10 und reckte seine Hand aus und fasste das Messer, dass er seinen Sohn schlachtete.

11 Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich.

12 Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.

13 Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich im Gestrüpp mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes statt.

14 Und Abraham nannte die Stätte »Der HERR sieht«.

Musik: Johannes Brahms, Ballade h-moll, op.10, No. 3

Es gibt Bilder, die prägen sich ein. Unwiderruflich. Bilder von eigenen Erlebnissen und Bilder von Geschichten aus der Bibel – Geschichten wie der von Abraham und seinem Sohn Isaak. Es gibt auch Bilder von Gott, die sich einprägen. Bilder, die festhalten, wie Gott Menschen begegnet, wie sie ihn in einer ganz bestimmten Situation erfahren haben. Mit einem solchen Bild von Gott endet die Geschichte von Abraham und seinem Sohn Isaak. Es heißt dort: „Abraham nannte die Stätte ‚Der Herr sieht‘.“ „Der Herr sieht“ – mit diesen drei Worten fasst Abraham sein Bild von Gott zusammen, nachdem er fast seinen Sohn Isaak geopfert hätte. „Der Herr sieht“ – so hat Abraham Gott erfahren, so ist er ihm auf jenem Berg im Lande Morija begegnet. Als ein Gott, der sieht. Als ein Gott, der ihn, Abraham,sieht.

Ich versuche, mich daran zu erinnern, wann Gott mich gesehen hat. Oder besser gesagt: Wann ich mich von Gott gesehen gefühlt habe – ganz aus der Nähe oder zumindest aus der Ferne. Ich bin mir nicht sicher, ob das bei etwas Schönem war oder vielmehr bei etwas weniger Schönem, ob das eher bei einem Spaziergang im ersten Sonnenschein nach trüben Wintertagen war oder beim Ausharren im Wartezimmer des Arztes. Und ich versuche auch, mich daran zu erinnern, wie sich dieses Gesehen-Werden angefühlt hat. Wurde es mir dabei warm ums Herz? Bin ich mit einem Mal ganz ruhig geworden? Habe ich vielleicht gelächelt?

Musik: Johannes Brahms, Intermezzo h-moll op. 119, No. 1

„Der Herr sieht.“ Dieses Bild ist vermutlich nicht das einzige Bild, das Abraham von Gott hat. Ich denke, Abraham gehen bei seinem dreitägigen Schweigemarsch durch das Land Morija viele Bilder von Gott durch den Kopf. Bilder von einem Gott, der schon einmal zu ihm gesagt hat: „Geh!“ „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will.“ Bilder von einem Gott, der ihn auf diesem Weg geführt, begleitet und bewahrt hat – von Ur in Chaldäa über Ägypten bis hin nach Kanaan. Bilder von einem Gott, der mit sich reden, der sogar mit sich handeln lässt. Auch das hat Abraham erfahren. Gott ist sich nicht zu schade gewesen, sich durch Abraham von fünfzig auf zehn in der Stadt Sodom lebende Gerechte herunterhandeln zu lassen. Um derentwillen soll Gott die Stadt verschonen. Und schließlich: Bilder von einem Gott, der Abraham Segen und Nachkommenschaft verheißen und der diese Verheißungen auch wahrgemacht hat. Denn Abraham ist mit Gütern wahrlich reich gesegnet, und es ist ihm und seiner Frau Sara noch in hohem Alter ein Sohn geschenkt worden: Isaak.

Doch nun das. Doch nun dieser Befehl: „Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.“

Auch mir gehen viele Bilder durch den Kopf, wenn ich an Gott denke. Ich habe einen Gott vor Augen, der mich Freude und Glück, Liebe und Erfüllung erfahren lässt. Ich habe einen Gott vor Augen, der mich schon oft bewahrt hat – mein Leben und meine Gesundheit, zu Hause und unterwegs. Vieles hätte da auch anders ausgehen können! Ich habe einen Gott vor Augen, der mir geholfen hat – zum Beispiel bei einer schweren Entscheidung. Ich habe nicht gewusst, was ich tun sollte. Doch mit einem Mal war ich mir ganz sicher: Dieser Weg ist der richtige! Oder als ich müde und erschöpft war und – wie durch ein Wunder – neue Kraft gespürt habe – Kraft zum Aufstehen und Weitermachen. Daneben gibt es aber auch die anderen Bilder von Gott. Solche, die ich nicht einordnen kann, weil sie sich nur schwer mit meinen „schönen“ Bildern von Gott in Einklang bringen lassen. Es sind Bilder von Situationen, in denen ich mich nicht gesehen, sondern allein und alleingelassen gefühlt habe. Von Situationen, in denen mir und anderen nicht geholfen wurde. Von Situationen, in denen Menschen – in der Nähe und in der Ferne – nicht bewahrt wurden, in denen – anders als bei Abraham – kein göttliches „Halt!“ vom Himmel kam, das Schlimmeres verhindert hätte. Vielleicht geht es Ihnen ähnlich. Vielleicht haben auch Sie „schöne“ Bilder von Gott vor Augen – und daneben solche, wo Sie sich nicht von Gott gesehen fühlten. Obwohl Sie darauf gewartet und sich nichts sehnlicher gewünscht haben. Obwohl Sie nichts dringender gebraucht hätten, als dass ER Sie sieht.

Musik: A. Dvorak, Biblische Lieder op. 99, Nr. 8: „Blicke mich an

In meinem Durcheinander an Bildern von Gott, von denen ich nicht weiß, ob und wie sie zusammenpassen, hat die Geschichte von Abraham und seinem Sohn Isaak etwas Befreiendes. Denn diese Geschichte spricht ganz offen von einer dunklen und unbegreiflichen Seite Gottes. Gott sagt zu Abraham: „Töte deinen eigenen Sohn!“ Dieser Befehl ist ebenso grausam wie eindeutig. Er lässt keinen Raum für Nachfragen oder Verhandlungen. Er lässt auch keinen Raum für Zweifel – für Zweifel an dem Urheber des Befehls. Abraham zweifelt keinen Moment daran, dass dieser Befehl von Gott kommt. Doch gerade das ist für Abraham ein Trost.

Es ist für ihn – ebenso wie für das ganze Volk Israel – tröstlicher zu sagen, dass alles von Gott kommt – auch das Schwere, das scheinbar Sinnlose und Unfassbare.

Tröstlicher, als gerade das aus anderen Händen nehmen zu müssen: aus der Hand eines blinden, unpersönlichen Schicksals, aus der Hand des Zufalls oder aus der Hand irgendeiner anderen – göttlichen oder widergöttlichen – Macht, der der eigene Gott nichts entgegenzusetzen hat. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das auch so sagen kann – und will: Dass alles von Gott kommt – das Gute ebenso wie das Böse. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich das überhaupt denken kann – und will. Aber es tut gut, dass ich es mit Abraham wagen darf, Gott auch als den zu sehen, der mir rätselhaft und unheimlich ist, der mich an sich selbst zweifeln lässt. Der aber trotz allem Gott ist. Mein Gott.

Die Geschichte von Abraham hat für mich noch etwas Befreiendes: Sie gibt klar zu verstehen, dass Abraham nicht bestraft werden soll. Abraham trägt keine Schuld an dem, was da passiert. Er ist nicht schuld daran, dass Gott so etwas von ihm fordert. Und er hat das auch nicht verdient. Abraham hat Fehler gemacht. Ja. Er war nicht immer der „Vater des Glaubens“. Abraham hat auch versagt. Er hat gegenüber seiner Frau Sara versagt, die er als seine Schwester ausgegeben und an den Pharao von Ägypten übergeben hat. Und das nur, um seine eigene Haut zu retten. Abraham hat auch gegenüber seiner Magd Hagar und deren Sohn Ismael versagt, die er – im wahrsten Sinne des Wortes – in die Wüste geschickt hat. Auf diese Weise versuchte er, weiteren familiären Konflikten aus dem Weg zu gehen. Doch was immer Abraham getan hat: Es ist nicht der Grund für das, was Gott hier von ihm fordert, was Gott ihm hier zumutet. Denn die Erzählung hält gleich zu Beginn fest: „Gott versuchte Abraham.“ Mit anderen Worten: Gott ist es, der hier handelt. Er prüft Abraham – warum auch immer. Wie quälend kann die Frage sein, ob man Schuld ist an dem, was einen getroffen hat – sei es ein Verlust oder eine Diagnose. Wie quälend kann die Frage sein, was man falsch gemacht haben könnte, dass es einen getroffen hat. Die Erzählung von Abraham und Isaak hält eindeutig fest: Gott prüft Abraham. Und nichts anderes.

Musik:  Johannes Brahms, Ballade d-moll, op. 10, No. 1

Die Erzählung von Abraham und Isaak beginnt mit den Worten „nach diesen Geschichten.“ Diese drei Worte sind mir wichtig. Sie sind für mich sogar entscheidend. Denn sie weisen darauf hin, dass da schon etwas war. Die dunkle und unbegreifliche Seite Gottes ist nicht das erste, das Abraham von Gott erfährt. Sondern Abraham erlebt diese Seite Gottes erst nach vielem anderen, erst nach vielen anderen, guten Geschichten mit Gott – Geschichten des Segens, Geschichten der Bewahrung, Geschichten der Begleitung.

Wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, wenn Abraham nicht schon viele andere, gute Erfahrungen mit Gott gemacht hätte, hätte sein Verhältnis zu Gott durch diese Geschichte vielleicht einen Bruch erlitten – einen Bruch, der nicht wieder hätte geheilt werden können, obwohl die Geschichte letztlich gut ausgegangen ist, obwohl Gott am Ende „Halt“ gerufen, obwohl er Abraham im letzten Moment Einhalt geboten hat. Doch so – nach all den anderen, guten Geschichten mit Gott – hat sich die unbegreifliche, beinahe schon abgründige Seite Gottes nicht bei Abraham festgesetzt. Hat sich Abraham kein dunkles Bild von Gott eingeprägt.

Genau das ist auch mein Wunsch: Dass es nicht ein dunkles Bild von Gott ist, das sich mir selbst und anderen am Ende einprägt. Eben weil es noch andere Bilder von Gott gibt – helle Bilder, freundliche Bilder, tröstliche Bilder. Bilder, die Mut machen, die Hoffnung und Zuversicht geben und die zusammen stärker sind als alles andere. Doch was, wenn alles in mir leer ist? Einige von uns haben vielleicht gar keine „schönen“, keine positiven Bilder von Gott. Und in anderen sind sie längst verblasst oder allesamt zu schwach, um gegen das eine oder die vielen dunklen Bilder von Gott anzukommen. In einer solchen Situation wünsche ich uns allen, dass wir wenigstens – so wie Abraham – zu Gott sagen, nein schreien können: „Hier bin ich! Hier bin ich, Gott, sieh mich doch endlich! Sieh mich doch endlich an in meiner Not, in meiner Verzweiflung, in meiner Einsamkeit, in meinem Schmerz, in meiner Traurigkeit. Sieh doch endlich hin!“ Ich wünsche uns, dass wir nicht stumm bleiben vor Gott.

Und ich wünsche uns noch etwas: Ich wünsche uns, dass wir von den Menschen um uns herum gesehen werden – gerade dann, wenn wir das Gefühl haben, dass Gott es nicht tut. Ich wünsche uns, dass uns die Menschen ehrlich fragen: „Wie geht es dir?“ Und dass sie unsere Antwort dann nicht nur abwarten, sondern auch aushalten.

Dass sie mit uns aushalten. Wie schön wäre es, wenn wir einander mehr sehen würden – in unseren Beziehungen und Familien, in unseren Gemeinden und Nachbarschaften, in unseren Schulen und an unseren Arbeitsplätzen. Wie schön wäre es, wenn es von uns heißen würde: „Er sieht.“ Oder „Sie sieht.“ Wir würden dann ein ganz starkes Bild abgegeben – ein Bild, das sich einprägt.

Musik: Anton Dvorak, Biblische Lieder op. 99, Nr. 6: „Hör, o Gott“

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