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Berührt werden
Motortion/GettyImages

Berührt werden

Dr. Ursula Schoen
Ein Beitrag von Dr. Ursula Schoen, Prodekanin, Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt
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Ich lasse mich auf eine Bank am Bahnsteig fallen. Gerade noch geschafft. Mein Zug soll in wenigen Minuten kommen. Zeit zum Atemholen. Mein Blick schweift über den Bahnsteig und bleibt am Boden hängen. Da sind zwei unförmige Pakete. Da hat jemand offensichtlich mehrere Stofflagen übereinandergeschichtet, in Plastiktüten gepackt und das Ganze mit einer Kordel zusammengebunden.

Füße, mit Sorgfalt verpackt

Auf der Bank sitzt ein Mensch. Die Pakete sind keine Pakete. Es sind seine Füße, die in diesen zusammengeschnürten Plastiktüten stecken. Ob eine Frau oder ein Mann, das lässt sich unter dem Schlafsack, in den er oder sie sich gehüllt hat, nicht wirklich erkennen. Der Anblick dieser Fußpakete berührt mich. Wie viel Sorgfalt hat dieser Mensch darauf verwendet, seine Füße warm einzupacken und vor den Blicken anderer zu schützen!

Die Füße vorsichtig versorgen

Für einen Augenblick stelle ich mir vor, wie diese Füße Schicht für Schicht ausgepackt werden – bei einer Wohnsitzlosenhilfe oder in einer Arztpraxis. Sicher sind die Füße nicht gesund und wahrscheinlich auch kein angenehmer Anblick. Ich stelle mir vor: Die Ärztin oder der Helfer nimmt die Füße vorsichtig in die Hand, um sie zu baden oder medizinisch zu versorgen. Die Hand berührt den Fuß. Das Auge prüft sein Aussehen. Sein Anblick erschüttert.

"Mit ihren Händen können die anderen auf dieses Leben reagieren"

Mit den Füßen liegt auch das Leben dieses Menschen für einen Moment offen. Die Füße sagen viel über ihn, über die Schwierigkeiten seines Lebens auf der Straße. Vielleicht mehr, als er selbst mit Worten ausdrücken kann. Mit ihren Händen können die anderen auf dieses Leben reagieren, respektvoll, achtsam, fürsorglich. Die Hände sagen ohne Worte: Dein Schmerz berührt mich, ich gebe mir Mühe, dir nicht noch mehr weh zu tun.

Als Seelsorgerin muss man auch die körperlichen Verletzungen wahrnehmen

Ich habe oft erlebt, wie wichtig es ist als Seelsorgerin, bewusst die körperlichen Verletzungen und Schmerzen bei anderen wahrzunehmen. Manchmal zeigen mir Menschen sogar ganz direkt ihre Wunden. Eine Patientin im Krankenhaus, die ich als Seelsorgerin besuche, schlägt ihre Bettdecke auf und sagt: „Schauen Sie hier, meine OP-Narbe!“

Die Schmerzen eines Anderen teilen

Als junge Pfarrerin habe ich mich da manchmal ziemlich überwinden müssen. Heute weiß ich: Der Blick auf die Wunden, die andere mir zeigen, stellt eine Beziehung zwischen uns her. Körper und Seele sind miteinander verbunden. Unausgesprochen liegt darin: „Ich zeige dir meine Wunden – bitte halte sie mit mir aus – wenigstens für einen Moment.“ Das sind berührende Augenblicke. Wenn ich dann gute Worte finden kann wie etwa: „Ich ahne, was Sie für große Schmerzen haben“, spüre ich oft, wie mein Gegenüber sich entspannt. Jemand teilt seine Schmerzen mit ihm.

Zurück auf dem Bahnsteig bei dem Mann auf der mit den Füßen in Plastiktüten. Mein Zug kommt. Ich steige ein. Im Zug denke ich noch einmal an ihn. Unsere Blicke haben sich nicht gekreuzt. Ich werde ihm wahrscheinlich nicht mehr begegnen. Ich wünsche ihm aber, dass er sich traut,  jemandem seine Füße zu zeigen, und dass der sie versorgt und die richtigen Worte für ihn findet.

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