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Sich nicht um sich selbst drehen
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Sich nicht um sich selbst drehen

Uwe Groß
Ein Beitrag von Uwe Groß, Katholischer Diakon, Pfarrei St. Peter und Paul, Wiesbaden
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Zwei Männer lagen zusammen in einem Krankenzimmer, so erzählt die Geschichte eines unbekannten Verfassers. Beide waren schon alt und wurden am gleichen Tag einquartiert. Der eine kam an die Fensterseite des Krankenzimmers, der andere lag zur Tür hin. Er konnte ohnehin immer nur flach liegen, durfte sich nicht aufrichten und starrte mit seinen Augen zur Decke. Der Kranke am Fenster spürte, dass es dem Zimmernachbarn neben ihm schlecht ging. Und nachdem die beiden alle wichtigen Themen abgegrast hatten: Familie, Beruf, Wohnort, Fußball, da kam der Mann an der Fensterseite auf die Idee, seinem Nachbarn einfach das zu erzählen, was sich draußen abspielte. Er schaute aus dem Fenster und erzählte seinem Nachbarn vom Park gegenüber dem Krankenhaus, von dem großen Teich, der sich darin befand und auf dem Enten schwammen. Er erzählte davon, wie Mütter mit ihren Kindern den Enten Brot brachten und wie Liebespärchen in den Parkanlagen picknickten. Der Mann am Fenster beschrieb seinem Nachbarn die Hunde, die er im Park sah, ebenso wie die Jogger, die Rentner und die Jugendlichen,  die dort unterwegs waren. Er erzählte es seinem Nachbarn so lebendig, dass dieser glaubte, es mit eigenen Augen zu sehen. Beide spannen ihre eignen Geschichten über die Leute da draußen und hatten ihren Spaß dabei. Unmerklich wuchs im Kranken, der zuhörte, die Lust und Kraft, sich auch selbst wieder aufzurichten.

Eines Tages erzählte der Mann am Fenster nichts mehr. Er war in der Nacht gestorben. Sein Nachbar bat nun die Krankenschwester, selbst ans Fenster verlegt zu werden. Er wollte sich jetzt selbst wieder aufrichten, um das Treiben draußen zu beobachten. Die Schwester schob sein Bett ans Fenster. Als der Mann sich langsam aufrichtete und aus dem Fenster sah, schaute er gegen eine Mauer. Sein Nachbar hatte alles erfunden. Er erfuhr jetzt: Sein Nachbar war todkrank und erblindet gewesen. Er hatte selbst die Mauer nicht sehen können. Es gab keinen Park, keine Menschen, keinen Teich, keine Tiere. Und trotzdem war der Mann jetzt sehr glücklich, denn er spürte: Sein Zimmermitbewohner hatte ihm das alles nur so ausgemalt, damit er Hoffnung schöpft und wieder Mut findet, sich aufzurichten.

Es ist eine erfundene Geschichte, aber eine tolle Geschichte – finde ich. Sie erzählt für mich davon, wie ein Mensch einem anderen Hoffnung und Zuversicht gibt, obwohl er selbst genug Probleme hat. Ich habe das auch schon so ähnlich erlebt: Gerade in einer Situation, in der es mir selbst gesundheitlich schlecht ging, konnte ich Menschen besonders gut trösten, die um einen Verstorbenen getrauert haben. Merkwürdig, aber vielleicht war ich einfach nur besonders sensibel für die Not eines Mitmenschen. Was mir jedenfalls selbst gut getan hat war: Ich habe mich nicht um mich selbst gedreht, sondern etwas Nützliches getan. Schon lange habe ich mich wieder von meiner damaligen Krankheit erholt – aber diese Erfahrung, gerade auch in schwierigen Zeiten etwas für andere tun zu können, hat mich geprägt.

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