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Ich drück' dann meine Augen ganz fest zu

Ich drück' dann meine Augen ganz fest zu

Dr. Ansgar Wucherpfennig
Ein Beitrag von Dr. Ansgar Wucherpfennig, Jesuitenpater, Professor für Neues Testament an der Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt
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„Big Brother is watching you“… „Der große Bruder bewacht dich.“ Das sind Worte aus dem Zukunftsroman „1984“ von George Orwell. Mit dem ‚großen Bruder‘ meinte Orwell einen Staat, der mit einem perfekten Überwachungssystem jede Sekunde der Menschen kontrollieren und jeden Winkel ihres Lebens ausleuchten kann. Diese Zukunft ist heute schon lange da. Heute gibt es in fast allen öffentlichen Gebäuden, in Banken, Kaufhäusern, auf Flughäfen Beobachtungskameras, die die Passanten genau in den Blick nehmen. Der allgegenwärtige Blick der Kamera dient nicht nur zur Sicherheit der Menschen, er schränkt auch die Freiheit ein. Dass alles gesehen werden kann, ist für manche eine schreckliche Vorstellung.

In der Tradition der Griechen ist das Sehen die größte Gabe, die die Götter den Menschen gegeben haben. Und für die Bibel ist das ähnlich. „Tage zu sehen“ oder „die Sonne zu sehen“ bedeutet Leben. Meine Augen sind meine Brücke in die Welt und in das Leben, und sie sind auf eine Weise auch nah mit meinem Herzen verbunden. Manchmal fällt es mir schwer, jemandem in die Augen zu blicken, etwa wenn ich um Entschuldigung bitten möchte. Und es kann auch andersherum gehen: Manchmal wünsche ich mir sehr, dass mich jemand anblickt.

Für Jesus ist deshalb noch etwas anderes wichtig, um richtig zu sehen. Er preist die glücklich, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen. Und es lässt sich gar nicht so genau sagen, ob es das Herz ist oder die Augen, die Gott dann sehen. Wahres Sehen ist etwas Tieferes und Geheimnisvolleres, als es die Linse einer Kamera je kann. Und oft hilft zum wirklichen Sehen sogar, die Augen zu schließen.

Vor einiger Zeit schrieb mir jemand ein Gedicht. Darüber stand einfach „Gott“. Es spricht von der Kraft des Herzens beim Sehen:

„Meine Oma sagt, der Himmelvater ist schon grau. /
Meine Mama meint, es ist eine Frau. /
Der Opa weiß, den kann's nicht geben. /
Papa erklärt, der war mal am Leben. /
Und ich, ich drück' dann meine Augen ganz fest zu
und flüstere leise ‚DU‘.“

Es stand nicht darunter, wer es geschrieben hat, und ich habe es auch nicht herausgefunden. Das Gedicht spricht von einem Sehen, das Gott näherkommt. Gott begegnet mir im Wort Du, das viele Menschen zu mir sagen können. Die Fastenzeit in diesen Wochen ist eine gute Gelegenheit, Gott zu entdecken, wie er liebevoll auf mein Leben schaut. Vielleicht schließe ich dazu manchmal die Augen, damit auch ich mit dem Herzen tiefer sehen kann. 

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