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In voller Fahrt herausgerissen
Georg Lippold/Pixabay

In voller Fahrt herausgerissen

Anne-Katrin Helms
Ein Beitrag von Anne-Katrin Helms, Evangelische Pfarrerin, Erlösergemeinde Frankfurt-Oberrad
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Moderator/Moderatorin: Sie hören nun die hr2 Morgenfeier. Anne-Katrin Helms, evangelische Pfarrerin in Frankfurt, und Ansgar Wucherpfennig, katholischer Jesuiten-Pater ebenfalls in Frankfurt, gestalten sie zu zweit und ökumenisch. „In voller Fahrt herausgerissen“, so haben die beiden ihre hr2 Morgenfeier betitelt. Das Leben ist verwundbar. Das wussten wir schon immer. Aber die Corona-Pandemie lässt das besonders spüren. Was hilft, damit umzugehen?

Anne-Katrin Helms: „Wie geht Gott?“ Über diese Frage bin ich erstmal gestolpert. Sie war Thema bei einem Vortrag, den Ansgar Wucherpfennig und ich im Januar gehört haben. Danach haben wir noch lange mit Kolleginnen und Freunden zusammengesessen und diskutiert. „Eine eigenartige Frage“, meinte einer: „Die Wege Gottes mit Menschen sind oft sehr kurvig und schwer zu begreifen. Geht Gott überhaupt? Geht Gott so, wie eine Maschine geht oder wie die Lampe an der Decke.“ Ein anderer meinte: „Meist denkt man erst darüber nach, wenn die Dinge nicht mehr gehen. Vielleicht ist es ja auch bei Gott so.“

„Wie geht Gott?“

Die Frage „Wie geht Gott?“ hat uns alle angeregt. Niemand hätte an dem Abend allerdings für möglich gehalten, dass uns nur wenige Wochen später ein Virus namens Corona überrollen würde. Mir stellt sich seitdem die Frage „Wie geht Gott?“ nochmal neu. Unsere gewohnten Abläufe und Wege sind durcheinandergewirbelt und auch mein Nachdenken über Gott.

Ansgar Wucherpfennig: Ich denke zum Beispiel an einen gemeinsamen Freund, den Chef einer Brauerei, der uns an diesem Abend das Bier spendiert hat. Für ihn wäre die passendere Frage eigentlich: Wie läuft Gott? Gehen wäre ihm zu gemächlich. Denn er bringt Projekte schnell voran. Bummelzug-Gemütlichkeit ist nicht seine Sache. Der liebe Gott hat vielleicht manchmal Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Bei aller Effektivität ist der Brauerei-Chef freundlich, zugewandt und auch fromm. Er weiß, dass bei ihm wenig läuft, wenn der liebe Gott nicht mitgeht. Seine Tage waren durchgetaktet. Aber mit dem Shutdown musste auch er erstmal zu Hause sitzen. Die Maschinen wurden heruntergefahren.

Corona hat viele und vieles gestoppt

Gott hat in den vergangenen Monaten offenbar zugelassen, dass viele Unternehmen mitten aus ihrem Betrieb gerissen wurden. Die Folgen für Arbeiterinnen und Arbeiter, Angestellte und das Management lassen sich bis heute nicht absehen.

Vielleicht geht Gott ja gar nicht, jedenfalls sicher nicht einfach so, wie ich es mir denke.

Helms: Auch mir fällt ein Freund ein, der im März gleich zweifach gestoppt wurde. Er wohnt und arbeitet eigentlich in Amerika. Dort war er sehr erfolgreich in seinem Beruf. Um mal eine Pause zu machen, hat er für zwei Wochen einen alten Schulfreund in Wien besucht. Als er dort war, wurden auf einmal wegen Corona alle Flüge storniert, auch seiner zurück in die USA. Also blieb er erstmal. Wie so viele dachte er: „Nach zwei Wochen ist der Spuk vorbei. So lange kann ich mir die Auszeit leisten.“ Aber bald war klar: Das dauert länger. Eine Frist nach der anderen lief für seine Aufträge ab. Und mit den Aufträgen schmolz auch sein Einkommen dahin. Für viele Selbstständige in den USA wie ihn ist die Corona-Pandemie eine finanzielle Katastrophe.

"Das Alleinsein macht ihm schwer zu schaffen"

Nun hatte er ja ungewollt Zeit. Er traf sich abends mit Freunden. Auf dem Heimweg mitten in Wien haben ihn Unbekannte überfallen. Sie wollten an sein Geld. Er weigerte sich, es rauszurücken. Und daraufhin haben sie ihn niedergeschlagen. Er musste für mehrere Wochen ins Krankenhaus. Die Ärzte heilten seine Brüche an Nase, Kiefer und Kinn. Er war auf dem Weg der Besserung. Wegen der Corona-Pandemie durfte ihn aber niemand im Krankenhaus besuchen. Innerlich blieb er aufgewühlt wie noch nie in seinem Leben. Immer wieder wacht er seitdem nachts mit Albträumen auf. Das Alleinsein macht ihm schwer zu schaffen. Er fragt sich: „Wenn es so jemanden gibt wie Gott, was will er mir damit sagen?“ Wie sein Weg weitergeht, weiß er nicht. Zu plötzlich, zu abrupt ist er aus seinen Plänen herausgerissen worden.

Musik: John Adams, Short Ride in a fast Machine (City of Birmingham Orchestra unter Simon Rattle)

In voller Fahrt herausgerissen

Wucherpfennig: In voller Fahrt herausgerissen – das haben in den vergangenen Monaten auf der ganzen Welt Milliarden von Menschen erlebt. Vorher lief unser Leben in allen Bereichen auf Hochtouren. Und dann kam Covid-19. Die Corona-Pandemie war für viele wie eine Sturmwelle. Sie hat ganz langsam und unbemerkt in der Ferne begonnen. Dann hat sie sich übermenschengroß aufgetürmt und den ganzen Alltag weggerissen. Alles, was sicher und stabil erschien, ist durcheinandergewirbelt, und dann stand auf einmal alles still. Liebgewordene Gewohnheiten mussten geändert werden. Alltägliche Abläufe haben ihren Grund verloren und standen auf dem Kopf.

Das Leben wird nicht so weitergehen wie bisher

Mir ist klar geworden: Unser globales Leben ist verwundbar; mein persönliches Leben ist verwundbar. Im Prinzip wusste ich das alles schon vorher. Aber die Pandemie lässt mich das besonders spüren. Und ich bin sicher: Das Leben wird nicht einfach so weitergehen wie bisher.

Verwundbarkeit ist ein Schlüsselwort geworden

Helms: „Verwundbarkeit“, das ist seit einiger Zeit in der Theologie zu einem Schlüsselwort geworden. „Vulnerabilität“ sagen Wissenschaftler dazu. Bisher dachten Wissenschaftler oft nicht von beschädigtem und verletztem Leben her. Der Normalfall für die Vorstellung vom Leben waren Glück und Gesundheit. Die Ausnahme dazu waren: Nicht arbeiten können, krank sein, verwundet werden. Verletzungen wurden schnell beiseite geschoben und verdrängt.

Die Bibel hat einen Blick für die Verwundeten und Verletzten

Die Bibel ist voll von Geschichten über Menschen, die verletzt oder in ihrem normalen Leben abrupt unterbrochen werden. Gleich am Anfang verliert das erste Menschenpaar Adam und Eva sein Leben im Paradies. Ihr Sohn Abel wird Opfer seines Bruders Kain, der ihn erschlägt. Weil Menschen sich Gewalt antun, bricht die Sintflut herein. Jesus preist Frauen und Männer selig, die in ihrem Leben in vielfältiger Weise Verletzungen erfahren: Arme, Hungernde und Weinende. Offenbar hat die Bibel einen aufmerksamen Blick für Menschen, die verwundet werden und verletzt worden sind.

Musik: Ernest Bloch, From Jewish Life, 2. Supplication (Sol Gabetta mit Amsterdam Sinfonietta)

Die Pandemie wie eine Sturmwelle

Wucherpfennig: Die Pandemie wie eine Sturmwelle. Seit der Corona-Pandemie denke ich oft an eine Erzählung aus der Bibel, in der es um einen Sturm geht. Die Erzählung steht am Ende der Apostelgeschichte im Neuen Testament. Dort gerät ein ganzes Schiff samt Besatzung und Passagieren in einen Seesturm. Mit an Bord der Apostel Paulus.  

Die letzte Reise des Apostel Paulus

Er hat eine Vorahnung gehabt, was passieren wird, als er seine letzte Reise antreten musste. Im Herbst beginnt im östlichen Mittelmeer die Zeit unberechenbarer Winde. Deshalb brach man damals dann eigentlich nicht mehr zu Seereisen auf. Vom 15. September an galt das Meer als gefährlich, und am 11. November begann die Zeit des mare claustrum, frei übersetzt „Lockdown-Meer“,die Winterzeit. In dieser Zeit war das Meer für die Seefahrt geschlossen. Paulus war ein überzeugter Jude, der an Jesus Christus glaubte. Und er kannte die Regel: Nach dem Versöhnungsfest im Herbst sollte keiner mehr in See stechen. Deshalb hatte Paulus die Reisegesellschaft gewarnt.

Paulus war ein vielgereister Mann

Aber für den Kapitän zählte seine eigene Berechnung mehr als das Erfahrungswissen des Paulus. Paulus kannte die Schifffahrt im östlichen Mittelmeerraum. Er war ein vielgereister Mann.. Er kam aus dem Südosten der Türkei und war in Jerusalem aufgewachsen und ausgebildet worden. In der Araba, in der syrischen Steppe, hatte er gelebt und sich in immer größeren Kreisen von Jerusalem aus bis in das nördliche Griechenland vorgetastet, um von seinem Glauben an Jesus Christus zu erzählen. Auf seinen Reisen hat er viele Gefahren erlebt: Sturzwasser in Flüssen, organisierte Kriminalität in der Stadt, Hunger und Durst in den weiten Wüsten und Stürme auf dem Meer. Aber einen Zusammenbruch wie den, der ihm auf dieser Schifffahrt bevorstand, hatte er wohl noch nicht erlebt.

Paulus war als Gefangener an Bord

Helms: Paulus war nicht freiwillig auf dem Schiff. Er sollte als Gefangener von Israel nach Rom gebracht werden. Mit ihm war eine Gruppe anderer Gefangener. Paulus hatte bei seinem Besuch im Tempel in Jerusalem einen Aufruhr ausgelöst und sollte deshalb in Rom dem kaiserlichen Gericht vorgeführt werden. Er war also gewissermaßen in Untersuchungshaft. Die anderen Gefangen waren für den Sklavenmarkt vorgesehen oder für Tierkämpfe in der Arena. Der römische Hauptmann Julius sollte sie alle nach Rom bringen. Für Paulus und die Gefangenen hatte er ein Schiff gefunden, das Getreide aus Ägypten in die Hauptstadt bringen sollte. In der damaligen Mittelmeerschifffahrt war es vergleichbar mit einem Ozeanriesen heute. 276 Männer waren auf dem Schiff: Seeleute, Passagiere und die Gefangenen – eine bunt gemischte Reisegesellschaft aus vielen verschiedenen Ländern.

Ein Sturm bricht los

Wucherpfennig: Mehrere Wochen dauerte die Reise. Gewöhnlich hangelte sich ein solches Schiff von einem Hafen zum nächsten die Küsten entlang, erst südlich von Zypern und dann nach Kreta. So konnte kein Wind von Norden her einbrechen und das Schiff in Gefahr bringen. Bei Paulus geht die Fahrt anfangs noch gut, sie hatten milden südlichen Wind. Aber dann bricht plötzlich einer der gefürchteten Herbststürme los, ein Orkan mit einem Namen, wie gefürchtete Wirbelstürme noch heute. Eurakylon hieß er damals.

Die Seeleute verlieren die Steuerung über das Schiff

Das Schiff wird von haushohen Wellen überschüttet und vom Sturm gepeitscht. Die Besatzung schleudert hin und her. Das wird nicht ohne Knochenbrüche und Verletzungen abgegangen sein. Nach mehreren vergeblichen Navigationsversuchen verlieren die Seeleute die Steuerung über das Schiff und können es nicht mehr lenken. Jetzt können sie sich nur noch treiben lassen. Um nicht aufzulaufen, werfen sie zuerst die Schiffsausrüstung über Bord. So liegt das Schiff nicht so tief im Wasser. Aber der Sturm hört nicht auf. In den Nächten können sie weder Mond noch Sterne sehen. Niemand weiß, wo sie sind.

Paulus schöpft als erster wieder Mut

Helms: „Wir sind verloren!“, rufen die Männer. Sie sind wie gelähmt. Alle ihre gelernten Abläufe und Gewohnheiten helfen nicht mehr. Aus lauter Angst bekommen sie keinen Bissen mehr runter. Als erstes schöpft Paulus wieder Mut und ruft ihnen gegen den Wind zu: „Lasst euch nicht unterkriegen. Ich weiß es, keiner von uns wird untergehen. Ich vertraue auf Gott, dass es so sein wird. Auf irgendeine Insel werden wir zutreiben.“

Paulus bricht das Brot

Schwer zu glauben, wenn man gerade mitten im Getöse steckt. Vierzehn Tage dauert der Sturm. Da ahnen die Schiffsleute auf einmal mitten in der Nacht, dass Land in der Nähe ist. Ein paar Matrosen wollen mit dem Rettungsboot fliehen, aber Paulus macht ihnen klar: Wenn sie das tun, ist das Schiff verloren. Zum Glück hören die Seeleute auf Paulus und lassen von ihrem Plan ab. Das Schiff treibt frei durch die Nacht, und die Männer wünschen den Tag herbei. Als der Morgen graut, macht Paulus ihnen noch einmal Mut: „Ihr Männer, heute ist der 14. Tag, dass ihr nichts mehr gegessen habt. Esst von den Vorräten, die wir noch haben. Jetzt braucht ihr alle Kraft, damit ihr gerettet werdet.“ Als er das sagt, nimmt er ein Stück Brot, dankt Gott, bricht das Brot und beginnt zu essen.

Alle werden gerettet!

Es dauert eine Zeit, … aber dann fassen die anderen auch Mut, und alle Leute auf dem Schiff essen mit. Sie packen zusammen an, werfen alles geladene Getreide und die übrige Last von Bord. Als es hell wird, fährt das leicht gewordene Schiff auf einem Felsvorsprung auf. Der hintere Teil des Schiffes bricht auseinander. Aber vor ihnen liegt die Küste, das Land ist nicht weit entfernt. Die Leute schwimmen an Land oder sie kommen auf Planken und auf Schiffstrümmern dort an. Keiner von ihnen ertrinkt, alle werden gerettet, nicht nur die Schiffsleute, auch der römische Hauptmann Julius, seine Gruppe der Gefangenen und Paulus.

Not lehrt beten?

Wucherpfennig: Ob die Schiffsmannschaft über Gott nachgedacht hat, als sie auf dem Mittelmeer trieb? „Not lehrt beten“ sagt man, aber ich erlebe auch das Gegenteil: Wenn ich in Bedrängnis bin, versuche ich erstmal alles Mögliche, um selber Wege herauszufinden. So wie die Leute auf dem Schiff: Ballast abwerfen, verzweifelt gegensteuern, kopflose Rettungsversuche. Auch andere Menschen, die mitten aus der Fahrt ihres Lebens gerissen sind, stehen ratlos vor Gott – oder er kommt ihnen gar nicht erst in den Sinn.

"Gott wächst und mit ihm auch die Rettung"

Der deutsche Lyriker Friedrich Hölderlin hat Erfahrungen wie die der Leute auf dem Schiff so zum Ausdruck gebracht: „Voll Güt ist; // keiner aber fasset // Allein Gott. // Wo aber Gefahr ist, wächst // Das Rettende auch.“ Gott wächst und mit ihm auch die Rettung, aber nicht wie ein Deus ex machina. Den gab es im Theater und in der Oper, vor allem in der Romantik.

Gott ist kein "Deus ex machina"

In Situationen, in denen alles ausweglos schien, in denen nichts mehr ging, da kam auf einmal irgendwo aus der Bühnenmaschinerie die helfende Hand einer Gottheit, die alles Bedrohende platt gemacht und die Heldin oder den Helden aus der Gefahr gerettet hat. Dann war auf einmal alles gut. Das war ein Gott, der funktioniert. So funktioniert die Rettung im Seesturm der Apostelgeschichte aber nicht. Da wächst Gottes Nähe. Und damit das Rettende in dem Brot, das Paulus mit den verwundeten, ausgezehrten und verängstigten Menschen auf dem Schiff teilt.

Es ging nur noch ums Überleben

Helms: Ich glaube, beides hat miteinander zu tun: auf der einen Seite die Wunden, das am Ende aller Kräfte Sein und auf der anderen Seite das Teilen des Brotes. Der Sturm auf dem Weg nach Rom hat die Mannschaft und alle Leute auf dem Schiff an ihre Grenzen gebracht. Neben den körperlichen Verwundungen und dem Schiffbruch waren auch ihre gesamten Pläne zerstört. Was auch immer sie vorhatten, jetzt ging es nur noch ums Überleben.

"Ich will nicht, dass die anderen mich so schwach sehen."

Normalerweise versuche ich meine Wunden zu verbergen. Ich verbinde sie oder ziehe einen Pulli darüber. Ich rede nicht darüber. Oder ich wehre mich, werde kratzbürstig und schlage verbal um mich, wenn ich darauf angesprochen werde. Ich will nicht, dass die anderen mich so schwach sehen.

Die Kraft und Hoffnugn der Seeleute war aufgebraucht

Aber diese Möglichkeiten hatten die Seeleute nicht. Angst und Verzweiflung standen ihnen im Gesicht. Das Schiff lag in Trümmern. Alle Kraft hatte sie verlassen. Auch ihre inneren Vorräte waren offensichtlich aufgebraucht: ihre Kraft zu hoffen, ihr Lebensmut. Sie brachten keinen Bissen mehr runter.

Paulus hätte ja sagen können: Hättet ihr auf mich gehört, dann wäre das nicht passiert! Aber er tut genau das Gegenteil: Er lädt alle 276 Leute an Bord ein, mit ihm zu essen. Die Apostelgeschichte erzählt: Paulus nahm das „Brot, dankte Gott vor ihnen allen und brach’s und fing an zu essen“. (Apostelgeschichte 27, 35)

"In ihre Gemeinschaft an Bord ruft Paulus Gott hinzu"

Gemeinsam erlittene Wunden können verbinden. Zusammen lassen sich Verletzungen leichter verschmerzen. Meine Wunden können mich öffnen zum anderen hin. Durch die geteilte Angst entsteht eine besondere Gemeinschaft. Paulus weiß das. Mit dem Brot teilen sie auch ihre Angst und ihren Schmerz. In ihre Gemeinschaft an Bord ruft Paulus Gott hinzu. Er dankt Gott. Mitten in der schlimmsten Krise.

„Jesus nahm das Brot, dankte und brach’s und gab’s seinen Jüngern“

Wucherpfennig: Ich höre darin die Worte Jesu. Genauso hat Jesus es auch gesagt am Abend, bevor er verraten wurde, am Tag, bevor ihm schwere Wunden zugefügt wurden. Da saß er mit seinen Jüngern zusammen, nahm „das Brot, dankte und brach’s und gab’s seinen Jüngern“. (Matthäus 26, 26) Jesus, von dem seine Jünger glauben: Er ist der Messias, der Retter, der alle Verletzungen und Krankheiten heilen kann, der lässt sich selbst verwunden. Tödlich verwunden. Jesus, der Sohn Gottes, stirbt am Kreuz. Seine Wunden sind auch noch zu sehen, als Gott ihn vom Tod auferweckt.

Verwundbarkeit gehört zu Gott

Verwundbarkeit gehört zu Gott. So geht Gott – da in diesem verwundeten, gekreuzigten und auferstandenen Jesus. Das war ein Schock für die Jüngerinnen und Jünger. Erstmal völliger Stillstand. Sie haben sich im Haus verbarrikadiert. Aber dann bewegt es sie dazu, sich nicht zu verstecken, sondern sich neu zu öffnen. Dadurch verbinden sie sich neu miteinander. Das tröstet sie in ihrer Trauer. Sie nehmen Brot, danken Gott und teilen es untereinander, so wie Jesus es getan hat. Sie bekommen wieder Mut zum Leben.

Musik: Felix Mendelsohn Bartoldy, Sagt es, die ihr erlöset seid (Kammerchor Stuttgart mit Deutscher Kammerphilharmonie Bremen)

Wucherpfennig: Wie geht Gott? Für die Bibel hat eine Antwort auf diese Frage mit unserer Verwundbarkeit zu tun. Da, wo ich verletzt bin, wo ich äußere Verwundungen und innere Narben habe, da hat das Leben seine Spuren hinterlassen. Aber da bin ich auch Gott persönlich nahe, weil Verwundbarkeit zu Gott gehört. Das kann ich nicht immer leicht glauben.

Die Pandemie hat die ganze Menschheit getroffen

Für die Ereignisse im vergangenen halben Jahr habe ich es immer noch nicht ganz begriffen. In Deutschland sind wir bislang einigermaßen glimpflich durch die Pandemie-Krise gekommen. Aber weltweit hat sie viele Opfer gekostet, nicht nur Betriebsstillstände und gekürzte Gehälter, auch viele Menschenleben. Was das für Gottes Geschichte mit uns als Menschheit weltweit bedeutet, habe ich noch nicht ganz begriffen. Aber eines nehme ich aus der Geschichte von Paulus in der Seenot mit: Gott geht seinen Weg mit mir nicht so, dass ich allein aus der Krise heraus gerettet werde. Ich bin ein Teil einer großen Gemeinschaft von Menschen, die aus ihrem Leben herausgerissen worden sind. Die Pandemiekrise kann mich auch mit anderen verbinden.

Zusammen das Brot teilen in der Krise

Wer gemeinsam Brot bricht, Gott dafür dankt und es teilt, erinnert sich dabei an das letzte Mahl Jesu. Anne-Katrin Helms und ich haben das zusammen an Gründonnerstag getan. Das war mitten im Shutdown: Alle öffentlichen Gebäude und Einrichtungen hatten geschlossen, die meisten Läden waren zu. Auch die Kirchen hatten ihre Türen für öffentliche Gottesdienste geschlossen. Wir haben uns zusammen zu Hause getroffen und uns dort in einem kleinen Gottesdienst am Küchentisch an das Abendmahl Jesu erinnert. Das war keine katholische Eucharistie und kein evangelisches Abendmahl, aber wir haben zusammen ein Stück Brot geteilt und Wein getrunken.

Getrennt und doch verbunden

Helms: Viele Menschen haben mitgefeiert. Wir hatten den Ablauf und die Texte für diesen kleinen Gottesdienst in Briefkästen verteilt, per Email verschickt und auf die Webseite unserer Kirchengemeinde gestellt. Wir hatten die Uhrzeit angegeben, wann wir bei uns zu Hause diesen Gottesdienst feiern. So konnten andere in ihren Wohnungen und Häusern zeitgleich mitfeiern. Getrennt und doch verbunden. Manche waren allein für sich, manche in Gemeinschaft. Für mich war das ein wichtiger Moment, weil ich dabei neu gelernt habe, wie Gott geht. Er stellt mich in eine Gemeinschaft von verwundbaren und verwundeten Menschen hinein, mit denen ich das Brot teilen kann, wie Jesus beim Abendmahl und wie Paulus mit den Leuten auf dem Schiff. Wer Brot nimmt, Gott dafür dankt, es bricht und teilt – fügt sich in diese verwundbare Gemeinschaft ein. Mit dem Brot teile ich das Vertrauen und die Hoffnung, dass Gott uns in unseren Ängsten und Dunkelheiten nahe ist. So geht Gott.

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