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In Auschwitz
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In Auschwitz

Dr. Paul Lang
Ein Beitrag von Dr. Paul Lang, Diakon und Lehrer für Latein, Musik und Religion in Amöneburg
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Es ist gut 30 Jahre her. Widerstand regt sich. Die Solidarnosc-Bewegung versetzt nicht nur Polen, sondern den gesamten Ostblock in Aufregung. Bei Hafenarbeitern in Danzig nimmt sie ihren Ausgang. Beflügelt wird sie von einem polnischen Papst; Widerstand gegen ein System, das Europa mit einem eisernen Vorhang durchzogen hat.

Plötzlich wird diese Grenze durchlässiger. Ich sitze am Steuer eines Siebeneinhalbtonners. Beladen mit Babynahrung, Medikamenten, medizinischem Gerät – Hilfsgüter für die polnische Caritas. Mit einem Transitvisum geht es durch die DDR nach Görlitz; vorbei an Breslau weiter bis ins ferne Krakau.

Gerne hatte ich zugesagt, als Fahrer die Hilfsaktion zu unterstützen. Etliche Touren sind daraus geworden. Abenteuerlust spielte mit. Unplanbare Grenzkontrollen waren zu überstehen und jeweils einige Tage im LKW. Ein Visum gab es im Konsulat in Köln. Polen, das fremde Land lockte und Begegnungen mit Menschen, die ihrerseits Helfer waren.

Auf dem Rückweg von Krakau sehe ich das Hinweisschild: „Oświęcim“. „Du weißt, welcher Ort, das ist?“, fragt mein Begleiter. Ohne eine Antwort abzuwarten fährt er fort: „Auschwitz. Kein guter Ort. Du solltest ihn aber einmal gesehen haben.“

Ich wende ein: „Ich war als Jugendlicher mit meinen Eltern einmal in Dachau, im ehemaligen KZ. Wir haben das in der Schule gemacht. Bei uns in der Nähe war ein Zwangsarbeiterlager. Da war ich schon.“ „Lass uns trotzdem hinfahren“, beharrt mein Begleiter.„Das gibt dem, was wir machen, eine andere Note. Du wirst sehen.“

Eine halbe Stunde später sind wir in Auschwitz. Wir gehen unter der menschenverhöhnenden Aufschrift hindurch: „Arbeit macht frei“. Wir trennen uns.

Baracke für Baracke schaue ich mir die Dokumentation der Gräueltaten an. Theoretisch, das stimmt, war mir das bewusst. Das hatten wir in der Schule besprochen, auf Bildern und in Filmen gesehen: die Zahnbürsten, die handlichen Koffer. Schüsseln, Bürsten und was nicht alles. Überbleibsel von jedem einzelnen Häftling.

Nur: Jetzt sehe ich das alles. Nicht auf einem Bildschirm, nicht auf einer Abbildung, sondern ganz echt, authentisch. Auf die Mengen bin ich nicht gefasst. Das sind nicht zehn oder hundert – das sind Tausende, Abertausende von Zahnbürsten, Koffern, Schuhen. Dann der Raum mit Prothesen, künstlichen Armen und Beinen, schließlich Brillen, Tausende und Abertausende.

Als ich im nächsten Block einen Berg von Menschenhaar vor mir sehe, kann ich nicht weiter. Ich verlasse die Baracke, Tränen in den Augen, einen Kloß im Hals.

Zurück im LKW. Schweigend sitzen wir im Führerhaus, ein oder zwei Stunden später. Uns ist nicht nach Sprechen. „Die Zunge klebt mir am Gaumen. Meine Kraft ist vertrocknet. Eine Rotte von Bösen umlagert mich.“ Ein Psalm. Christus schreit seinen Beginn am Kreuz aus. „Mein Gott, warum hast du mich verlassen!“

Auschwitz. Nicht in Worte zu fassen, was Menschen tun können. Heute vor 75 Jahren ist Auschwitz befreit worden.  

 

 

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