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Einfalt in der Vielfalt
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Einfalt in der Vielfalt

Andrea Wöllenstein
Ein Beitrag von Andrea Wöllenstein, Evangelische Pfarrerin i. R., Marburg
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In vielen Städten und Kommunen stehen sie am Ortseingang. Die Schilder mit der Aufschrift: „Ort der Vielfalt“. Ich selber lebe in so einer Stadt. „Marburg, Ort der Vielfalt.“ Hier leben Menschen aus 178 Nationen. Hier studieren junge Leute viele verschiedene Fachrichtungen. Hier leben Christen, Juden und Muslime. Ein buntes, lebendiges Miteinander.

Vielfalt ist heute ein durchgängig positiver Begriff. Vielfältige Möglichkeiten. Ein vielfältiges Sortiment, vielfältige Begabungen – wer wünscht sich das nicht?! Auch die interkulturelle Woche 2016 hat das Wort in ihrem Motto: „Vielfalt. Das Beste gegen Einfalt.“ Ich verstehe, was gemeint ist: Eine Gesellschaft, deren Vielfalt ihre Stärke ist. Das brauchen wir, so sind wir! Davon bin ich überzeugt. Aber damit das so bleibt und weiter gelingt, brauchen wir auch das andere. Die Einfalt. Warum?
Einfalt ist ein Wort, das in unseren Ohren negativ klingt. Einfältig – das ist so viel wie dumm, töricht, beschränkt. Wer will, bitte schön, ein Einfaltspinsel sein? Gutgläubig und naiv? Dabei hatte das Wort ursprünglich eine positive Bedeutung. Der griechischen Kunst wurde „edle Einfalt und stille Größe“ zugeschrieben. Ein-fältig bedeutete so viel wie einfach, im Sinne von aufrichtig und rein. Klar, nicht doppelbödig, ungeteilt. Auch in der Bibel und in den alten Kirchenliedern ist Einfalt eine positive Eigenschaft. Etwas, das ich immer wieder einüben muss. Um das wir bitten sollen: „Mache mich einfältig, innig, abgeschieden, sanft und still in deinem Frieden.“ (EG 165,7) Aus der Vielfalt in die Einfalt. Aus der Zerstreutheit in die Sammlung. Wir brauchen das. Als Einzelne und als Gemeinschaft. Momente, in denen wir zur Ruhe kommen. Wo wir ganz bei uns sind. Ganz im Augenblick.
In der Einfalt liegt die Kraft, die ich brauche, um Vielfalt zu leben und zu genießen. Sonst kann das Gegenteil eintreten: Dass Vielfalt Angst macht. Genau das erleben wir ja heute. Dass Menschen verunsichert sind. Dass sie Fremdes abwehren, weil sie sich in ihrer Identität bedroht fühlen.

Meditation und Gebet führen uns in die Einfalt. Aber auch ein Moment, wo ich mich bewusst reduziere. Ganz Ohr bin beim Hören von Musik. Ganz Auge, beim Betrachten eines herbstlich gefärbten Blattes, ganz Mund beim Genießen meines Frühstücks. Wir brauchen beides. Vielfalt und Einfalt. Vielfalt ist das Beste gegen Einfalt. Und Einfalt ist das Beste für Vielfalt.

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