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Wie weit noch?

Wie weit noch?

Dr. Paul Lang
Ein Beitrag von Dr. Paul Lang, Diakon und Lehrer für Latein, Musik und Religion in Amöneburg

„Alles gut?“ Am Wegrand lehnt eine Frau mittleren Alters, die Augen geschlossen, ihren Rucksack neben sich gestellt, den Hut in den Nacken geschoben. „Ça va?“, „Va bene?“ probiere ich es weiter, als keine Reaktion von ihr kommt. Die Wanderin öffnet die Augen. Langsam, hörbar erschöpft, antwortet sie: „Ja, alles gut.“ Und dann fragt sie: „Wie weit ist es noch?“
„Wie weit? – Keine Ahnung“, antworte ich. „Nach Santiago noch 96 Kilometer“, füge ich rasch hinzu. Immerhin bin ich gerade an einem Wegweiser vorbeigekommen. Auf dem Camino, dem traditionsreichen Weg der Pilger nach Westen, stehen sie alle paar Hundert Meter. Unter einer gelben Muschel auf blauem Grund stand diese Zahl: 96 Kilometer.
„Nein nein“, antwortet mein Gegenüber, offenbar habe ich ihre Frage falsch verstanden. „Wo wollen Sie denn hin?“ frage ich nach. „Nach Portomarín.“ „Das ist weniger“, beruhige ich sie. „Vielleicht noch fünf oder sechs Kilometer.“ Beim Weitergehen sinne ich über die Begegnung nach: „Wie weit ist es noch?“ Kinder fragen das auch. Gerne auch ein paar Mal öfter, als es Erwachsenen lieb ist „Wie weit ist es noch?“ Ein Kind erwartet auf diese Frage jedenfalls keine Kilometerangabe. Eine Antwort auf die „Wie-weit-noch“-Frage bei Kinder verlangt einiges an Kreativität. Wieviel mal noch aufstehen, wieviel mal noch dies oder das - eine Bezugsgröße, die einem Kind vertraut ist. Oft bedeutet die Frage aber einfach auch nicht viel anderes als einen Seufzer: „Ich möchte ankommen, ich will ans Ziel!“ So klang auch die Frage der Frau auf dem Camino. Das ist eine menschliche Sehnsucht: Ans Ziel kommen, es geschafft haben, nichts mehr leisten müssen, das Ende von Qualen und Mühen. Nicht nur auf dem Camino, dem Weg zum Grab des Apostels Jakobus in Spanien, sagt man Pilgern manchmal: „Der Weg ist das Ziel.“ Das ist falsch, finde ich, und doch irgendwie auch richtig. Es ist richtig und hilfreich, einen Weg, Schritt für Schritt bewusst zu gehen; ihn zu genießen wie jeden Tag des Lebens. Das tut gut und gehört zum Ziel. Insofern ist der Weg zumindest Teil des Ziels. Missverstanden wäre der Satz aber, wenn er heißen soll, dass sich unser Leben im Tun erschöpft, das es alles ist, den Lebensweg zu gehen und danach nichts mehr kommt.
Unser Weg, unser Leben hat ein Ziel. „Leben in Fülle“ nennt Jesus das oft im Evangelium. Alles, was jetzt schon gelingt, das Gute, das ich erlebe, das gehört dazu. „Leben in Fülle“ will keine Durchhalteparole sein. Das hat Karl Marx zu Recht als billige Vertröstung, als Opium, als Betäubung gebrandmarkt. Das würde daran hindern, diese Welt zu optimieren.
„Wie weit ist es noch?“ Ich weiß es nicht. Aber wir sind auf dem Weg. Auf einem guten Weg. Der kann uns heute ein gutes Stück vorwärts bringen. Und er kann uns ein bisschen auf den Geschmack bringen, wie es am Ziel sein wird. 

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