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Wenn Gott als Kind zur Welt kommt
Bild: Jäger/Privat

Wenn Gott als Kind zur Welt kommt

Andrea Wöllenstein
Ein Beitrag von Andrea Wöllenstein, Evangelische Pfarrerin, Marburg
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Was wäre Weihnachten ohne Weihnachtsgeschichten?

Was wäre Weihnachten ohne Weihnachtsgeschichten?
"Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging …" (Lukas 2,1), so beginnt der Evangelist Lukas seine Geschichte. Sein Kollege Matthäus erzählt von drei Weisen, die einen Stern sehen und sich auf den Weg machen. Im Laufe der Jahrhunderte sind viele Geschichten dazugekommen. Geschichten und Legenden, die weitererzählen und ausdeuten, was damals im Stall von Bethlehem geschehen ist.

Alle erzählen: Gott ist in einem Kind zur Welt gekommen

Alte und neue, jedes Jahr. Manche sind tiefsinnig und anrührend, andere unterhaltsam oder einfach zum Schmunzeln. Sie erzählen dasselbe immer wieder neu: Gott zur Welt gekommen in einem Kind. Nicht als König in einem Schloss, sondern in einfachen Verhältnissen. In einem Stall. Geboren von einer Frau.

Musik: Heinrich Schütz, Introduktion zu der Geburth unseres Herren

Die älteste Weihnachtsgeschichte stammt von Paulus

Die vielleicht älteste Weihnachtsgeschichte stammt aus der Feder des Apostel Paulus. Kurz und knapp schreibt er an die Gemeinde in Galatien über die Geburt Jesu. Mit nur einem Satz. Sachlich und nüchtern, ohne irgendetwas auszumalen.
„Als aber die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn,
geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan.
Damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste,
damit wir die Kindschaft empfingen. (Gal 4, 6.7)

Paulus interessiert nur die Tatsache der Geburt

Paulus interessiert an Weihnachten nur die Tatsache: Gott wird Mensch. Geboren von einer Frau, so wie jede und jeder von uns. Unter das Gesetz getan, als Jude und als Mensch, wie wir alle den Gesetzmäßigkeiten des Menschseins unterliegen.
Es ist das einzige Mal überhaupt, dass Paulus in seinen Briefen die Geburt Jesu erwähnt. Die Weihnachtsgeschichten von Lukas und Matthäus kannte er nicht. Die Evangelien waren noch gar nicht geschrieben.

Erst die Briefe des Paulus, dann die Evangelien

Die Bücher des Neuen Testaments sind ja nicht chronologisch angeordnet, also in der zeitlichen Reihenfolge ihrer Entstehung. Erst die Evangelien, dann die Briefe. Es ist anders herum: Zuerst hat Paulus seine Briefe geschrieben, dann haben Markus, Matthäus, Lukas und Johannes aus dem, was sie gesammelt hatten, ihre Bücher zusammengestellt.

Der erwachsene Jesus fand mehr Interesse

Nicht die Kindheit war interessant und erwähnenswert, sondern der erwachsene Jesus. Seine Worte und Taten. Sein Kreuz und seine Auferstehung. Erst von da ist später auch Licht auf seine Geburt gefallen. Die Leute hatten mit Jesus etwas erlebt.

Wenn sie mit ihm zusammen waren, haben sie gespürt: Gott ist bei uns. Wenn sie ihm zugehört haben, haben sie verstanden: Gott ist nicht der ferne, unerreichbare. Gott ist uns nah. Wenn sie gesehen und erlebt haben, wie er Menschen angesprochen, ihre Krankheiten geheilt und sie in die Gemeinschaft zurückgeholt hat, haben sie gespürt: Gott interessiert sich für uns. Das haben sie weitererzählt.

Erst nach Ostern wurde gefragt: Wo kommt Jesus her?

Und - irgendwann nach Ostern haben sie sich gefragt: Wie war das eigentlich vorher, bevor wir ihm begegnet sind? Wo kommt er her? Wer sind seine Eltern? Wie ist er aufgewachsen?

Die Geburtsgeschichten sind wie Erzählpredigten

Die Geburtsgeschichten sind wie Erzählpredigten. Im Erzählen machen sie deutlich: Jesus Christus ist von Anfang an zum Messias bestimmt. Menschliche Niedrigkeit und göttlicher Glanz, das war von Geburt an so angelegt. Am Anfang der Stall, am Ende der Galgen. Am Anfang der Stern in der Nacht, am Ende die Sonne des Ostermorgens. Mit ihren Geschichten vom Stall, von Hirten, Engeln und Sterndeutern haben die Evangelisten das Leben des Gekreuzigten und Auferstandenen sozusagen nach vorne hin abgerundet. Die Weihnachtsgeschichte bestätigt, was die Sterbegeschichte behauptet: Gott ist Mensch geworden. Von Anfang bis zum Ende.

Musik: Gelobet seist du Jesus Christ, EG 23,1, 2 und 7

"Geboren von einer Frau"

"Geboren von einer Frau". Welche Wertschätzung und zugleich welche Ungeheuerlichkeit steckt in diesem kurzen Satz! Jesus wurde geboren. In Blut und Schleim, unter Schmerzen und Stöhnen hat eine Frau ihn zur Welt gebracht. Gott hätte auch anders zur Welt kommen können. Als Engel, als Himmelswesen oder wie die Götter der Antike mit einem feurigen Wagen … Aber nein. Gott wird Mensch so wie wir alle, von Anfang an. Geboren von einer Frau.

Wieso wurde Maria verehrt und andere Frauen verachtet?

Wie konnte es kommen, dass in der christlichen Kirche, an deren Anfang eine Frau eine so bedeutende Rolle hat, Frauen an den Rand gedrängt worden sind? Maria wurde zur Himmelskönigin erhoben. Eine blutleere Jungfrau, die ihr Kind unbefleckt empfangen und ohne Schmerzen geboren hat. Die irdischen Frauen dagegen wurden verachtet und unterdrückt. Die biologischen Vorgänge von Menstruieren und Gebären, die Leben ermöglichen und zur Welt bringen, sind mit Scham und Tabu belegt worden. Wer vom Wunder der Weihnacht spricht, müsste eigentlich anders lehren. Sollte Frauen und ihre Körper wertschätzen. Kaum auszudenken, wie sich die Kirche und ihre Lehre entwickelt hätte, wäre diese unerhörte Botschaft "Geboren von einer Frau" wirklich gehört worden.

Gott wird Körper

Gott wird Körper. Kommt hinein in unser Fleisch und Blut. Davon singen auch unsere Weihnachtslieder. "In unser armes Blut verkleidet sich das ewig Gut". (EG 23,2) Die Theologie nennt das: "Inkarnation" - Fleischwerdung. Im christlichen Glauben geht es zuinnerst um diese Verkörperung. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“. Damit beginnt Johannes seine Weihnachtsgeschichte. Gott ist Mensch geworden, Körper. Leib für uns gegeben. Diese Wertschätzung hat unser Körper in der christlichen Tradition selten erfahren. Im Gegenteil. Der Geist gilt als das Wahre, Wichtige. Der Körper hat zu gehorchen und zu funktionieren. Wo lernen wir, unseren Körper zu achten? Ihn zu verstehen, zu lieben, seine Bedürfnisse zu respektieren?

Der Körper - ein Ort, an dem wir Gott begegnen

Glaubt man der Weihnachtsgeschichte, dann ist der menschliche Körper ein Sakrament. Ein Ort, an dem wir Gott begegnen. Keine lästige Hülle. Er hat geistliche Qualität. Glaube geschieht nicht nur im Kopf. Unser ganzer Leib ist Erfahrungs- und Wohnraum Gottes. "Euer Körper ist ein Tempel des Heiligen Geistes, der in euch wohnt," bekräftigt Paulus an anderer Stelle (1. Kor. 6,19)

Musik 3: Johann Crüger, Fröhlich soll mein Herze springen EG 36,1.2

Gott kommt hinein in unser Fleisch und Blut

Gott wird Mensch. Kommt hinein in unser Fleisch und Blut. Dahin, wo unsere Kraft zu Hause ist und unsere Lust, unsere Lebensfreude und Lebendigkeit. Aber auch unsere Schmerzen und unsere Schwächen. Wo Corona uns die Luft zum Atmen nimmt. Wo der Krebs sich hineinfrisst, das Alter, die Erschöpfung - da hinein kommt Gott. Da will er empfangen werden von dir und von mir. "Gott wird Mensch, dir Mensch zugute. Gottes Kind, das verbindet sich mit unserem Blute." (EG 36,2)

Der Schöpfer kommt nicht als Macher

Der Schöpfer des Lebens kommt nicht als Macher. Nicht als einer, der immer schafft und tut. Sondern als Kind, das in einer Krippe liegt und ruht. Das bedürftig ist, offen zu empfangen. Wenn der große Gott so klein wird und schwach, dann muss ich mich meiner Schwachheit nicht schämen. Dann ist Bedürftig-sein, kein Mangel. Und Nehmen nicht besser als Geben. Dann darf auch ich mich legen und ruhen. Mich und meine Pläne, meine Sorgen und Ängste in Gottes Hand legen, die wie eine Krippe ist. Wie ein Boden, der mich trägt und stützt.

Die Weihnachtsgeschichten erzählen die menschliche Seite Gottes

Die Weihnachtsgeschichten, die Bilder der christlichen Kunst, auch unsere Krippenspiele am Heiligen Abend - sie alle erzählen die menschliche Seite der Christgeburt. Ganz körperlich, ganz sinnlich: Die Hirten schenken dem Kind ein warmes Fell, es zu wärmen. Eine Kanne Milch, Brot und Käse zur Stärkung für die Mutter. Die Engel bringen Licht und Glanz in die dunkle Hütte. Der unwirtliche Ort wird zu einem Zuhause. So heimelig, so heilig, dass man selber gerne dabei wäre, um diesem Kind etwas zu bringen und es zu schützen.

Auch heute ist unser Leben gefährdet

Denn das Leben dieses Kindes ist gefährdet. Damals waren es die Häscher des König Herodes. Heute erfahren wir auf andere Weise, wie gefährdet und verletzlich unser Leben ist. Ein Virus geht um die Welt, und wir können es bisher nicht aufhalten. Wir dachten, mit dem Impfstoff hätten wir gewonnen – aber es kommen neue Mutationen. Wir dachten, die Not schweißt uns zusammen – aber es geht ein Riss durch unsere Gesellschaft und durch die Welt. Was vorher schon nicht zusammen war, kommt jetzt ans Licht. Wir haben unser Leben nicht im Griff. Trotz Medizin und technischem Fortschritt sind und bleiben wir verletzlich wie das Kind von Bethlehem.

Kinder sind schwach und haben gleichzeitig eine besondere Stärke

Kinder sind schwach und gleichzeitig haben sie eine Stärke, die Erwachsene nur selten besitzen: Sie können zaubern! Beobachten wir nur, was geschieht, wenn sich jemand über das Bett eines kleinen Kindes beugt! Verschlossene Mienen öffnen sich. Ein Lächeln erhellt das Gesicht. Nichts weckt so sehr unser Mitgefühl wie ein Kind. Die Stärke in uns, zu helfen und zu schützen. Kinder können uns verzaubern. Vielleicht, weil sie uns in Kontakt bringen mit dem Kind in uns. Mit unserer eigenen Lebendigkeit und mit der Hoffnung, dass es auch für uns immer wieder einen Anfang gibt, ein Ende von Angst und Not, eine Freude ohne "warum" und "wozu".

Musik: Franz Wüllner, Kindelein zart, von guter Art 

In unserer Welt gelten andere Werte

Wenn wir sehen, was gilt in unserer Welt, könnte man meinen: Gott ist als Herrscher gekommen, als Banker oder als Wirtschaftsfachmann. Das sind Werte, die zählen: Geld, Gewinn, Wachstum. Da wird investiert, damit kann man etwas werden und verdienen. Nicht im Kindergarten oder im Altersheim, nicht in der Bekämpfung der weltweiten Armut oder im Umweltschutz.

Das Kind lieben und auch das Kind in uns

Weihnachten spricht die andere Seite in uns an. Gott sagt uns: „Ich komme als Kind auf diese Welt, damit ihr das Kind lieben lernt, auch das Kind in euch selber. Das Zarte und Verwundbare – ihr müsst es nicht bekämpfen oder verdrängen. Ihr könnt Ja sagen zu dieser Seite eurer Menschlichkeit. Es ist das Kostbarste, was ihr habt.

Weil es eure Stärke freisetzt: Die Fähigkeit, zu lieben, euch einzusetzen mit dem, was ihr seid und was ihr könnt, ohne zu rechnen.

Hingabe wagen

Hingabe zu wagen. Und glaubt mir: Diese Rechnung geht auf. Teilen macht nicht arm. Das, was das Leben lebenswert macht, wächst uns zu aus dem, was wir miteinander teilen.“

"Als aber die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn,
geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan.
Damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste,
damit wir die Kindschaft empfingen (Gal 4, 6.7)."

Christus ist gekommen, um uns zu erlösen

Christus ist gekommen, um uns zu erlösen. Um uns frei zu machen von dem, was einengt, was klein macht und bedrückt.
Welche Erlösung wünsche ich mir an diesem Weihnachtsfest? Welche Not, welche Sorgen und Ängste möchte ich in die Krippe legen? Wohin richtet sich meine Sehnsucht und meine Hoffnung?

Gottes Weihnachtsgeschenk an uns

Damit wir "die Kindschaft" empfingen. Das ist nicht die Verheißung für eine ferne Zeit. Es ist Gottes Weihnachtsgeschenk für uns. Ein Geschenk, das bleibt, wenn die anderen Gaben unterm Weihnachtsbaum längst weggeräumt sind. Wir sind Gottes Kinder. Gottes Söhne und Gottes Töchter. Was in Jesus vollkommen ist, das ist auch in uns angelegt. Menschenkind und Gotteskind. Ganz auf der Welt und doch nicht nur von dieser Welt.

Gott selber wohnt auch in uns

Weihnachten erinnert uns daran: Das Licht, die Liebe, Gott selber wohnt auch in uns. Und kommt immer wieder neu durch uns in die Welt. Wird geboren von uns Frauen und von euch Männern. An jedem Ort, an jedem Tag. Dank sei Gott.

Musik: Heinrich Schütz, Beschluß der Geburt unseres Herren

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