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Stille Nacht: tröstlich und politisch
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Stille Nacht: tröstlich und politisch

Dr. Peter Kohlgraf
Ein Beitrag von Dr. Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz
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Dieses Weihnachtsfest 2020 ist wirklich in vielerlei Hinsicht besonders. In den Kirchen finden Gottesdienste mit nur wenigen Menschen statt. Viele Menschen feiern kleine Gottesdienste zuhause: Sie lesen die biblische Weihnachtsgeschichte, singen Weihnachtslieder, beten das „Vater unser“. Für viele Menschen ist dies aber auch ein einsames Weihnachten: Treffen mit Familie und Freunden sind nur begrenzt möglich, Telefonate oder Videobegegnungen nur ein schwacher Ersatz. Besonders am Heiligen Abend war vieles anders als sonst. Ich gebe zu: Der große, stimmungsvolle Gottesdienst hat mir sehr gefehlt, und genauso habe ich das gemeinsame Singen von Weihnachtsliedern vermisst. An vielen Orten ist es ein fester Brauch, am Ende der abendlichen Christmette das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ zu singen. Und für viele ist erst dann „richtig“ Weihnachten.

Musik 1: „Stille Nacht“, erste Strophe (CD: Christmas around the world, German Brass & Windsbacher Knabenchor, Track 10)

„Stille Nacht, heilige Nacht“-Singen berührt und bewegt

Wer singt, betet doppelt, heißt es. Singen bringt Herz und Verstand zum Schwingen; und Singen führt Menschen auf einmalige Weise zusammen. Das scheint mir besonders für das Lied von der „Stillen Nacht“ zu gelten. Nicht selten habe ich es in meinen Jahren als Seelsorger erlebt, dass gerade beim Singen dieses Weihnachtsliedes Menschen die Tränen in den Augen standen. Vor einigen Jahren habe ich die Christmette in einer Justizvollzugsanstalt gefeiert, und auch dort wurde es bei „Stille Nacht, heilige Nacht“ sehr emotional. Den Männern dort stand eine wirklich stille Nacht bevor. Ich kann mir vorstellen, dass auch in der Heiligen Nacht in diesem Jahr manchen die Tränen kamen, denn für viele Menschen war es eine schmerzlich stille Nacht, eine einsame Nacht. Und vielleicht ist nicht nur die „Stille Nacht“ so still, sondern auch noch die Weihnachtsfeiertage und dieses ganze Weihnachtswochenende.

Ein Lied erklingt in 320 Sprachen

Aber das Lied weckt bei vielen Menschen nicht nur Tränen der Traurigkeit, sondern oft auch: Tränen der Sehnsucht oder der Hoffnung. Das Lied will Hoffnung schenken. Auf einzigartige Weise rührt es Menschen an. Es ist in über 320 Sprachen und Dialekte übersetzt, die Unesco hat es zum Weltkulturerbe erklärt, Papst Franziskus hat es einmal als sein liebstes Weihnachtslied bezeichnet. Manchem ist es zu rührselig, schon vor 100 Jahren gab es auch Kritik und Spott an der gefühligen Heiligabend-Stimmung des Textes und der Melodie, die nichts von der „harten Krippe“ anderer Lieder aufgreift. Aber die Beliebtheit dürfte überwiegen. Vor Jahren war ich mit Freunden in Ägypten bei italienischen Ordensschwestern zu Gast; als Gastgeschenk wünschten sie sich von uns, dass wir „Stille Nacht, heilige Nacht“ singen – mitten im ägyptischen Frühjahr bei 40 Grad Hitze.

Ein Weihnachtslied aus der Not heraus geboren

Hören wir „Stille Nacht, heilige Nacht“ in den Weltsprachen arabisch.

Musik 2: „Silent Night“, Strophe in arabisch (CD: Pink Martini, Joy of the world, Track 13)

Um unser Lied ranken sich viele Geschichten, Anekdoten und auch reale Begebenheiten. Schon die Entstehung ist legendär: Das Lied soll im Jahr 1818 aus einer Not heraus geboren worden sein: Weil die Kirchenorgel defekt war, haben Pfarrer und Lehrer in der kleinen Stadt Oberndorf bei Salzburg das Lied gedichtet und komponiert. Mit Gitarrenbegleitung haben sie es dann in der Christmette erstmals zu Gehör gebracht. Vermutlich hat sich das nicht so zugetragen. Aber dass es solche Legenden um das Lied gibt, zeigt ja schon, wie besonders es ist und welche Beliebtheit es in den letzten zweihundert Jahren bekommen hat. Allerdings hat es sich nicht in seiner vollständigen Fassung gehalten. Von den ursprünglich sechs Strophen werden heute normalerweise nur noch drei gesungen.

Gott begibt sich in das Elend und die Einsamkeit dieser Welt

Dabei sind die heute fast vergessenen Strophen durchaus gehaltvoll: Dort wird der Abstieg des Gottessohnes in die Niedrigkeit der Menschengestalt besungen: „Aus des Himmels goldenen Höh`n / Uns der Gnaden Fülle lässt seh’n / Jesus in Menschengestalt“ – heißt es in einer Strophe. Und weiter spricht das Lied davon, dass der Gottessohn unser Menschenbruder wird: Als „unser Bruder“ umschließt er „huldvoll“ „die Völker der Welt“. Er einigt sie in Frieden und erfüllt so die uralte Sehnsucht der Menschen. Auf einmal ist der Text gar nicht mehr so rührselig, sondern rührt an den Kern christlicher Verkündigung: Gott wird Mensch, er steigt herab in Armut und Elend und Einsamkeit dieser Welt. Gerade in diesem Jahr entfaltet das Lied für mich seine tröstende Botschaft. Das Lied löst bei vielen Menschen tiefe Gefühle aus und das halte ich für durchaus hilfreich. Und dennoch bleibt es für mich keineswegs beim Gefühl stehen: Es spendet Trost, den Trost der weihnachtlichen Botschaft: Gott ist Mensch geworden.

Musik 3: „Stille Nacht“, ursprüngliche dritte Strophe („Jesus in Menschengestalt“) (CD: Geistliches Wunderhorn. Windsbacher Knabenchor / Ltg. Karl-Friedrich Beringer, Gitarre: Jochen Roth, Track 20)

Der Retter kommt, als das irdische Dunkel am größten ist

Das Lied besingt die Weihnacht, die Heilige Nacht. In der Vorstellung vieler ist es selbstverständlich, dass Jesus in der Nacht im Stall zu Bethlehem geboren wurde. Seit dem Mittelalter bezeichnen Christen die Heilige Nacht als „Weihnacht“, als die geweihte Nacht. Tatsächlich erzählt der Evangelist Lukas davon, die Hirten hätten Nachtwache gehalten, als die Engel ihnen erschienen (vgl. Lukas-Evangelium 2,8). Doch ist dies mehr als eine Zeitangabe. Nacht ist Symbol für das vielfältige Dunkel der Welt, für die Not der Menschen. Die Nacht war immer auch Sinnbild des Todes. So spricht der Evangelist Lukas bereits in der Weihnachtsgeschichte die Hoffnung aus auf Überwindung aller Not, allen Dunkels, der Einsamkeit, ja sogar des Todes. Mitten in die Nacht der Menschen kommt der Retter, in der Gestalt des Kindes. Für Christen ist diese Rettung in der Nacht schon angekündigt im alttestamentlichen Buch der Weisheit, da heißt es: „Als tiefes Schweigen das All umfing und die Nacht bis zur Mitte gelangt war, da sprang dein allmächtiges Wort vom königlichen Thron mitten in das dem Verderben geweihte Land.“ (Weisheit 18,14). „Wohl zu der halben Nacht“heißt es in„Es ist ein Ros entsprungen“, einem anderen alten Weihnachtslied, Gott kommt als Retter, als das irdische Dunkel am größten ist. Hier trifft uns „die rettende Stund‘“, „Christ der Retter ist da“.

Musik 4: „Es ist ein Ros entsprungen“, erste Strophe (CD: Singphonic Christmas, Die Singphoniker, Track 3)

Sehen wir das Licht am Ende des Tunnels?

Gerade erleben auch wir eine sehr dunkle Zeit, jetzt in der Pandemie. Menschen früherer Jahrhunderte bewältigten ihre harte Wirklichkeit, weil es für sie eine Hoffnung gab – Hoffnung auf ewiges Leben, auf Erlösung und Befreiung von der Schuld. Nehmen wir unsere Welt noch so wahr? In den Monaten der Pandemie werden wir, wie nur mehr selten, an unsere Vergänglichkeit erinnert. Der Glaube an ein ewiges Leben ist für mich keine Vertröstung. Das Licht des Glaubens gibt mir und vielen Menschen bereits jetzt Licht, Trost und Hoffnung. Das Licht, das Jesus verbreitet, ist so anders als die vielen kleinen Lichter dieser Welt! Wir haben in dieser Welt so viel künstliches Licht geschaffen, dass uns auch der Tod scheinbar nicht mehr bedrängt. Wir haben den Tod gekonnt verdrängt. Auch mit Krankheit und Vergänglichkeit beschäftigen wir uns nicht gerne. Aber genau von diesem Dunkel sprechen die Texte der Weihnacht. Genau in diese Angst und Furcht kommt das wahre Licht. „Wer glaubt, ist nie mehr allein“, hat Papst Benedikt XVI. einmal formuliert.

Den Blick auf das eine Licht nicht durch künstliche Lämpchen ablenken lassen

Ich habe nichts gegen die Weihnachtsseligkeit und Gemütlichkeit. Ich freue mich auch daran. Ich zünde Kerzen an, höre schöne Musik und freue mich auf ein schönes Essen im Kreise lieber Menschen. Der Grund tiefster Freude aber ist das Licht inmitten des größten Dunkels. Die Weihnachtsgeschichten sind keine lieblichen Kindergeschichten; vielmehr künden sie bereits vom österlichen Glanz. Ich denke, wenn ich so etwas sage, an viele Menschen, die großes Leid hinter sich haben oder mitten darin stecken, auch in meinem persönlichen Bekannten- und Freundeskreis. Ihnen hilft kein Gefühlsrausch und kein künstliches Licht. Ihnen hilft eher das Licht, das von der Krippe ausgeht. Es wäre fatal, wenn wir vor lauter Lämpchen das eine Licht nicht mehr wahrnehmen würden. Daher trifft die Aussage des Liedes zu: Es ist heilige Nacht.

Musik 5: „Stille Nacht“, erste Strophe (CD: Weihnachtslieder, van Veen / Koopman, Das Amsterdamer Barockorchester & Avro Kinderchor, Track 16)

Tiefer sehen – und in meinen Mitmenschen Gottes Schönheit entdecken

Unser Lied sagt auch etwas über das Äußere des Jesuskindes: „Holder Knabe im lockigen Haar“ heißt es gleich in der ersten Strophe, die wir soeben nochmals gehört haben. Und an einer anderen Stelle: „Oh wie lacht, Lieb aus deinem göttlichen Mund“. Die Beschreibung des Jesuskindes als „holder Knabe im lockigen Haar“ wirkt fast kitschig. Darin spiegelt sich wohl ein Schönheitsideal der Entstehungszeit des Liedes wider, das in bestimmten mittelalterlichen Vorstellungen seine Wurzeln hat: Die Menschen damals stellten sich Jesus als äußerlich vollkommenen, schönen, makellosen Menschen vor. Nehmen wir allen Kitsch weg, bleibt die Aussage: In Jesus hat sich die ganze Schönheit Gottes offenbart. Und in jedem Menschen leuchtet die Schönheit Gottes auf, so möchte ich das Lied deuten. Wer in jedem Menschen die Schönheit Gottes entdecken kann, reduziert ihn nicht auf seine Nützlichkeit. Wenn Gott zu uns kommt, in der Armut und der Schönheit des Kindes gleichermaßen, dann verwandelt er den Menschen von innen her und lässt in jedem Menschen etwas von seiner Schönheit durchstrahlen – gerade auch im Kleinen, Armen, Unscheinbaren.

Unsere Mitmenschen als Bereicherung, nicht als Bedrohung erkennen

Plötzlich hat dieses so rührselig anmutende Lied eine politische Botschaft. Ich darf auf mich schauen und darüber staunen, dass Gott mich so wunderbar geschaffen hat: „Du hast ihn [den Menschen] nur wenig geringer gemacht als Gott, du hast ihn gekrönt mit Pracht und Herrlichkeit“, heißt es in Psalm 8. Dieses Staunen über die Großartigkeit des Menschen weitet der christliche Glaube auf jeden einzelnen Menschen aus. Papst Franziskus hat vor wenigen Wochen eine Enzyklika, ein Lehrschreiben, über „die universale Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft“ veröffentlicht. Er wagt es zu träumen. Er träumt von einer Welt, in der andere Menschen als Reichtum und nicht als Bedrohung empfunden werden. Er träumt von einer Welt des Friedens. Mancher hat dies als naiv kritisiert. Der Papst ist, so glaube ich, nicht naiv. Aber er ist davon überzeugt: Die Welt kann sich erst verändern, wenn sich viele Menschen diesem Traum anschließen und sich von ihm für ihr Handeln anspornen lassen. Übrigens ist dieser Traum bereits biblisch. In der Liturgie der Heiligen Nacht wird in jedem Jahr aus dem Buch des Propheten Jesaja gelesen: „Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht; über denen, die im Land des Todesschattens wohnten, strahlte ein Licht auf. (…) Denn sein drückendes Joch und den Stab auf seiner Schulter, den Stock seines Antreibers zerbrachst du wie am Tag von Midian. Jeder Stiefel, der dröhnend daher stampft, jeder Mantel, im Blut gewälzt, wird verbrannt, wird ein Fraß des Feuers. Denn ein Kind wurde uns geboren, ein Sohn wurde uns geschenkt. Die Herrschaft wurde auf seine Schulter gelegt.“ (Jesaja 9,1-5).“ Auch der Prophet träumt von einer Welt des Friedens, der alle Menschen vereint, unabhängig von Herkunft, Religion oder anderen Kategorien. Solche Träume sind auch die Grundlage für Menschen, sich für Arme, Kranke, Menschen auf der Flucht und viele andere einzusetzen. Denn in ihnen leuchtet die Schönheit des Schöpfers auf.

Hilfsbedürftige an Weihnachten „mitnehmen“ in Gedanken und Werken

Ich denke beispielsweise an die Kampagne „Kein Weihnachten in Moria“: Die katholische Friedensbewegung pax christi und andere kirchliche Gruppen erinnern damit an das Leid der Geflüchteten in den Lagern auf Lesbos und anderen griechischen Inseln, direkt vor unserer Haustür. Ihre Botschaft lautet: Es gibt kein Weihnachten, solange die Menschen in den Lagern unter menschenunwürdigen Bedingungen leben. Und ich denke an den mannigfaltigen Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit, nicht nur durch glaubende Menschen. „O wie lacht Lieb aus deinem göttlichen Mund“ – das wird tatsächlich immer wieder konkret.

Musik 6: „Stille Nacht“, dritte Strophe (CD (vgl. Musik 01): Christmas around the world. German Brass & Windsbacher Knabenchor, Track 10)

Die Weihnachtsbotschaft mitnehmen ins gesamte neue Jahr

Im Kriegsjahr 1914 standen sich die deutsche und die britische Armee in Flandern feindlich gegenüber. Am Heiligen Abend schwiegen die Waffen, Soldaten beider Seiten sangen über den Schützengraben hinweg in ihrer Sprache „Stille Nacht, heilige Nacht“. Es bleibt rätselhaft und tragisch, wie dann wenige Tage später das Gemetzel des Krieges fortgesetzt werden konnte. Diese historische Begebenheit zeigt die friedensstiftende Kraft dieses Liedes und sie zeigt die friedenstiftende Kraft der Weihnachtsbotschaft. Ich stelle mir die Frage: Wie kann es gelingen, den Traum des Friedens und der Freundschaft zwischen Menschen nicht nur an Weihnachten zu träumen? „Stille Nacht, heilige Nacht“ – das Lied rührt mich nicht allein in der Heiligen Nacht, es begleitet mich auch in den kommenden Wochen und Monaten. Wenn es dunkel wird, will ich mich an das Licht in der Nacht erinnern; wenn der Alltag kommt, will ich mich an die Schönheit Gottes und die Würde des Menschen erinnern, den Gott so sehr liebt, dass er Bruder der Menschen werden und bleiben wollte.

Musik 7: „Silent Night“ (CD: In a Jazzymental Christmas mood, Kenny G, CD 1, Track 11)

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