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Beten in aller Welt
Bildquelle: martinduss/Pixabay

Beten in aller Welt

Anke Haendler-Kläsener
Ein Beitrag von Anke Haendler-Kläsener, Evangelische Krankenhauspfarrerin, Flieden
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Er stand jeden Morgen um halb sechs auf. Als erster in der Familie. Er duschte, kochte Kaffee und setzte sich an den Küchentisch. Dabei ging langsam die Sonne auf. Und dort sah ich ihn jeden Morgen, wenn ich als nächste aufstand. Er hatte die Bibel aufgeschlagen und las in ihr. Ganz versunken. Und dann senkte er den Kopf und betete. Für alle, die ihm in den Sinn kamen. Für die Familie. Für Freundinnen und Freunde. Für seine Arbeitskollegen und die Kirchenmitglieder. Für die Politiker. Für mich.
Jeden Morgen sah ich ihn so damals vor 40 Jahren. Ich war als Austauschschülerin in die USA gekommen zu dieser wunderbaren Gastfamilie. Er war mein Gastvater und ein großer Beter. Damals hat mich das unendlich berührt. Da ist jemand, der betet für mich. Dem bin ich wichtig genug. Das tut mit 16 Jahren einfach gut. Und auch heute mit Mitte 50 fühle ich mich dabei immer noch gut aufgehoben. Er sitzt noch heute so da jeden Morgen. Ich werde von den Gebeten meines inzwischen alt gewordenen Gastvaters begleitet - durch jeden Tag, ja durchs ganze Leben. Dieses Bild habe ich immer vor Augen.
Aus meiner eigenen Familie kannte ich das nicht. Da gab es viel Kirchenmusik. Es gab eine gut lutherische Großmutter, die regelmäßig und fröhlich den Gottesdienst besuchte. Aber dass da einfach jemand frei mit Gott redet, ihm sein Herz ausschüttet und dabei keine kirchliche Sprache verwendet - das habe ich da zum ersten Mal erlebt. Da betet jemand wirklich für mich: ganz persönlich für die nächste Klassenarbeit oder wegen meines Liebeskummers. Das hat mich umgehauen.

Musik 1 Hildegard von Bingen, Laus trinitati

Einige Zeit später war ich ein Jahr lang in Jerusalem. Ich habe dort gelebt und studiert. Ich konnte in einem Benediktinerkloster wohnen. Auf dem Zion direkt neben der Altstadt. Ein Traum.
Die Gruppe der Studentinnen und Studenten durfte an den Gebeten der Mönche teilnehmen. Das war ein freiwilliges Angebot, und ich habe es gern genutzt. Wenn schon, denn schon, habe ich mir gedacht. Evangelische Kirche werde ich noch mein Leben lang haben. Und so saß ich bald gemeinsam mit den Mönchen in der Apsis der schönen Dormitio-Kirche. Oft bis zu fünf Mal am Tag.
Anfangs war mir vieles fremd. Frühmorgens war es noch kalt, besonders wenn ich nicht ausgeschlafen war. Das Bekreuzigen. Die Verneigungen. Unbekannte Melodien, mit denen gesungen wurde: Gregorianik. Und immer wieder Psalmen, Psalmen, Psalmen. Die sperrige Sprache. Die Stille. Der Weihrauch. Immer wieder derselbe Ablauf. Dieselbe Routine. Ich brauchte Zeit, um mich einzufinden.
Doch mit der Zeit ist mir vieles in Fleisch und Blut übergegangen. Ich habe es ebenso liebgewonnen wie die freien Gebete. Denn wenn mir an manchen Tagen die eigenen Worte fehlen, kann ich mich dieser fremden Sprache bedienen. Ich kann sie mir ausleihen. Ich kleide mich in die Worte der Psalmen wie in einen Mantel. Er ist mir vielleicht zu groß und sicher unmodern, aber er wärmt mich.
Ich singe einen langen Text mit, ohne die einzelnen Worte bewusst mitzudenken. Aber dann wache ich plötzlich auf. Ich höre einen einzelnen Satz. Er fällt mir auf und gräbt sich in meinem Herzen ein. Zwei drei Worte begleiten mich auch nach dem Stundengebet. Und so wird aus einer Liturgie, die seit Jahrhunderten genauso gebetet wird, doch mein persönliches Gebet.
Noch heute verneige ich mich instinktiv da, wo ich es damals gelernt habe. Ich liebe den Geruch von Weihrauch und knie mich gern hin beim Beten.

Musik 2 Ad te levavi (Gregorianisch)

Menschen beten auf verschiedene Weisen und geben dadurch ihrem Leben eine Struktur. Der Tag ist nicht nur eine Abfolge von ewig gleichen Stunden, die so vor sich hinplätschern, sondern er wird eingeteilt. Er bekommt eine Form.
Fromme Juden etwa gliedern den einzelnen Tag durch das Morgen-, Mittags- und Abendgebet. „Sei mit mir in allen meinen Bestrebungen, hilf mir in meiner Schwäche, rüste mich aus mit Standhaftigkeit, dass an diesem Tag reicher Segen über meine Arbeit komme. Segne, o Ewiger, meinen Ausgang und meinen Eingang, lass deine Gnade und Treue mich stets beschirmen. Amen.“ (aus: Pnina Navé Levinson, Esther erhebt ihre Stimme, S. 62) So beginnt ein ganz normaler Wochentag. Außerdem sprechen sie Lobsprüche zu fast allen Tätigkeiten. So sind sie wach und aufmerksam für jede Kleinigkeit am Tag. Vorm Essen von Brot sagt man: „Gepriesen seist du, Ewiger, unser G´tt; du regierst die Welt. Du lässt die Erde Brot hervorbringen.“  Oder bevor man Parfüm auflegt: „Gepriesen seist du, Ewiger, unser G´tt; du regierst die Welt. Du hast wohlriechendes Öl geschaffen“ Oder wer im Frühjahr blühende Bäume sieht: „Du lässt es deiner Welt an nichts fehlen. Du hast schöne Dinge geschaffen und prachtvolle Bäume, um die Menschen durch sie zu erfreuen.“ Es gibt nichts, das zu klein wäre, um Gott dafür zu danken.

Wenn Muslime ihre fünf täglichen Gebete sprechen, dann waschen sie sich vorher und setzen dann ihren ganzen Körper ein. Der Mensch mit seiner ganzen Existenz ist dabei. Das Gebet beginnt folgendermaßen: „Allah ist der Allergrößte. Preis sei dir, o Allah, und Lob sei dir, und gesegnet ist dein Name, und hoch erhaben ist deine Herrschaft, und es gibt keinen Gott außer dir. Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen. Alle Lobpreisung gebührt Allah, dem Herrn der Welten, dem Allerbarmer, dem Barmherzigen, dem Herrscher am Tage des Gerichts.“ Diese Worte werden auf Arabisch rezitiert, weil auch der Prophet Mohammed Arabisch gesprochen hat. Es geht also nicht in erster Linie darum, die einzelnen Worte intellektuell zu verstehen, sondern sich in eine Gebetshaltung zu versetzen. Den Tag durch diese 5 Gebete zu gliedern. Auf einer Reise durch Ägypten habe ich darüber gestaunt, wie mitten auf der Straße alle anhielten, ihre Tätigkeit unterbrachen und an Ort und Stelle beteten. Leben und Religion gehören eng zusammen.
Buddhisten beispielsweise chanten mehrmals am Tag, so heißen ihre meditativen Gesänge. Auch andere Religionen haben ihre Formen und Bräuche. Das Leben bekommt einen Rhythmus, wenn Menschen beten. Das kann gut tun und ist heilsam. 

Musik 3  Arvo Pärt, Magnificat

Viele Menschen beten. Und ein schnelles Stoßgebet zum Himmel schicken oft auch die, die sich eigentlich zu keiner Religion dazurechnen. Viele Jahre lang wurden trotzdem Menschen, die religiös leben, von Wissenschaftlern eher belächelt. Wer es braucht, zeigt dadurch Schwäche. Erwünscht ist aber, eine solch infantile Haltung zu überwinden. Menschen sollen erwachsen werden. Emanzipiert und frei leben oder doch zumindest denken. Religionskritik war an der Tagesordnung. Wer seine frommen Wünsche in den Himmel projiziert, ist zu bemitleiden. Ja, schlimmer noch: er oder sie bremst damit sogar den allgemeinen Fortschritt. Denn die Energie, die er hier verpulvert, könnte anders genutzt werden und die Welt zu einem besseren Ort machen.
Diese Sichtweise hat sich, so meine ich, verändert. Religiöse Menschen werden oft nicht mehr so einfach verurteilt. Mit dem Aufkommen der Neurobiologie haben Forscher festgestellt, dass sich da etwas tut im Gehirn von gläubigen Menschen. Etwas Spannendes. Und zwar sind es überwiegend positive Auswirkungen, die in der Forschung diskutiert werden. Sie legen nahe, dass Frömmigkeit und Spiritualität als segensreiche Produkte der Evolution verstanden werden können. (aus: Deutschlandfunk, Hirnforscher und Theologen auf der Suche nach Gott, 6.4.2015)
Das, worauf wir unsere Wahrnehmung richten, prägt letztlich unser Denken. (Gerald Hüther)

Wer sich religiös orientiert, ist besser gewappnet für Stress und Spannungen im Leben. Der Religions- und Politikwissenschaftler Michael Blume sagt dazu: „Es ist immer wieder gezeigt worden, dass fromme Menschen, gläubige Menschen im Großen und Ganzen mit den Hindernissen des Lebens besser fertig werden als die aufgeklärten Rationalisten. Sie werden mit persönlichen Katastrophensituationen leichter fertig. Der Aufenthalt im Krankenhaus ist ein bisschen kürzer nach der Krebsoperation. Die Arbeitslosigkeit wird anders verarbeitet. Die Scheidung der Ehe, die für viele ein großes Drama, ein Trauma ist, gelingt offenbar besser.“ (ebd.)
Kurz: Wer betet, ist gesünder.

Musik 4 Anon. Tanz

Wer betet, lebt gesünder, das klingt prima. Vielleicht kommt am Ende noch jemand auf die Idee, dass religiöse Menschen weniger Krankenkassenbeitrage zahlen müssen? Da wäre ich fein raus.
Und trotzdem merke ich, dass mir dabei etwas widerstrebt. Es geht mir gegen den Strich. Ich möchte nicht, dass mein Glauben, mein Beten so vereinnahmt wird.
Interessant ist: Bei den Forschungen der Neurobiologie spielt es tatsächlich gar keine Rolle, an wen jemand seine Gebete richtet. Es ist völlig egal, ob es jüdische, muslimische, buddhistische oder christliche Menschen sind, die da beten. Das klingt erst mal nach einer großen Verschwisterung unter den Religionen. Wir sitzen alle im selben Boot.

Aber für mich fühlt es sich an wie Gleichmacherei. Alle Religionen werden über einen Kamm geschoren. An wen ich glaube und was mir daran wichtig ist, fällt unter den Tisch. Mein Glauben, mein Beten wird nur unter dem Blickwinkel einer Kosten-Nutzen-Rechnung betrachtet. Gut ist, was nützt. Wer heilt, hat Recht.
Ich erlebe mein eigenes Gebet anders. Es ist nicht orientiert am Erfolg, ist kein positives Denken. Manchmal begegne ich betenden Menschen, die mich beeindrucken wie mein amerikanischer Gastvater oder die Benediktinermönche in Jerusalem. Sie nehmen mich hinein in ein starkes Beten voller Vertrauen. Aber es gibt auch andere Zeiten. Da mühe ich mich ab mit dem Gebet. Da finde ich nicht den richtigen Ort oder die richtige Zeit, geschweige denn die richtigen Worte. Ich komme nicht zur Ruhe. Auf und ab. Belebend und vertrocknet. Kraftspendend und anstrengend. Mein Beten hat beide Seiten, ist nicht schwarz oder weiß. Ich erlebe es als ambivalent. Und diese Schattenseiten kommen mir zu kurz bei einer neurobiologischen Sicht.
Denn tatsächlich gilt die Feststellung, dass religiöse Menschen gesünder sind, sogar dann, wenn mein Glaube eine Illusion sei – so sind manche überzeugt. Selbst wenn es meinen Gott gar nicht gibt, mache mich das Gebet fit und krisensicher, so ihre Auffassung. Das ist mir zu wenig. So verliert das Gebet seine Sprengkraft.
Es verkommt zum Puderzucker, der auf die bestehenden Verhältnisse gestreut wird. Aber Gebet will mehr. Es will etwas verändern. 

Musik 5 Perotin, Sederunt principes

Mir ist mein Gegenüber wichtig. Ich versenke mich beim Beten nicht nur in mich selbst. Dann wäre es vielleicht eine gute therapeutische Übung. Aber für mich bedeutet es mehr: Da ist jemand, auf den hin ich mich ausrichte, der Ziel meiner Gebete ist. Mit diesem Gegenüber komme ich beim Beten ins Gespräch. Gebet ist Kommunikation mit Gott. Gott hört mich – und manchmal erhört er mich auch. Ich ringe mit ihm.
Die Bibel erzählt wunderbare Geschichten, wie Gott sich von Gebeten erreichen lässt. Die Einwohner von Sodom führen ein durch und durch verdorbenes Leben, und Gott will die Stadt deshalb aus der Welt schaffen. Da ergreift Abraham für sie Partei und kämpft um jeden einzelnen Gerechten, den es vielleicht geben könne.
Das Volk Israel macht sich ein goldenes Kalb und betet es an. Da will Gott sie vor Zorn vernichten. Aber Mose ringt mit ihm, bittet und fleht und bringt ihn davon ab. Gott lässt sich bewegen.
Genauso erzählt Jesus von einer Witwe, die um ihr Recht kämpft. Sie liegt dem Richter in den Ohren und nervt ihn ohne Ende. Er hat Angst, sie könne ihm ins Gesicht schlagen. Und genau diese Hartnäckigkeit lobt Jesus. Unser Gebet braucht nicht wohlfeil in fromme Worte gekleidet zu sein, sondern wir dürfen Gott bestürmen. (Lukas 18,1-8)

Das bedeutet nicht, dass ich immer meinen Willen bekomme. Manche Gebete werden nicht so erhört, wie ich das gerne hätte. Gott ist unverfügbar. Aber im Gebet öffnet er sich mir. Ihm darf ich alles sagen. Manchmal verändert sich schon dadurch was, dass ich alles ihm anvertrauen darf - ungeschützt, frei.
Ich bin dankbar dafür, dass ich das Beten von anderen Menschen gelernt habe. Manchmal ganz frei, manchmal mit vorformulierten und überlieferten Worten. Es hat mich schon durch viele schwere Zeiten im Leben getragen und ist eine Kraftquelle.

Musik 6  Maurice Duruflé, Notre Père

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