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Balkenhols Ikarus
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Balkenhols Ikarus

Dr. Ansgar Wucherpfennig
Ein Beitrag von Dr. Ansgar Wucherpfennig, Jesuitenpater, Professor für Neues Testament an der Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt
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„Deadline“! So hieß im Sommer in Kassel eine Ausstellung von Stephan Balkenhol, im Museum für Sepulkralkultur. Unter den Skulpturen auch eine riesige Figur: Der auf die Erde geschleuderte Ikarus. Übermenschengroß, fünf Meter lang, lag seine Gestalt ganz in schwarzer Bronze flach auf dem Boden. Ikarus war der Sonne zu nahe gekommen. Dabei war das Fliegen eine geniale Idee, um seiner Gefangenschaft zu entfliehen. An Balkenhols Ikarus hängen noch ein paar Federn an seinen Oberarmen. Kein Traum vom Fliegen mehr, der war von Anfang an eine Illusion. Die kleinen zarten Federn konnten den kolossalen Körper unmöglich tragen. Da lag vor mir ein Gescheiterter: die Ideale sind verflogen, nur noch Resignation.

Balkenhol hat gemeint, seine Skulptur verweist auf die Besonderheit des Menschen, die eigenen Grenzen zu überschreiten. Er sagte: "Maßlosigkeit ist ein existenzielles Phänomen des Menschen". Ohne diese Maßlosigkeit gäbe es aber auch keinen Fortschritt. Es stimmt: Es gehört zum Wesen des Menschen, immer wieder seine Grenzen zu überschreiten, zum Guten, aber leider auch zum Schlechten. Es ist aber eine komische Existenz, die Maßlosigkeit und Scheitern braucht, um voranzukommen. Scheitern ist nicht schön, und lässt sich auch nicht schönreden. Und dass Menschen heute fliegen können, ist ein schwacher Trost für Ikarus, der da auf dem Boden liegt.

Mir gefällt da ein Wort, das ich mal in einer Geschichte von einem Wüstenvater gehört habe: Ein junger Mann kommt zu ihm, der in seinem Leben oft gescheitert ist. Er hat immer wieder neue, hohe Ideale gehabt, aber dann ist er wieder abgestürzt. Als er wieder einmal hingefallen ist, kommt er zu dem Wüstenvater, und der weise Mann antwortet ihm: „Wichtiger, als dass du immer korrekt, perfekt und ohne zu Straucheln vorankommst, ist es für Gott, dass du immer wieder aufstehst, wenn du hingefallen bist.“

Zu meinem Leben gehört das dazu. Es gab Zeiten, in denen ich mich unten gefühlt habe, auf dem Boden wie Ikarus, und dann war es wichtig, wieder aufzustehn, ja sogar wieder Mut zu finden, zu fliegen, wie Reinhard Mey von Ikarus singt: „Manchmal frag' ich mich: Was ist es eigentlich, das mich drängt aufzusteigen, und dort oben meine Kreise zu ziehn, vielleicht, um über alle Grenzen zu geh'n, vielleicht, um über den Horizont hinaus zu seh'n, und vielleicht, um wie Ikarus aus Gefangenschaft zu flieh'n.“ Aufstehen, aus meinen Gefangenschaften ausbrechen, mich über düstere Wolken erheben, das hat für mich etwas von Auferstehung. Und das möchte ich am liebsten dem Ikarus sagen: jedem, der an seinen Träumen bisher gescheitert ist: Komm, lass uns aufstehen und ins Weite gehen!

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