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Warum Angst?
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Warum Angst?

Dr. Paul Lang
Ein Beitrag von Dr. Paul Lang, Diakon und Lehrer für Latein, Musik und Religion in Amöneburg

Auszeit mit Abiturienten in den Vogesen. In Wanderschuhen wollen wir den Schulabschluss besinnlich gestalten. Zu Fuß sind wir allmählich höher und höer gestiegen. Unser Quartier heute Abend wird eine Ferme Auberge, ein bewirtschafteter Bergbauernhof sein. Ich erinnere mich gut an den Kartoffelgratin, den es dort vor ein paar Jahren gab. Und an die großartige Aussicht. Vier oder fünf Jahre ist es her, da war ich zum letzten Mal dort. Auch an den großen Hofhund erinnere ich mich. Sein Furcht einflößendes Äußeres und sein Knurren hatten uns damals großen Respekt abverlangt. Beim Abendessen lag er dann schließlich unter dem Tisch zu unseren Füßen. Er war in Wirklichkeit ein ganz zutrauliches Tier. Diesmal erreichen wir das Ziel am späten Nachmittag. Ich bitte die Schüler, an der Umzäunung auf mich zu warten, während ich das Hoftor öffne und auf das Bauernhaus zugehe. Wie beim letzten Mal lässt der schwarze Vierbeiner nicht lange auf sich warten. Diesmal weiß ich um seine Gutmütigkeit. Ohne Furcht gehe ich auf ihn zu, ein paar Lockrufe, ein Schnalzen mit der Zunge, ein kurzer Pfiff. Leicht nach vorne gebeugt strecke ich die Hände aus, während er langsam näher kommt. Er hört auf zu bellen, das Knurren wird leiser und nach einem vorsichtigen Beschnuppern lässt er sich über das Fell streichen und fasst Zutrauen. Die Haustür öffnet sich. „Bonjour Monsieur“, grüße ich den Hausherrn. „Bonjour“, erwidert er. „Ihr seid die Schulgruppe“, fährt er in Elsässer Dialekt fort. „Voilá, Respekt, dass der Hund Sie auf den Hof gelassen hat. Das macht er nicht immer.“ „Ach“, erwidere ich, „ich kenne ihn noch vom letzten Mal, er ist ja ein ganz gutmütiges Tier.“ „Wann waren Sie denn zuletzt hier?“ fragt der Gastgeber. Und als er erfährt, dass das vier, vielleicht fünf Jahre her ist, schüttelt er den Kopf. „Nein, diesen Hund können Sie nicht kennen, den habe ich erst im vorletzten Sommer bekommen.“ Ich muss kurz schlucken und hole tief Luft. Die Unterbringung der jungen Leute ist zu organisieren, das Abendessen abzusprechen, erst später komme ich zum Nachdenken. Die Begegnung mit einem fremden Hund. Was hat das Tier dazu gebracht, sich so vertrauensvoll zu verhalten? Meine Stimme, Körperhaltung und Gesichtsausdruck, die Lockrufe? Ich war ja überzeugt: Wir kennen uns, ich meine es gut mit dir und ich bin sicher, du bist im Kern ganz anders als Dein Bellen und Knurren vermuten lassen. Ob der Hund das verstanden hat? Irgendwie wohl schon. Jedenfalls hat es seine Wirkung nicht verfehlt. Komisch, denke ich, und bekomme noch im Nachhinein Herzklopfen. Wie unkompliziert könnte das Leben von uns Menschen wohl sein, wenn wir intuitiv verstehen würden: Jemand meint es gut mit uns. „Wie ihr von anderen behandelt werden wollt, so behandelt ihr sie“, sagt Jesus einmal. So einfach – und doch so schwer. Diese „goldene Regel“ wenigstens ein- oder zweimal heute anwenden, ohne Vorbehalte. „Ich meine es gut mit Dir“, zu sagen, das geht schon mit einem Lächeln, einer Zuwendung, einem Blick. Ich bin sicher: Es lohnt den Versuch.

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