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Sagen, was ist – Weihnachten verträgt jede Wahrheit
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Sagen, was ist – Weihnachten verträgt jede Wahrheit

Claudia Rudolff
Ein Beitrag von Claudia Rudolff, Rundfunkpfarrerin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Kassel

Ich liebe vieles an der Weihnachtszeit. Auch die Weihnachtsfilme. Nach einem stressigen Tag, mache ich es mir abends gemütlich vor dem Fernseher. Besonders angetan hat es mir der Film „Stille Nächte“.
Seine Hauptfiguren sind Georg und Rita. Georgs Vater hatte sich immer gewünscht, dass sein Sohn Medizin studiert und Arzt wird. Aber Georg schafft mehrmals seine Prüfungen nicht und bricht das Medizinstudium ab. Er wird Krankenpfleger. Doch das soll der Vater nicht erfahren.
Georg ist mit Rita verheiratet. Ihre Ehe scheitert. Die beiden trennen sich. Auch das verschweigt Georg seinem Vater. Weihnachten ist es Tradition, dass Georg und Rita seine Eltern besuchen. Dann erzählt er von seinen beruflichen Erfolgen als Arzt. Und wie glücklich er und Rita zusammen sind. Das Ritual wiederholt sich von Jahr zu Jahr.
Georg überredet Rita, dass sie auch nach ihrer Trennung mitkommt und das Spiel weiter mitspielt. Rita besteht jedes Mal darauf: Aber nächstes Weihnachten musst du deinen Eltern die Wahrheit sagen.
Jahr für Jahr bringt Georg den Mut nicht auf. Er und Rita spielen seinen Eltern immer wieder eine heile Welt vor, die es nie gab.
Was beide nicht ahnen: Georgs Eltern kennen schon lange die Wahrheit, dass er gar kein Arzt ist und seine Ehe nicht mehr besteht. Auch die Eltern spielen alle Jahre wieder die Weihnachtsinszenierung „heile Welt“ von ihrem Sohn und seiner Exfrau mit. Erst nach ihrem Tod findet Georg in ihrem Nachlass ein Schreiben, aus dem hervorgeht, dass die Eltern die ganze Zeit Bescheid wussten.
Warum fehlt allen der Mut zur Wahrheit?
Ich glaube, es hat mit dem Weihnachtsfest zu tun. Weihnachten weckt den Wunsch nach einer heilen Welt.
Deshalb treffen fast alle so viele Festvorbereitungen und überlegen genau, mit wem sie den Heiligen Abend verbringen und die Festtage. Auch ich wünsche mir an keinem Abend im Jahr so sehr, dass es ein schöner Abend wird. An Weihnachten soll es zu Hause gemütlich sein. Alle sollen sich geborgen und angenommen fühlen. Aus den Geschenken soll Liebe sprechen. Der Christbaum, das Weihnachtsessen, ob Würstchen mit Kartoffelsalat oder 5-Gang-Menü, alles duftet nach der Hoffnung nach etwas heiler Welt.
Manchmal ist dieser Wunsch so stark wie bei Georg im Film, dass man die heile Welt oder das, was man dafür hält, vorspielt und herbei lügt.

Die angeblich heile Welt finde ich auch manchmal in den Weihnachtsrundbriefen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie großartig die Familien der Bekannten und Freunde in diesen Briefen erscheinen: Die Kinder durchlaufen problemlos die Schule, überspringen ganze Klassen, treiben nebenbei mehrere Sportarten, lernen ein Instrument und mindestens drei Sprachen. Die Eltern berichten von traumhaften Urlauben, beruflich gibt es nur Erfolge.
„Was mache ich nur falsch?“, frage ich mich, wenn ich die Weihnachtsrundbriefe anderer lese. Dabei läuft es in vielen Familien nicht so perfekt. Eltern, für die jedes Lehrergespräch zur Zitterpartie wird: Was hat mein Sohn, meine Tochter wieder angestellt? Von welchen schlechten Noten weiß ich nichts? Die Kids hängen vor dem Computer oder am Smartphone anstatt Sport zu treiben oder ein Instrument zu lernen. Eine Vorstellung davon, was sie nach der Schule machen könnten? Fehlanzeige.
Im Beruf ist der Traum von der Karriere längst ausgeträumt und der Einsicht gewichen, dass man nicht mehr weiterkommt und froh sein kann, den Arbeitsplatz zu behalten. Darum frage ich mich immer wieder:
Warum fällt es gerade an Weihnachten so schwer zuzugeben, was misslingt und was schwierig ist? Ich finde immer die gleiche Antwort: Weil man sich nach einem Stück heiler Welt sehnt. Obwohl es so gut täte, die Wahrheit sagen zu dürfen.
Sagen, was ist. Diese drei Worte stehen in großen golden glänzenden Buchstaben aus Metall am Verlagsgebäude des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ in Hamburg. Sagen, was ist. Das war die Leitlinie von Spiegel-Gründer Rudolf Augstein für seine Arbeit als Journalist. In der Weihnachtsbotschaft der Bibel sagt der Engel des Herrn, was ist. Da heißt es bei Lukas, dem Evangelisten, der die Geschichte von Jesu Geburt aufgeschrieben hat: „Der Engel des Herrn trat zu den Hirten und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie.“ (Lk 2,10) Die Klarheit des Herrn ist die Klarheit Gottes. Sie leuchtet das Dunkel aus. Sie bringt die Wahrheit ans Licht und enttarnt den Schein der heilen Welt. In der Weihnachtsgeschichte der Bibel geht das so: Zunächst sagt der Engel über Gott die Wahrheit: Gott ist ein Mensch geworden in einem Kind. Er ist nicht als Herrscher geboren. Ja, Gott ist ein Mensch geworden mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringt: Geboren zu werden, heranzureifen, erwachsen zu werden, sich zu streiten, Schmerzen zu haben, abgelehnt und geliebt zu werden, zu scheitern. Selbst den Tod hat Gott als Mensch Jesus erlebt. Ich glaube, damit zeigt Gott an Weihnachten: Er versteht unser Leben mit allen Licht- und Schattenseiten.

Weihnachten verträgt die Wahrheit. Gott ist kein Gott, vor dem ich perfekt sein muss, um gut dazustehen. Denn die Krippe mit dem Gottessohn Jesus spielt keine heile Welt vor. Da ist Maria – schwanger, aber nicht von ihrem Verlobten. Klar, dass die Leute darüber gemunkelt haben. Da ist Josef, der damit erst einmal gar nicht zurechtkam und Maria beinahe verlassen hätte. Da sind die Hirten, von denen man damals sagte, dass es mit Mein und Dein nicht so genau nehmen. Da sind die Weisen aus dem Morgenland – schon ein bisschen strange. Rennen einem Stern hinterher und beten dieses Jesus-Baby an. In der Krippe haben sie alle ihren Platz: Menschen mit geraden und schrägen Lebenswegen. Um sie alle leuchtet die Klarheit Gottes, so dass sie erkennen: Wir sind von Gott geliebte Menschen.

Das wünsche auch ich mir für die Weihnachtstage. In Gedanken setze ich mich in Bewegung zur Krippe hin. Dabei hoffe ich, Gott zu begegnen. Ich möchte von diesem Kind, und später vom erwachsenen Jesus, lernen, was die Wahrheit und die Liebe alles bewirken können. Ich will immer wieder seine Geschichten hören, die Menschen verändern. Zunächst sind sie, wie sie eben sind.  Jesus begegnet ihnen ohne Vorbedingung, ohne Vorbehalt. So können sie zu ihren Macken und Beschädigungen stehen. Sie können sagen, was ist.
Und einmal ausgesprochen, verändert sich etwas. Da können Menschen heil werden, so wie Gott es sich wünscht.
Gottes Klarheit taucht die Welt in ein warmes Licht. Sie stellt niemanden bloß. Die Weihnachtsbotschaft sagt barmherzig, was ist. Niemand braucht vor dieser Wahrheit Angst zu haben. Der Engel des Herrn sagt: „Fürchtet euch nicht!“ 
Keine Angst vor der Wahrheit. Das hätte ich Georg und Rita gewünscht, den beiden aus dem Weihnachtsfilm, von dem ich erzählt habe. Rita und Georg spielen seinen Eltern Weihnachten für Weihnachten eine heile Welt vor. An Weihnachten die Wahrheit nicht fürchten, das könnte für die beiden heißen: zu ihrem Scheitern stehen und erleben: Die Liebe der Eltern bleibt bestehen, auch wenn Georg kein Arzt wird oder die beiden ein Vorzeige-Ehepaar!
So möchte ich es mir immer wieder durch die Weihnachtsgeschichte sagen lassen: Der Heiland macht die Welt heil und nicht wir. Und ohne die Wahrheit wird es nicht heil zwischen uns und schon gar kein Frieden auf Erden. Nicht im Kleinen, bei sich zu Hause, nicht in der Familie und auch nicht im Großen der Welt. An der Krippe darf ich die Wahrheit sagen. Ich darf sagen, was mir gelungen ist. Und ich kann zugeben, womit ich gescheitert bin. Ich muss mich nicht verstellen. Ich brauche niemandem eine heile Welt vorspielen. Schon gar nicht Gott.

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