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Real Fake
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Real Fake

Dr. Michael Müller
Ein Beitrag von Dr. Michael Müller, Pfarrer in der Pfarrei St. Jakobus, Hünfeld
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Heike ist 43 Jahre alt und kommt aus der Nähe von Oldenburg. Von ihrer spannenden und für mich zugleich erschreckenden Geschichte hörte ich vor einiger Zeit. Heikes Leben ist zunächst eigentlich nicht ungewöhnlich. Sie ist Mutter von zwei Kindern und hat sich von ihrem Mann getrennt und seitdem Single. Vor einigen Jahren begann für sie ein Abendteuer. Es ist ein milder Abend im Frühling. Bei einem Glas Wein sitzt sie mit einer Freundin auf der Terrasse. Sie sagt rückblickend. „Das war mein erstes halbes Jahr alleine. Ich war natürlich voller Zukunftsangst, wie mein Leben weitergeht mit zwei Kindern, ganz alleine.“
Ein paar Wochen nach der Trennung meldet sich Heike bei einem Datingportal an. Sie sucht jemanden, der in ihrer Nähe wohnt, eine bodenständige Beziehung, die in ihr Leben passt. Tagelang studierte sie die Profile. Sie postet ein Selfie und einen Spruch. Und bekommt viele Nachrichten. Manchmal antwortet sie einmal, zweimal – und verliert dann das Interesse. Aber es gibt ein Profil, das Heike immer wieder besucht. Es gehört Matthias, 38 Jahre, aus Bremen.
An jenem Frühlingsabend mit der Freundin auf der Terrasse beginnt die Geschichte zwischen den beiden. Dreieinhalb Jahre wird sie dauern. Dreieinhalb Jahre, in denen die beiden sich unzählige Nachrichten schicken. Matthias schreibt ihr, dass er vor seiner Ehe ein exzessives Leben geführt habe, dann mit seiner Frau Sophie zwei Kinder bekommen, Sophie betrogen habe und seitdem getrennt lebe. Und Heike erzählt ihm dann natürlich ihre Geschichte. Er versteht sie. Er hat Zeit für sie. Er hört ihr zu und ist für sie da. Für Heike ist das wunderschön! Die beiden senden sich täglich Nachrichten, chatten manchmal ganze Nächte. Heike ist hingerissen. Nicht nur von Matthias‘ gutem Aussehen. Er fragt nach. Er macht ihr Komplimente. Endlich ist da wieder jemand, der für Heike da ist, sich um sie sorgt, sie zum Lachen bringt. – Wie schön ist es, wenn jemand für uns da ist, uns versteht, uns zuhört, gerade dann, wenn es uns schlecht geht.

Musik: P. Tschaikovsky, „Nocturne“, CD: Sol Gabetta, Track 12, Dauer: 4´16

In der faszinierenden Geschichte von Heike, die sich für sie anfühlt wie ein neuer Frühling gibt es nur ein Problem: Matthias, 38, aus Bremen, existiert nicht. Ja, sie haben richtig gehört. – Matthias ist ein Real Fake, wie der Fachbegriff für dieses neue Phänomen unserer digitalen Welt heißt. Matthias ist die digitale Fantasiefigur eines anderen Menschen. Eines Menschen, der im Schutz der Anonymität der Cyber-Welt mit Heike kommuniziert. In Wahrheit steht hinter Matthias, 38, aus Bremen, hinter dem netten, getrenntlebenden Familienvater mit dem exzessiven Leben, ein ganz anderer. Irgendein Mensch am Computer, der mit wahnsinnigem Aufwand und viel Organisationstalent in eine fremde Identität schlüpft. Und diese Identität ist ebenso realistisch wie falsch. Das Portrait eines anderen Menschen, hunderte falsche Fotos, oft manipuliert. Eine zurecht gelegte Lebensgeschichte, die aber wahnsinnig echt wirkt.

Musik: P. Tschaikovsky, „Andante Sostenuto“ Variation Nr. III aus den Rokokovariationen, CD: Sol Gabetta, Track 5, Dauer: 3´51

Heike ahnt von alldem zunächst nichts. Sie wundert sich zwar, als Matthias immer öfter für Tage, eine oder mehrere Wochen abtaucht. Sie fragt sich: Ist er sauer? Krank? Aber sie hat keine Ahnung. Die perfekten Erklärungen für sein Verschwinden reicht Matthias dann nach. Sie klingen gut, doch irgendwann für Heike zu gut. Sie schöpft Verdacht, doch will es nicht wahrhaben, bis sie im Internet die Seite einer Selbsthilfegruppe für solche Cyberopfer findet. Da ihr wird mehr und mehr klar, was jemand mir ihr gemacht hat. Und die schöne Welt, die Matthias aufgebaut hat, stürzt wie ein Kartenhaus ein. Für Heike ist das ein Schock, ja mehr noch, es ist wie eine tiefe Verletzung: Sie liebt und vertraut einem Menschen, den er gar nicht gibt, den ein anderer erfunden hat. Wahnsinn. - Drei Jahre ist Heike einem Phantom nachgelaufen, hat ihre Gefühle und ihr Innerstes einem nicht existierenden Menschen geschenkt. Sicher, es geht um Vertrauen, nicht um Geld oder ein Haus, aber für Heike bricht dennoch eine Welt zusammen. „Er hat sich in mein Leben geschlichen, wie so ein Seelenräuber, und ich habe ihm einfach vertraut.“ Geschichten wie die von Heike sind die unglaublichen Geschichten unserer neuen digitalen Welt, in der die Grenze zwischen Realität und Fiktion immer mehr verschwimmt. Was ist noch wahr, was ist Fiktion?

Musik: P. Tschaikovsky, „Andante Sostenuto“ Variation Nr. VI aus den Rokokovariationen, CD: Sol Gabetta, Track 5, Dauer: 2´26

Unser Leben, unsere eigene Geschichte, ja unser Ich setzt sich zusammen aus einer Fülle von Bildern, Worten und Eindrücken, an denen wir zur Person werden. Martin Buber sagt das einmal so: Alles Leben ist Begegnung. Und das fängt schon beim Säugling an: Wir werden zum Menschen durch andere, die für uns da sind, die es echt mit uns meinen, die uns lieben. Gott sei Dank wir haben keinen, oder vielleicht muss man sagen: noch keinen USB-Port, mit dem wir unser Innerstes untereinander abgleichen können. Unsere Sehnsucht geht tiefer. Unsere Sehnsucht ist nicht digital erfassbar, im System von nullen und einsen. Sie hat unendlich viel mehr an Zeichen und Ausdruckweisen. Aber: Ist jeder Mensch nicht ein Stück ein Real Fake? Wer bin ich eigentlich? Bin ich echt? Oder habe ich nur ein tolles Profil auf der Dating-App des Lebens? Ist es Ihnen vielleicht auch schon einmal so gegangen wie Heike? Sie haben jemandem vertraut, eine Sache für echt gehalten, und dann zerplatzt alles wie eine Seifenblase. In solchen Momenten fallen wir hart in die Wirklichkeit zurück. Die Frage: „Wer bin ich eigentlich?“ gehört zu unserem Leben, eine Frage, die wir bewusst oder unbewusst ein Leben lang immer wieder stellen, uns und anderen. Wer bin ich? Wer bist du?
In der Bibel spielen diese Frage eine große Rolle. Ich denke an die Psalmen. Jene großartigen Lieder des alten Testamentes, die mit großer sprachlicher Kraft die Spanne menschlicher Erfahrungen untereinander mit der Frage nach Gott verbinden. Die Psalmen fragen tiefer als jeder Chat: Wer bist du, Mensch? Und sie versuchen eine Antwort zu geben in der Frage: Wer bist du, Gott? Für manchen Menschen von heute ist Gott vielleicht auch ein Real Fake. Das Profil Gottes zeigt ihn auf diesen Seiten als harmlosen, lieben und wunscherfüllenden Übervater; einen bärtigen alten Mann überm Sternenzelt, der aussieht wie Gandalf aus dem ‚Herrn der Ringe‘, aber als Phantasiefigur mit meinem Leben nichts zu tun hat. Ich denke an Psalm 139. Er ist (ein) Lied vom Menschen, der von Gott geschaffen ist: Gott ist echt da. Er ist für jeden Menschen da. Er ist für mich da. Kein Real Fake. Ja, es gibt niemanden, der mich so kennt wie Gott. Und er kennt mich, nicht weil er mich kontrollieren will oder mich für seine Zwecke ausnutzt, sondern er kennt mich aus Liebe. Er kennt mich, weil er wirklich Interesse an mir hat. Gott kennt mich, schon bevor ich mich selbst kenne. Seine liebende Hand stand schon über mir, als ich im Mutterleib war. Lothar Zenetti übersetzt den Hebräischen Text des Psalm 139 so:

Herr, ja du kennst mich genau.
Du liebst mich und blickst zu mir hin,
wo ich auch bin.

Was ich auch denke, erkennst du,
wohin ich geh, was ich tu,
alles weißt du.

Steig ich zum höchsten Himmel,
tief in der Erde, auch da
bist du mir nah.

Flög ich dem Morgenrot nach
über Meere nach Ost oder West,
du hältst mich fest.

Manchmal, da geh ich ins Dunkel,
verstecke im Finsteren mich,
doch du siehst mich.

Du hast mein Inneres gebildet,
immer hast du mich gesehn
und kannst verstehn.

Du bist mein Atem, mein Leben,
nichts ist verborgen vor dir,
du bist bei mir.

Gut, wenn wir das zu anderen sagen können: Du bist mein Atem, mein Leben. Und wenn Du keinen mehr hast, von dem du das sagen kannst, Gott ist es für dich. Nein: kein Real Fake. Es ist Gott, der dich beim Namen ruft. Der es ehrlich mit dir meint. Sein Profil ist nicht eine Internetseite, nicht ein schönes Wort, nicht ein tolles Bild, sein Profil ist der Mensch, der Menschgewordene, von dem die Bibel spricht, in einer unglaublichen Geschichte. Schon in der frühen Kirche gab es Menschen, die meinten, dass der menschgeworden Gott nur so etwas wie ein Fake sei, Jesus Christus nur zum Schein Mensch geworden sei. Nein, er ist wirklich Mensch geworden und hat sich uns zugewandt, nicht abstrakt, sondern als unser Bruder. So können auch wir Mensch werden und in allen anderen, egal welche Nation, Hautfarbe oder Religion sie haben, den Menschen sehen, der von Gott geliebt ist. Dieser Chat-Eintrag Gottes steht schon längst auf dem Online-Portal meines Herzens. Und er ist kein Fake. Das feiern wir Christen heute am Sonntag.

Musik: Felix Mendelssohn-Bartholdy, „Wer nur den lieben Gott lässt walten, 3. Arie“, CD: Choralkantaten Nos. 4-8, Track 13, Dauer: 3´04

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