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Neuanfang
Bild: ❤️A life without animals is not worth living❤️/Pixabay

Neuanfang

Anke Haendler-Kläsener
Ein Beitrag von Anke Haendler-Kläsener, Evangelische Krankenhauspfarrerin, Flieden
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Fußball war ihr Leben. Seit ihrer Jugend hatte sie in der Damenmannschaft gekickt. Viele Tore gingen auf ihr Konto. Das gemeinsame Trainieren und sich Schinden in der Woche gehörte dazu, das Jubeln und Weinen am Wochenende genauso. Ohne den Fußball konnte sie sich ihr Leben gar nicht vorstellen.

Ein verhängnisvoller Sportunfall

Doch dann passierte es: ein ekliger Sportunfall. Sie verletzte ihr Knie und ahnte sofort, das ist keine Lappalie. Das sieht ernster aus als die Unfälle, die sie schon vorher durchgemacht hatte. Und so war es dann auch. Sie musste mehrfach operiert werden. Der Genesungsprozess zog sich in die Länge. Immer wieder Rückschläge, immer wieder heftige Schmerzen. Allmählich verlor sie die Hoffnung. Das Knie ist auf Dauer geschädigt. Und nun?

Was nun? So fragt sich nicht nur die Fußballerin. Was nun, so fragen sich alle, wenn meine Pläne über den Haufen geworfen werden? Was nun, wenn ich mir etwas anderes ausdenken und umdisponieren muss? Das kostet viel Kraft.   

Inga Orlowski und ihr Plan C

Inga Orlowski, die Frau, die da in der NDR-Talkshow von ihrem Schicksal erzählt, fasziniert mich. Aus dem gescheiterten Plan macht sie mit viel Energie einen Plan B und sogar einen Plan C. Zuerst tauscht sie ihren geliebten Fußball um in Basket- und Volleybälle. Beide Sportarten kann sie auch sitzend im Rollstuhl spielen. Es wird immer schlimmer. Der einzige Ausweg: eine Amputation. Das ist ein großer Eingriff, nicht zu unterschätzen. Natürlich geht das nicht einfach so. Ärzte und Psychologen begleiten sie dabei. Aber das Erstaunliche ist: Sie erlebt diese Krise als einen Neuanfang. Sie beteiligt sich an den Paralympics, übt ihren Beruf aus und ist in all dem selbständig. Eine Ära geht zu Ende, aber eine andere beginnt. Neue Wege tun sich auf.      

Musik   J.S. Bach, Suite für Laute e-moll, BWV 996, 1.: Prélude-Presto

Neuanfangen, wenn etwas zu Ende geht

Ein Neuanfang ist dann nötig, wenn ein alter Weg zu Ende geht. Eine Krankheit zeichnet den Körper und zwingt dazu, neue Schwerpunkte zu setzen. So hat Inga Orlowski es erlebt. So höre ich es auch als Krankenhausseelsorgerin manchmal von den Patienten, die ich begleite. Ich erinnere mich an einen Mann, der sein Leben jahrzehntelang selbständig gesteuert hat. Er hatte alles im Griff: eigene Wohnung, eigenes Auto, eigene Lebensplanung. Als er sehr krank wurde, war für Außenstehende schnell klar: Das geht nicht so weiter. Er braucht täglich Hilfe.

Ein hart erkämpfter Neuanfang

Er selbst brauchte eine Zeitlang, um sich damit abzufinden und umzudenken. Er musste sich von seinem guten alten Leben verabschieden. Ein Trauerprozess. Dafür konnte er die Wochen Reha im Krankenhaus gut nutzen. Es war schwer. Aber dann kam der Tag, an dem er sagte: "Wissen Sie was, Frau Pfarrerin? Wenn es so nicht weitergeht, dann will ich ganz bewusst einen neuen Weg einschlagen. Ich suche mir ein Seniorenheim, das mir gefällt und in dem ich Hilfe bekomme. Wenn ich früh genug dort einziehe, kann ich ja vielleicht noch ein neues Zuhause finden." Ein hart erkämpfter Neubeginn.  

Ein Paar fragt: Finden wir noch einen Weg?

Ein Neuanfang ist dann nötig, wenn ein alter Weg zu Ende geht. Sie sind schon seit Ewigkeiten ein Paar. Als Elternteam haben sie immer hervorragend funktioniert. Da sind sie eingespielt und haben ähnliche Ziele. Sie helfen den Kindern bei den Hausaufgaben, fahren sie zum Musikunterricht,  begleiten sie bei Sportwettkämpfen. Alles gut organisiert. Aber als die Kinder flügge werden und ausziehen, fehlt ihnen diese gemeinsame Aufgabe. Das Bindeglied fehlt. Sie fragen: Was haben wir jetzt gemeinsam? Die Liebe ist auf der Strecke geblieben. Lässt sie sich noch einmal zum Leben erwecken?

"Grey divorce" ?

Vielleicht gehen sie in der Zukunft lieber getrennte Wege und finden noch einmal ein neues Glück. "Grey Divorce" (eine Scheidung Grauhaariger) nennt sich das. Wenn es bereits einen Namen für dieses Phänomen gibt, dann passiert es gar nicht so selten. Manche plädieren dafür, Menschen mit einer hohen Lebenserwartung seien nicht für lebenslange Zweisamkeit gemacht. Bis dass der Tod euch scheidet – das traf früher nach einigen Jahren oder Jahrzehnten ein, heute aber frühestens nach einem halben Jahrhundert. Da kann eine Grey Divorce ein Akt der Gnade sein.

Ehetherapie?

Vielleicht hilft aber auch eine Ehetherapie, einen neuen Blick auf die Beziehung zu werfen. Sie könnten spüren: Doch, da lässt sich etwas retten. Da ist noch ein Funken vorhanden. Wir wollen nicht einfach kapitulieren, sondern umeinander ringen. Wir wollen zusammen einen neuen Weg finden. Der muss dann anders aussehen als das bisherige Leben. Ein Umzug in eine kleinere Wohnung könnte helfen oder ein neues gemeinsames Hobby. Jeden Tag 10.000 Schritte zusammen laufen in der Zeit, die bisher den Kindern gehörte.

Neuanfang.

Musik 2    J.S. Bach, Suite für Laute e-moll, BWV 996, 1.: Prélude-Presto

Erzwungene Neuanfänge durch die Pandemie

Durch die Pandemie wurde vielen Menschen ein Neuanfang aufgezwungen. So erleben sie zum Beispiel, wie ihr Arbeitsvertrag nicht verlängert wird. Sie arbeiten in einem gefährdeten Bereich: Kunst und Kultur oder Gastronomie. Von einem Tag auf den anderen werden Restaurants geschlossen. Konzerte oder Ausstellungen müssen ausfallen. Viele haben nicht aufgegeben. Sie reagieren darauf, indem sie Kreativität entwickeln und sich ganz individuell Neues ausdenken.

Digitale Konzerte kann man im Internet anklicken und hören. Unterschiedliche Stimmen eines Chores werden zusammengeschaltet, und aus ihnen entsteht so ein ganzer Chor. Orchester spielen in kleiner kammermusikalischer Besetzung.  Ein neuer Ohrenschmaus.

Museen können zuhause vom Computer besucht werden. Mit der Maus besucht man Raum für Raum, verweilt bei den einzelnen Exponaten und vertieft sich. Ein neuer Kunstgenuss.

Restaurants laden dazu ein, gefüllte Tüten abzuholen mit Köstlichkeiten, die dann zuhause verspeist werden. Menüs to go. Oder sie fahren an die Plätze der Stadt und kochen dort für Obdachlose. Ein neues Gourmeterlebnis.

Wie ein Neuanfang gelingt

Ich staune darüber, was Menschen sich alles ausdenken in dieser Zeit. Wie sie einen Neuanfang wagen. Wer ihn nicht freiwillig geht, sondern dazu gezwungen wird, der ist irgendwann am Ende. Woher die Kraft nehmen? Viele Künstler und Köchinnen fühlen sich ausgelaugt. Ein Neuanfang kann nur dann dauerhaft gelingen, wenn ich vorher etwas Altes bewusst abschließe und mich verabschiede. Das haben wir gehört bei Inga Orlowski und bei dem Mann, der seine Selbständigkeit aufgeben muss. Sie hatten Freunde und gute Menschen, die sie unterstützt haben. Neuanfang kann nicht verordnet werden. Da muss ein Prozess durchlaufen werden. Es braucht oft Hilfe und Beistand, damit ein Neuanfang gelingt.

Musik 3    J.S. Bach, Suite für Laute g-moll, BWV 995, 4.: Sarabande

Eine biblische Geschichte vom Neuanfang

Es braucht oft Hilfe und Beistand, damit ein Neuanfang gelingt. Eine der schönsten Geschichten von Abschied und Neuanfang ist für mich die von Abraham und Sarah aus dem Ersten Testament. Sie sind schon in fortgeschrittenem Alter. Eigentlich hätte alles so bleiben können, wie es ist. Wohlhabend sind sie, im Besitz mehrerer Viehherden. Sie haben sich eingerichtet in ihrem Leben. Kein Grund zur Veränderung. Und trotzdem trifft sie in genau dieser Situation ein Ruf, den sie als Ruf Gottes verstehen.

"Der Herr sprach zu Abraham: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden." (Genesis 12,1-3)

Sara und Abraham verlassen ihre Heimat

Sie sollen die Heimat samt Familie und allen Freundinnen und Freunden verlassen. Alle menschlichen Bindungen kappen. Alle Sicherheiten hinter sich lassen und raus aus der Komfortzone. In der Bibel heißt es: "Da zog Abraham los, wie der Herr es ihm gesagt hatte." (Genesis 12,4) Aber so einfach war das sicher nicht. Das kann ich mir nicht vorstellen. Sarah wird nicht klaglos eingewilligt haben: Klar Schatz, wenn du meinst, dann packe ich mal nach 70 Jahren mein Köfferchen und los geht´s. Sarah ist eine selbstbewusste und streitbare Frau. Das zeigt sich später, als drei Männer in der Wüste ihr ankündigen, dass sie schwanger wird in ihrem hohen Alter und einen Sohn gebären wird. Da hält sie nicht brav den Mund, sondern sie steht hinter dem Zelt und kichert laut. Sie lacht über diese Männer, die von der Frauen Weise keine Ahnung haben. Sarah lässt sich nicht einschüchtern.

Das wird sie auch an diesem Tag nicht getan haben, als Abraham nach Hause kommt, um mit ihr die Heimat zu verlassen. Es gibt eine Diskussion, ganz sicher. Die beiden lassen ihr Leben Revue passieren und werfen alles in die Waagschale: Es geht uns doch gut! Warum sollen wir etwas verändern? Wer kommt denn auf eine so verrückte Idee?

Sie hören auf Gottes Stimme

Aber letztlich ist es ein kleiner Satz, der den Ausschlag gibt: Der HERR sprach zu Abraham (Genesis 12,1). Es ist eben keine verrückte Idee, sondern es ist Gott selbst, der zu ihnen spricht. Es ist Gottes Stimme, die sie hören. Mit diesem Gott haben sie ihr Leben lang gute Erfahrungen gemacht. Auf ihn ist Verlass, das haben sie immer wieder erlebt. Auch ihre Vorfahren haben schon von ihm erzählt: wie er die Welt erschaffen hat. Wie er Noah in der Sintflut errettete und einen ewigen Bund mit seinen Menschen schloss. Alle diese Geschichten zeigen: Wenn Gott spricht, dann können sie darauf vertrauen. Auf ihn ist Verlass.

Gottvertrauen und das Bedürfnis nach Sicherheit

In der einen Waagschale liegen die Sicherheiten und die Behaglichkeit ihres bisherigen Lebens. In der anderen liegt das Vertrauen auf Gott. Das wiegt schwerer. Und so wagen sie es. Sie machen sich auf den Weg.

Wohin die Reise geht, das wissen sie noch nicht. Aber Gott hat versprochen: Es geht in ein Land, das ich dir zeigen will. Er wird an ihrer Seite gehen. Er wird ihnen Orientierung geben und sie begleiten. Das reicht für einen Neuanfang. Mehr brauchen sie nicht zu wissen.

Musik   J.S. Bach, Suite für Laute e-moll, BWV 996, 2.: Allemande

Gottes Zusage gibt Kraft zum Neuanfang

Die Geschichte von Sarah und Abraham macht Mut, einen Neuanfang zu wagen. Sie lassen Sicherheiten hinter sich und brechen auf – im Vertrauen auf den, der sie ruft. Der Neuanfang kann deshalb gelingen, weil Gott ihnen seine Zusage gibt. Er ist mit ihnen auf dem Weg.

Auch Inga Orlowski ist zuversichtlich

Ich schaue nochmal auf Inga Orlowski: In ihrem schlimmen Schicksal war sie nicht allein. Sie hatte von Anfang an Menschen, die ihr zur Seite standen. Sie hat Hilfe bekommen von ihrer Familie und einem stabilen Freundeskreis. Auch Ärzte und Psychologen haben sie beraten. Sie alle haben sie auf diesem schweren Weg begleitet. Das hat Vertrauen aufgebaut und ihr Zuversicht gegeben. Sie wusste: Dieses Netz trägt. So konnte der Neuanfang gelingen.

Mit Beistand zum Neuanfang

Auch der Mann, dem ich im Krankenhaus begegnet bin, hatte Freunde. Sie haben klar gesehen: So wie vorher geht es nicht weiter. Sie haben nicht die Augen davor verschlossen, sondern ihn ehrlich darauf angesprochen. Dadurch haben sie ihm geholfen. Diese kritische Begleitung hat ihm den Rücken gestärkt. Vielleicht haben auch die Gespräche mit der Pfarrerin ihm Anstöße gegeben. So konnte er gestärkt den neuen Weg wagen raus aus seiner Wohnung hinein in ein Seniorenheim.

Und vielleicht hat sogar das Ehepaar, dessen Kinder flügge geworden sind, noch einmal eine Chance. Mit professioneller Hilfe von außen könnte es ihnen gelingen, eine neue gemeinsame Richtung zu finden.

Was ich uns wünsche

Das wünsche ich uns, wenn wir einem neuen Anfang entgegen sehen:

* dass wir nach Freundinnen und Freunden Ausschau halten, die uns auf diesem Weg begleiten – mit Kritik, aber vor allem mit einer riesigen Portion Wohlwollen.

* dass wir selber für andere diejenigen werden, die helfen und mitgehen.

* Vor allem aber wünsche ich uns, dass wir unser Gottvertrauen nicht verlieren, sondern an Gott festhalten, wenn wir zu einem Neuanfang gezwungen werden. Er ist mit uns auf dem Weg.
Abraham und Sarah bekommen diese Zusage von Gott mit auf den Weg: "Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein." (Genesis 12,2) Darauf möchte ich vertrauen: Gott ist an meiner Seite, wenn ich neu beginnen muss.

Musik   J.S. Bach, Suite für Laute E-Dur, BWV 1006a, 7.: Gigue

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