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Die Verborgenheit Gottes
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Die Verborgenheit Gottes

Martin Vorländer
Ein Beitrag von Martin Vorländer, Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt
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Es bricht alles über ihn herein. Zuerst ist sein Job weg. Über ein Jahr lang sucht er nach einer neuen Arbeitsstelle. Er findet eine – und scheitert. Sein Chef erwartet Wunder. Er soll innerhalb kürzester Zeit Erfolgszahlen vorlegen. Der Druck ist hoch. Nachts schläft er kaum noch. Tagsüber fuhrwerkt er fahrig. Die Nerven liegen blank. Auf jede Kleinigkeit, die ihm quer kommt, reagiert er gereizt. Bis er nicht mehr kann und krank wird. Zu Hause wird es nicht besser. Er wälzt seine Gedanken und Existenzängste im Bett. Er tigert durch die Wohnung. Warum kommen andere mit dem Leistungsdruck klar und er nicht? Was kann er überhaupt, und was soll aus ihm werden? Er glaubt an Gott und betet. Normalerweise hilft ihm das. Aber jetzt ist es so, als würde Gott ihn nicht hören. Er spürt keine Nähe, keinen Trost. „Wo bist du, Gott? Ich brauche dich jetzt!“, flüstert er in die Dunkelheit seines Zimmers hinein.

Dieser Mann erlebt die Verzweiflung, die viele gläubige Menschen kennen. Es fühlt sich an, als hätte Gott sich von mir abgewendet. Er verbirgt sein Angesicht und gibt mich schutzlos allen möglichen Gefahren preis. Meine Ängste fallen wie Dämonen über mich her. Mein Selbstbewusstsein rutscht in den Keller. Ich fühle mich verfolgt und werde misstrauisch, was die anderen hinter meinem Rücken über mich reden: „Der packt es nicht. Der ist fertig.“ Ich kann dem nichts entgegensetzen. Keiner tritt für mich ein. Auch nicht Gott. Er schweigt. Er hat mich verlassen.

Die existenzielle Erfahrung, Gott könnte seine Gnade abgewendet und sein Angesicht verborgen haben, durchzieht die Bibel.

Viele Menschen, die an Gott glauben, kennen die Erfahrung: Ausgerechnet wenn ich Gott am dringendsten brauche, wenn ich seine Nähe spüren will, weil ich durch eine Krise hindurch muss, ausgerechnet dann scheint Gott nicht da zu sein. Ich bete, aber da ist nur Leere. Ich suche nach Halt, aber ich habe das Gefühl, ich falle, und da ist niemand, der mich auffängt. Auch nicht Gott. In den Psalmen haben Menschen besonders starke Worte für diese Angst gefunden. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, fragt einer in Psalm 22. „Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.“

Warum der Beter dieses Psalms so verzweifelt ist, wird nicht ganz klar. Die Krise hat viele Gesichter. Er sieht die Leute um sich herum nur noch als Feinde. „Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf.“ Seine Not macht ihn zum Außenseiter. Sie katapultiert ihn aus dem Alltagsleben, das die anderen ganz normal weiter führen. Er ist draußen, isoliert, abgeschnitten von den anderen, die ihn nicht verstehen, ihn insgeheim oder offen für seine Schwäche verachten. Zumindest befürchtet er das.

Seine Situation schlägt ihm nicht nur auf die Seele. Sie wirkt sich auch körperlich aus. Die Not macht ihn krank. „Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt mir am Gaumen.“ Der Mensch, der den Psalm 22 betet, sieht einen klaren Zusammenhang zwischen seinem Zustand und Gott. Er sagt zu Gott: „Du legst mich in des Todes Staub.“
Gottes Angesicht, seine Nähe bedeuten Leben, Licht und Schutz vor allem Bösen. Gott ordnet und bewahrt meine Welt. Wenn er sein Angesicht verbirgt, dann bricht das heillose Chaos über mir herein. Unter meinen Füßen tut sich ein Abgrund auf und verschlingt das Leben, das eben noch so selbstverständlich schien. Die aktuelle Not ist wie ein Vorgeschmack auf den Tod. Es ist das Gefühl, ins Nichts zu stürzen, vernichtet zu werden.

Wie bin ich da hineingeraten?

Wer in einer Krise steckt, sucht nach Ursachen. Wie konnte das passieren? Warum passiert das ausgerechnet mir? Die Selbstzweifel nagen. Was habe ich falsch gemacht? Wo hätte ich mich anders verhalten sollen? So haben schon Menschen vor Tausenden von Jahren gefragt. In der Bibel in den Psalmen klagen Menschen Gott ihr Leid. Und sie suchen nach Ursachen. Wenn ich weiß, warum etwas passiert, ist das Unheil zwar nicht weg. Aber es ist irgendwie leichter zu ertragen. Manchmal ist es sogar besser, wenn ich selber schuld an dem Schlamassel bin. Dann weiß ich wenigstens, was ich beim nächsten Mal anders mache.

Der Beter in den Psalmen der Bibel macht es so. Er sucht nach den Ursachen für die Krise, in die er hineingeraten ist. Und er findet eine Ursache bei sich selbst. Bewusst oder unbewusst muss er eine Schuld oder Sünde begangen haben, sonst hätte Gott ihn nicht verworfen.

In den Psalmen ist es ein Moment, dass der Beter oder die Beterin sich selbst erforscht und Gott bekennt, was er oder sie falsch gemacht hat. So ein Sündenbekenntnis hat sein Gutes: Es gibt eine handfeste Ursache, einen rationalen Grund. Ich werde nicht willkürlich mit Unheil geschlagen. Vielleicht kann ich meinen Fehler nicht mehr gut machen. Aber ich kann aussprechen, was ich getan habe, und um Vergebung bitten. Das befreit mich aus der Passivität der Krise. Ich kann etwas tun und hoffen, dass es mir heraushilft.

„Krankheit ist eine Strafe Gottes“, glauben manche Menschen noch heute. Die weltliche Version dieser grausamen Deutung für Leiden klingt heute so: „Du bist krank? Dein Körper will dir bestimmt sagen, dass du falsch lebst. Es gibt irgendwo einen psychosomatischen Knoten in dir, der dich krankmacht.“ Für den Betroffenen können sich solche gut gemeinten Ratschläge so anhören: Ich bin also an meiner Krankheit selbst schuld. Aber so einfach ist es nicht. Natürlich ist es heilsam, auf das Zusammenspiel von Körper und Seele zu achten. Aber es gibt Krankheiten, die überfallen einen, auch wenn man noch so gesund lebt. Es gibt Unglück, das überfällt einen aus dem Nichts.

Eine einfache Erklärung gibt es oft nicht. Die Beter der Psalmen in der Bibel beschreiben vielmehr ein Ineinander von verschiedenen Ursachen und Wirkungen, die in die Krise geführt haben: mein eigenes Zutun, das Verhalten der anderen, ein Verlust, den ich nur schwer verkrafte, Entfremdung von den Menschen um mich herum bis hin zu Feindschaft, eine Krankheit, die Angst, meine Lebensgrundlage zu verlieren und zu verarmen.

Es gibt nicht die eine Not. Ganz oft bedingt die eine Not die nächste. Jemand kommt mit dem Leistungsdruck im Beruf nicht zurecht. Die Arbeit macht ihn krank. Er vergräbt sich zu Hause. Er nimmt Tabletten und trinkt, um sich zu betäuben. Das macht ihn noch kränker und seine Lage noch schlimmer. Seine Firma kündigt ihm. Seine Freunde kommen nicht mehr an ihn heran. Er macht die Wohnungstür nicht mehr auf, öffnet keine Post mehr.

Die Betenden in den Psalmen vergleichen ihre Notlage mit einem Netz, in das sie verstrickt sind. Sie sind wie in bodenlosen Schlamm geraten, in dem sie versinken. Die Krise geht wie eine Wasserflut über sie hinweg und spült ihr Leben fort.

Das Schlimmste für die Betenden der Psalmen ist, dass Gott sie anscheinend aufgegeben hat.

Eine Frau ist eine tiefe Depression gefallen. „Ich bin nichtswürdig“, sagt sie zu ihren erwachsenen Kindern. „Vergesst mich. Gott hat mich verworfen.“ Ihr ganzes Leben war ihr Glaube an Gott eine Konstante. Jetzt bricht ihr Glaube weg. Sie spürt nichts von Gott. Er hat sie aufgegeben. Für die Menschen in den Psalmen der Bibel ist das am schlimmsten: Gott hat sich von mir abgewendet. Er hat sein Angesicht vor mir verborgen. Ohne seinen liebevollen Blick ist es nur kalt und dunkel um mich herum. Der Reformator Martin Luther kannte diese schreckliche Verborgenheit Gottes und hat unter ihr gelitten. Er sprach vom „deus absconditus“, dem verborgenen Gott, im Gegensatz zum „deus revelatus“, dem offenbaren, lichten, gnädigen Gott. Die Erfahrung des dunklen „deus absconditus“ unterminiert das Vertrauen ins Leben. Man wird so unsicher, dass einen schon „ein rauschendes Blatt, das vom Baume fällt,“ erschreckt. Luther schreibt: „Hier erscheint Gott schrecklich zornig und mit ihm zugleich die gesamte Schöpfung.“ Gott ist nicht vom Teufel zu unterscheiden. Er kommt einem böse vor, ein Gott, der mich zerstören will.

Welche Chance habe ich da? Wie kann ich Gott bewegen, mich nicht fallen zu lassen, sondern mir herauszuhelfen? Die Stärke der Psalmen liegt darin, dass sie diese Erfahrung mit Gott nicht schönreden. Sie schreien ihre Gottesnot heraus. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Du, Gott, bist doch heilig. Du thronst doch über allem. Auf dich haben meine Vorfahren gehofft, und du hast ihnen geholfen, als sie zu dir geschrien haben.

Der Beter von Psalm 22 erinnert Gott: „Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen; du ließest mich geborgen sein an der Brust meiner Mutter.“ Fast hört man die Anklage: Du hast mich doch geschaffen. Und jetzt, schau hin, Gott, was aus mir geworden ist! Warum lässt du mich ausgerechnet jetzt allein? Der Beter oder die Beterin macht hier keine frommen Sprüche über den immer lieben Gott, der immer da ist. Wer so betet, erlebt Gott ganz anders – fern, gleichgültig, verborgen. Diese Erfahrung gehört zum Glauben.

Wonach sich die Betenden der Klagepsalmen sehnen, ist der Kontakt zu Gott, irgendeine Reaktion von Gott auf ihr Leid. Darum stecken in der Rede von der Verborgenheit Gottes schon ein Quantum Trost und ein Funke Hoffnung. Wenn Gott sein Angesicht verborgen hat, kann er es auch wieder zeigen. Wenn Gott sich von mir abgewandt hat, kann er sich mir auch wieder zuwenden. Ich bin nicht endgültig verloren. Ich halte an Gott fest. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wer diese Frage herausschreit, glaubt mit ganzer Kraft an Gott. Der und die setzt alle Hoffnung in ihn.

So hat Jesus gebetet. Am Kreuz schreit er zu Gott, wie die Betenden des Psalms 22 geschrien haben: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Im Tod hält Jesus an Gott fest – und Gott zuletzt an ihm.

Wie kann man Gott begreifen, der einem finster begegnet und von dem man doch die Rettung erwartet? Luthers Rat: Man muss den verborgenen Gott aushalten. Luther schreibt: „Gottes Gnade ist unter Unglück und Plagen verborgen. Gott kann nicht Gott sein, er muss zuvor ein Teufel werden. (...) Ich muss dem Teufel ein Stündlein die Gottheit gönnen, und unserm Gott die Teufelheit zuschreiben lassen. Es ist damit noch nicht aller Tage Abend. Es heißt doch zuletzt: Seine Güte und Treue waltet über uns.“

Das kann helfen, Situationen zu ertragen, die zwiespältig oder widersprüchlich sind. Man sitzt zwischen allen Stühlen. Man versteht nicht, was da mit einem geschieht, und weiß auch nicht, was man tun kann. Das im wahrsten Sinn des Wortes Ver-rückte daran ist, dass sich in dieser Zerrissenheit Gott zeigen kann. Manchmal, so begreife ichhinterher, hat gerade eine schlimme Zeit mich weitergebracht.

Nur leider eben oft erst hinterher. Wenn man noch mittendrin steckt, kämpft man, um den Kopf über Wasser zu halten. Noch einmal Martin Luther: „Ich habe aus Erfahrung gelernet, wie man sich in Anfechtung halten soll. Nämlich, wer mit Traurigkeit, Verzweiflung oder anderm Herzeleid geplagt wird und einen Wurm im Gewissen hat, derselbige halte sich erstlich an den Trost des göttlichen Worts, darnach so esse und trinke er und trachte nach Gesellschaft und Gespräch gottseliger und christlicher Leute, so wird's besser mit ihm werden.“ Das ist spirituelles Krisenmanagement: Bibel lesen, essen und trinken, mit vernünftigen Leuten beisammen sein und reden.

Luther hat nicht umsonst die Psalmen studiert. Die Betenden der Psalmen erinnern den verborgenen, finsteren Gott an seine Treue. Mag sein, dass ich gesündigt habe. Mag sein, dass ich „nur ein Wurm“ bin (Psalm 22). Aber ich halte mich an dich. Willst du, Gott, dass deine Feinde triumphieren? Willst du, dass sie sagen: ‚Der vertraut doch auf Gott, doch sein Gott lässt ihn fallen‘? Willst du, Gott, dass sie Recht behalten? Du bist doch meine Rettung – verbirg dein Angesicht nicht vor mir!

Die Bibelforscher sprechen vom Stimmungsumschwung, den es in vielen Psalmen gibt. Die Beterin oder der Beter, der eben noch hemmungslos geklagt hat, fängt auf einmal an, Gott zu loben. Es klingt so, als würde er schon über Gottes rettendes Eingreifen jubeln, noch bevor es geschehen ist. „Ich will deinen Namen kundtun, rühmet Gott, dich will ich preisen“, so sprudelt es in Psalm 22 aus dem Beter oder der Beterin heraus. So kann sprechen, wer weiß: Gott hat mich schon einmal vor dem Schlimmsten bewahrt. Darum hoffe ich, dass Gott mir auch jetzt hindurch- und heraushilft.

           

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