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Der Retter ist geboren
Bildquelle: pixabay

Der Retter ist geboren

Stefan Buß
Ein Beitrag von Stefan Buß, Katholischer Pfarrer in der Innenstadtpfarrei St. Simplicius, Faustinus und Beatrix, Fulda

„Heute ist euch der Retter geboren!“, so wird den Menschen in der Heiligen Nacht und auch heute die wohl schönste Geschichte der Welt verkündet.
Es ist die Geschichte der Geburt Jesu, die Menschen verändern kann, wenn sie dafür ihr Herz öffnen.
Kein Wunder, daß sich an diesem Bericht der Menschwerdung Gottes immer neue Geschichten entzündet haben. Solche Geschichten haben die Wirkung, dass sie den Glauben erzählen und greifbar machen für den Menschen. Seit vielen Jahren begleitet mich eine Geschichte, die ich auch immer wieder gern erzähle. Sie bringt das Geschehen von Weihnachten neu zum Leuchten.
Die Geschichte erzählt von einem kleinen Jungen, der seinen Großvater besucht. Er schaut zu, wie der Großvater an seinen mächtigen Krippenfiguren schnitzt. Einige stehen schon fertig auf der Werkbank. Als der Junge ein wenig müde seinen Arm auf die Tischkante legt, merkt er, wie plötzlich alle Gestalten vor ihm lebendig werden. Und er war ganz erstaunt, dass er mit einem Mal mit ihnen reden konnte. Und noch mehr: Hirten, Könige, Maria und Josef waren nicht mehr klein und er nicht mehr groß. Der kleine Junge ging mitten unter ihnen umher, ohne groß aufzufallen. Und so ging er mit ihnen in den Stall von Bethlehem hinein. Da schaut er das Kind an, das in der Krippe lag. Das Kind schaut ihn an. Plötzlich bekommt der kleine Junge einen Schreck und die Tränen treten ihm in die Augen. Da fragt das Jesuskind ihn, warum er denn weine? „Weil ich dir nichts mitgebracht habe! Ich will dir aber so gern alles schenken.“ Das Jesuskind antwortet ihm: “Drei Dinge möchte ich von dir haben.“ Der kleine Junge fällt ihm ins Wort: „Meinen neuen Mantel, die elektrische Eisenbahn, das schöne Buch mit den vielen Bildern …?“ „Nein, das alles brauche ich nicht“, sagt das Jesuskind. „Dazu bin ich nicht auf die Welt gekommen. Schenke mir viel lieber deine letzte Klassenarbeit, den Aufsatz!“ Der kleine Junge erschrickt und wird rot im Gesicht. Er kommt ganz nahe an die Krippe und stottert leise, damit es niemand hören kann: „Unter meiner Klassenarbeit hat aber der Lehrer „ungenügend“ drunter geschrieben!“
„Eben deshalb will ich die Klassenarbeit ja haben“, sagt das Jesuskind. „Ich will immer alles von dir haben, was ungenügend in deinem Leben ist, das musst du mir versprechen! Aber ich will noch ein zweites Geschenk haben!“ Hilflos schaut der kleine Junge und verlegen.
 „Deinen Milchbecher“, sagt das Jesuskind. „Aber den habe ich doch heute zerbrochen“, entgegnet der Junge. Darauf antwortet das Jesuskind: „Du sollst mir immer im Leben das bringen, was du im Leben zerbrochen hast. Ich will es heil machen. Gib mir auch das!“ „Aber das ist schwer, hilfst du mir dabei?“, sagt der Junge. „Aber nun mein dritter Wunsch“, sagt das Jesuskind. „Bring mir nun die Antwort, die du deiner Mutter gegeben hast.“
Sie fragte dich, wie denn der Milchbecher kaputt gegangen ist. Der kleine Junge legt die Stirn auf die Kante der Krippe und weint bitterlich. „Ich habe den Becher aus Versehen umgestoßen, habe ich gesagt. Ich habe ihn absichtlich und aus Wut auf die Erde geworfen.“
Jesus antwortet ihm: „Du sollst mir immer alle deine Lügen und Unwahrheiten, deinen Trotz und deine Wut, alles Böse bringen. Und wenn du zu mir kommst, will ich dir helfen. Ich will dich annehmen in deiner Schwäche. Ich werde dir immer neu vergeben. Ich nehme dich an die Hand und zeige dir den Weg“, sagt das Jesuskind. „Das sind meine Geschenke an dich. Willst du dir das schenken lassen?“ Der kleine Junge schaute nur, hörte und staunte.

Gloria (aus Missa brevis in B) – Christopher Tambling (CD Geistliche Chorwerke Vol. II – Track 02)

Was kann uns die Geschichte des kleinen Jungen für heute sagen?
„Heute ist euch der Retter geboren!“ - Meinen wir nicht oft: Wenn Gott zu uns sagen würde: “Ich will etwas von dir haben“, dann müssten wir ihm große und teure, wertvolle Dinge geben? Für den kleinen Jungen aus unserer Geschichte sind es der neue Mantel, die elektrische Eisenbahn oder das schöne Buch. Was würden Menschen heute geben? Sie würden vielleicht bewusst auf Dinge im Leben verzichten, die Gebote oder Rituale gewissenhaft erfüllen oder große Geldspenden machen.
Weihnachten hat eine besondere Botschaft für die Menschen: Die teuren und schönen Dinge will der menschgewordene Gottessohn gar nicht von uns, dazu ist er nicht auf die Erde gekommen. An Weihnachten sagt er zu den Menschen: „Du sollst mir bringen, was in deinem Leben ungenügend ist.“ Den mangelnden Glauben, die unvollkommene Liebe, deine Zweifel, die ablehnende Haltung anderen Menschen gegenüber. Der menschgewordene Gottessohn Jesus Christus will all dies annehmen und genügend und gut machen. „Heute ist euch der Retter geboren!“
Es gibt immer wieder Situationen im Leben der Menschen, in denen sie die Erfahrung machen, dass es Brüche und Enttäuschungen gibt. Hier stellen sich Fragen. Da ist die Liebe zweier Menschen zerbrochen. Einer der Partner kommt nicht darüber hinweg. Da ist der Glaube eines Menschen dahin und Zweifel beherrschen ihn. Er fragt sich, wie er Gott finden soll in seinem Leben? Warum Gott lässt du das zu? Da ist ein Mensch gebrochen, weil ihn schweres Leid getroffen hat. Da kommt einer über die vernichtende Diagnose nicht hinweg: Bösartig! Krebs!
 „Du sollst mir immer das bringen, was in deinem Leben zerbrochen ist, ich will es heil machen!“, sagte das Kind in der Krippe zum kleinen Jungen.
Das ist das Angebot des menschgewordenen Gottessohnes. Wenn der Mensch es fertig bringt ihm alles Zerbrochene zu geben, dann wird er auch erfahren: Gott macht heil.
Der kleine Junge der Geschichte gesteht dem Jesuskind eine Lüge. Eine Lüge, unter der der Junge gelitten hat.
Wie oft leiden Menschen auch darunter, dass sie vor anderen mit Masken herumlaufen müssen. Sie leiden unter alltäglichen Lügen, mit denen sie sich immer und immer wieder aus Situationen des Alltags herauswinden wollen. Sie leiden an der Bosheit und kommen nicht darüber hinweg. Sie warten darauf, dass sie einer aus diesem Dilemma befreit. Wo finden solche Menschen Hilfe? Daraus folgt, dass die Schuld verdrängt wird, aber sie holt den Menschen immer wieder ein, er wird krank von solchen Haltungen. Woher kommt Hilfe und Vergebung?

„Geborn ist uns Emanuel“ – Rudolph Mauersberger (CD Rudolph Mauersberger, CD 2 – Track 9)

„Heute ist euch der Retter geboren!“ An Weihnachten spricht Gott durch seinen menschgewordenen Sohn zu jedem Menschen: „Wenn du zu mir kommst, will ich dir helfen, ich will dich annehmen in deiner Schwäche, ich will dir vergeben; ich will dich an die Hand nehmen und dir den Weg zeigen.“ Genau dazu ist Gott Mensch geworden.
Mit seinem Angebot will er den Menschen fragen: “Willst du dir diese Zuwendung und Liebe schenken lassen?“
Gelingt es dem Menschen sich für das Angebot Gottes zu öffnen, wird Weihnachten Wirklichkeit. Weihnachten ist es nicht wenn auf dem Kalender der 25. Dezember erscheint. Ja wann fängt Weihnachten eigentlich an?
In einem Text des Marburger Liedertexters Rolf Krenzer heißt es:
Weihnachten fängt an, wenn der Schwache dem Starken die Schwäche vergibt. Wenn der Starke die Kräfte des Schwachen liebt. Wenn der Habewas mit dem Habenichts teilt. Wenn der Laute bei dem Stummen verweilt und begreift, was der Stumme ihm sagen will. Wenn der Leise laut wird und das Laute still. Wenn das Bedeutungsvolle bedeutungslos, das scheinbar Unwichtige wichtig und groß. Wenn mitten im Dunkel ein winziges Licht Geborgenheit und helles Leben verspricht. Und du zögerst nicht, sondern du gehst so wie du bist darauf zu, dann ja, dann fängt Weihnachten an. 
Wenn es dem Menschen gelingt sein Herz zu öffnen und der Blick auf den Nächsten nicht vergessen geht, dann wird es Weihnachten. Menschwerdung jeden Tag im Leben.
Wenn Christen aufgefordert werden, dem Kind in der Krippe unser Herz zu schenken, dann ist das nicht ein lediglich von Krippenromantik oder gar Weihnachtskitsch umgebener süßlicher Satz. Das Leben kann manchmal hart sein – das hat auch Jesus erfahren. Deshalb versteht er die Menschen umso mehr. Vor allem dann, wenn sie sich ihm anvertrauen. Jesus nimmt sich den Menschen an. Er segnet sie. Er heilt sie. Eben auch all das Ungenügende, Zerbrochene und Unwahre in ihnen.

„Gelobt sei Gott im höchsten Thron“ – Chr. Tambling (CD Geistliche Chorwerke Vol. II – Track 14)

Tatsächlich besteht schon bei der Menschwerdung Gottes eine Verbindung zwischen Krippe und Kreuz. Zwischen der Geburt Jesu und seinem Tod. Das wurde mir bewusst, als ich in diesen Tagen eine Weihnachtskarte bekam. Auf dieser Karte ist ein Bild der Künstlerin Beate Heinen dargestellt mit dem Titel „Kreuz und Krippe“.
Im Vordergrund sieht man eine Felsenhöhle mit dem neugeborenen Jesuskind – nicht in einer Krippe, sondern in einer Art Trog, der wie ein Sarg aussieht. Von der Krippe weg führt ein Weg durch einen blühenden Garten. Je länger der Weg wird, umso kahler werden die Bäume, umso düsterer die Farben.
Am hinteren Bildrand ist ein Hügel mit drei Kreuzen zu erkennen. Der Weg schlängelt sich nach oben, er ist steil. Dort wächst nichts mehr. Dort ist es nicht einmal mehr grün, nur noch grau. Es ist kein Ort des Lebens, sondern des Todes. Der Name des Berges ist Golgotha, der Ort der Kreuzigung Jesu. Das Bild will also sagen: Der Weg Jesus führt von der Krippe zum Kreuz.
Jesus musste diesen Weg gehen. Es war sein Lebensweg. Die Malerin stellt mit ihrem Bild eines ganz deutlich heraus: Kreuz und Krippe gehören zusammen. Es ist nicht möglich, einen Teil des Lebens Jesu für sich zu nehmen – denn alles hängt zusammen, alles ist miteinander verwoben. Daher auch der Titel des Bildes von Beate Heinen: Kreuz und Krippe. Vielleicht mag der eine oder andere denken: Jetzt ist Weihnachten, da soll der Blick doch auf das freudige Ereignis der Geburt gerichtet sein. Selbstverständlich. Und trotzdem bin ich überzeugt: Da fehlt noch etwas.
Die Weihnachtskarte ist nicht die einzige Darstellung dieser Art. In einem alten Kreuzgang eines Südtiroler Klosters wird die Verbindung zwischen Krippe und Kreuz sichtbar. Dort befindet sich ein bekanntes Bild: Gott Vater sendet seinen Sohn zur Erde nieder, um in Maria Mensch zu werden; Jesus aber, der als kleines Kind dargestellt ist, trägt schon das Kreuz. Die Künstler machen uns in der Tat auf etwas aufmerksam, was in der Weihnachtsgeschichte erst auf den zweiten Blick Erkennbares ist. Sie machen uns aufmerksam auf die letzte Konsequenz, die mit der Menschwerdung Jesu Christi verbunden ist: auf seinen Tod, auf sein Sterben am Kreuz von Golgotha. Das heißt auch: alles Gebrochene des menschlichen Lebens hat an Weihnachten seinen Platz. Gelingt es dem Menschen sich für diese Botschaft zu öffnen, ist klar, „jetzt ist auch mir heute der Retter geboren“.

Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes und gnadenreiches Weihnachtsfest.

Dechant und Stadtpfarrer Stefan Buß, Fulda

„Jubilate“ – Jeffrey Skidmore (CD Joy in the morning – Track 24)

Musikauswahl: Reginalkantor Armin Press, Hanau

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