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Das weiße Taschentuch
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Das weiße Taschentuch

Dr. Ursula Schoen
Ein Beitrag von Dr. Ursula Schoen, Prodekanin, Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt

Der junge Mann saß mir gegenüber. Langsam liefen ihm die Tränen über das Gesicht. Intuitiv zog ich die Tempotaschentücher aus meiner Schreibtischschublade und gab ihm ein frisches Taschentuch. Gestern hatte er den Bescheid von der Ausländerbehörde erhalten: Er ist ausreisepflichtig. Seinem Antrag auf Asyl ist nicht stattgegeben worden. Er hatte monatelang gewartet. Sein Bett in der Sammelunterkunft für Flüchtlinge war sein einziger Rückzug. Und jetzt die Ablehnung. Wenn er nicht freiwillig nach Afghanistan zurückgeht, wird man ihn mit Zwang zurückschicken. In ein Flugzeug setzen und abschieben. Der Gedanke an den Alltag in Kabul macht ihm Angst. Das steht ihm ins Gesicht geschrieben. Zwischen uns beiden entsteht eine große Kluft: Ich lebe von Rechten geschützt im sicheren Deutschland. Er hat keinen Anspruch in diesem Land zu bleiben und geht in ein Land im Bürgerkrieg, in dem Menschen oft schutzlos dem täglichen Terror ausgeliefert sind. Ich bin hilflos. Ändern kann ich sein Schicksal nicht. Da erscheint das Taschentuch plötzlich als die letzte menschliche Geste, die ich noch geben kann.
Als der junge Mann das Taschentuch nimmt, schaut er mir in die Augen. Ein winziges Lächeln geht über sein Gesicht. Wir begegnen uns für einen kleinen Moment auf Augenhöhe: Bitte – Danke! Nicht der Flüchtling und die Pfarrerin begegnen sich, sondern zwei Menschen.
Die Schriftstellerin Hertha Müller erzählte in einer Rede einmal über die wichtige Rolle, die das Taschentuch für sie hatte. Jeden Morgen gab ihre Mutter ihr ein frisches Taschentuch mit auf den Weg. Das frisch gebügelte und sauber gefaltete Taschentuch begleitete sie. Es war ein Zeichen der mütterlichen Nähe. Der Alltag im sozialistischen Rumänien war sehr schwierig. Hertha Müller war mit ständigen Demütigungen konfrontiert. Als Angehörige der deutschen Minderheit wollte man sie nicht. In der Fabrik, wo sie als Übersetzerin arbeitet, nimmt man ihr den Schreibtisch weg. Sie wird dazu gezwungen, auf der Treppe zu arbeiten. In dieser Situation breitet sie das Taschentuch auf der Treppe aus. Das weiße Quadrat des Taschentuchs, auf das sie sich setzt, grenzt einen kleinen Raum ab. Markiert ihre Würde. So sieht die Schriftstellerin es.
Würde ist ein großes Wort. Die Würde von Menschen ist das Zentrum des jüdisch-christlichen Glaubens. Gott selbst macht den Menschen zu seinem Ebenbild. Er umgibt ihn mit Würde. Diese Würde bleibt Menschen, auch in den schwierigen Lebensmomenten wie der des jungen Mannes. Um Menschen Würde zu geben, braucht es nicht immer große Gesten. Für Hertha Müller ist es bereits ein Taschentuch!

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