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Zwischen den Fronten

Zwischen den Fronten

Martin Vorländer
Ein Beitrag von Martin Vorländer, Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt

„Wo kommen Sie her? Was ist Ihre Heimat?“ Die Frage klingt einfach, ist aber manchmal gar nicht leicht zu beantworten. Wo komme ich her? Im Personalausweis steht mein Geburtsort. Aber da bin ich nicht aufgewachsen. Es gibt die Kleinstadt meiner Kindheit und die Großstadt, in der ich als Jugendlicher zur Schule gegangen bin. Dann kommen Studienorte und berufliche Stationen. Wenn man für eine Arbeitsstelle oder aus Liebe woanders hingezogen ist, ab wann kann man von dem neuen Wohnort sagen: „Das ist meine Stadt. Hier fühle ich mich zu Hause“?

Es geht heute vielen so, dass nicht mehr nur ein Ort ihre Heimat ist. Wie Zugvögel breiten sie immer wieder neu die Flügel aus und ziehen weiter. Da reist die Frage mit: Was ist die Konstante in meinem Leben? Flügel haben ist schön. Aber ich brauche auch Wurzeln. Das kann die Familie sein, der Gefährte meines Lebens, Freundschaften, die durch die Jahre und über Entfernung hinweg halten.

Für viele gehört der Glaube an Gott zu ihren Wurzeln. So ein Mensch ist Augin Yalçın. Der 35-Jährige hat mehrere Heimaten. Er ist syrisch-orthodoxer Christ, kommt aus dem Südosten der Türkei und lebt seit seiner Kindheit in Deutschland. Er sagt:

„Heimat bedeutet für mich meine Geschichte, meine Sprache, meine Wurzeln. (…) Und diese Heimat ist Deutschland geworden, weil ich mit meinen Nachbarn die deutsche Sprache spreche, wenn ich einkaufen fahre, die deutsche Sprache spreche. Selbst meine Träume sind in Deutsch geworden. Aber die Wurzel ist aus Mesopotamien, genauer gesagt aus dem Tur Abdin. Und ich bin ein Mensch, der zwischen diesen zwei Kulturen lebt, ein Christ aus Antiochien ursprungs, einer aus dem Orient, der jetzt glücklich im Okzident lebt.“

Antiochien, Mesopotamien – das ist das Zweistromland zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris, die beide in der Türkei entspringen. Das klingt nach einer fernen, fremden Welt. Doch so ist das mit manch Fremdem: Wenn man es sich näher anschaut, ist es einem vertrauter, als man gedacht hat. Reisen Sie in Gedanken heute mit zu den Christen im Südosten der Türkei. In das Land, in dem der Stammvater und die Stammmutter des jüdischen Volkes Abraham und Sara geboren wurden. Hier hat man die Nachfolger von Jesus zum ersten Mal Christen genannt (Apostelgeschichte 11,26).

Bis heute gibt es hier Menschen, die Aramäisch sprechen, die Sprache von Jesus und seinen Jüngern. Wo heute der syrische Bürgerkrieg nur wenige Kilometer entfernt ist, wo sich der türkische Staat und die kurdische PKK blutig bekämpfen, dort steht die Wiege des Christentums, weil der Apostel Paulus von hier aus zu seinen Missionsreisen aufgebrochen ist und den Glauben an Christus bis nach Europa gebracht hat.

Musik: Fazıl Say, Mesopotamia Symphony

Freitagabend in Adıyaman, einer Großstadt im südöstlichen Anatolien. Rauch zieht durch die Straße. Im syrisch-orthodoxen Bischofssitz gibt es heute Abend „mangal“. Zu Deutsch: Die Gemeinde grillt. Die Kirche liegt hinter einer leuchtend weißen Mauer und wird von der Polizei bewacht. Man tritt durch ein Portal mit einem Kreuz über den beiden Holztürflügeln. Der Hof ist wie eine Oase. Der Sandstein der frisch renovierten Kirche strahlt die Wärme des Tages ab. Ein Nussbaum ragt über die Gebäude und breitet seine Zweige wie ein Dach über den Hof. Um seinen Stamm hat die Gemeinde eine Rundbank gezimmert, auf der einige Ältere Platz genommen haben. Bischof Gregorius erklärt stolz: „Das ist der größte Baum von Adıyaman.“

Unter dem Schatten der Äste steht eine Tischtennisplatte für Jugendliche. Auf dem Rasenstreifen um die Kirche herum sind eine Schaukel und ein Karussell in knallbunten Farben für Kinder aufgestellt. Der Kirchenvorsteher Emin, von Beruf Schmied, wendet die Köfte-Spieße auf dem Grill. Der Muezzin der Moschee in der Nachbarschaft ruft zum Freitagabendgebet. Bevor das Grillfleisch aufgetischt wird, gehen die gut 70 Mitglieder der christlichen Gemeinde zum Gottesdienst in die Kirche.

Als Besucher aus Deutschland bewundere ich die Ruhe, die auf diesem kleinen Flecken liegt. Die Christen hier haben es nicht leicht. Sie sind eine kleine Minderheit und leben in der Gefahr, zerrieben zu werden in den Konflikten um sie herum. Die Grenze zu Syrien, zu Bürgerkrieg und IS-Terror, liegt nur 100 Kilometer entfernt. Der Kampf des türkischen Staates gegen die kurdische PKK ist auch hier spürbar. Es kann jeden Tag Bombenanschläge geben. Die richten sich vor allem gegen die türkische Polizei und das Militär. Die Christen sind bislang nicht das Ziel. Aber jeder in dieser Region kann zwischen die Fronten geraten, zur falschen Zeit am falschen Ort sein.

Viele Familien stellen sich immer wieder die Frage: Sollen wir bleiben oder gehen? Wie können unsere Kinder hier aufwachsen? Da ist Meri, eine junge Frau, Mutter von zwei Kindern. „Wir kommen aus Syrien, aus Aleppo“, ruft sie in die Runde. Sofort schießen ihr Tränen in die Augen. Vor einigen Monaten ist sie in die Türkei geflüchtet. Ihre Eltern sind in Schweden. Meri hofft, mit ihren Kindern nachkommen zu können. Hier in Adıyaman gehört sie ganz selbstverständlich zur syrisch-orthodoxen Gemeinde.

Musik: Fazıl Say, Mesopotamia Symphony

Die Frauen der syrisch-orthodoxen Gemeinde von Adıyaman in der Südosttürkei scharen sich um ein Baby. Die Kleine hat dunkle Locken, Pausbäckchen und wurde vor einer Woche auf den Namen Vanessa getauft. Ihre Mutter Marta ist eine mollige Anfang 20-Jährige mit warmem Lächeln. Als Kind kam sie nach Deutschland. Sie erzählt: „Ehrlich gesagt hatte ich es schwer in Deutschland. Zehn Jahre lebte meine Familie in einem Asylbewerberheim in Heilbronn. Ich konnte nicht zur Schule, bekam nur einen Deutschkurs. Es war immer unklar, ob wir bleiben dürfen.“ Nun hat sie ihren Mann kennen gelernt. Ein syrisch-orthodoxer Christ wie sie. Dessen Familie lebt bei Adıyaman.

Darum ist Marta mit ihrem Mann in die Südosttürkei zurückgekehrt. Trotz aller Schwierigkeiten sagt sie: „Es geht uns gut hier. Vielleicht kann ich die Schule nachholen. Aber jetzt habe ich erst einmal mein Kind.“ Was macht das Leben der Christen in der Türkei schwierig? Johannes, ein junger Mathematiklehrer, erzählt: „Viele Christen haben Angst: Was denkt mein Nachbar über mich? Es gibt immer Leute, die uns als ‚Gavur‘, als Ungläubige beschimpfen, weil wir keine Muslime sind.“

Trotzdem hat sich die syrisch-orthodoxe Gemeinde von Adıyaman in den vergangenen fünfzehn Jahren neu gesammelt. Heute gehen wieder gut 500 Menschen aus der ganzen Region zur Kirche. Sie sind Türken. Ihre Familien sind seit Generationen Christen und leben seit Jahrhunderten hier. Einige haben ihre syrisch-orthodoxe Herkunft erst wiederentdeckt. Es ist Bischof Gregorius zu verdanken, dass die Gemeinde neu auflebt. Der 58-Jährige hat einige Zeit in Deutschland gelebt. Er ist in seine Heimat zurückgekehrt, in das uralte Gebiet der Christen im Südosten der Türkei, um für seine Leute da zu sein. Wie schafft man das, neu anzufangen, wo andere längst aufgegeben haben?

Musik: Fazıl Say, Mesopotamia Symphony

Bischof Gregorius ist ständig in Aktion. Die grauen Haare trägt er zur Igelfrisur kurz geschnitten. Der weiße Bart reicht ihm bis zur Brust. Randlose Brille vor regen Augen, schwarzer Anzug mit Kreuz am Revers, rotes Hemd, unter dem Jackett die Kapuze eines syrisch-orthodoxen Mönchs, die er sich zum Gebet über den Kopf zieht. Die Kapuze ist aus schwarzem Stoff mit dreizehn weiß gestickten Kreuzen – vorne zwölf Kreuze für die zwölf Apostel, auf dem Hinterkopf ein Kreuz für Christus. Mit dynamischen Schritten ist der 58-Jährige meistens vorneweg und fast immer am Handy.

Von Deutschland aus hält man den Südosten der Türkei für weit abgelegen, irgendwo am Ende der Welt. Aber die Städte dort – Gaziantep, Şanlıurfa, Adıyaman – sind moderne, wachsende Metropolen mit gut ausgebauten Straßen und neuem Flughafen. Und jeder dort hat ein Handy. Es gibt keine abgeschiedene Provinz mehr, seit es Smartphone gibt. Bischof Gregorius skypt auf der Fahrt im Kleinbus über Land schnell mal mit einem syrisch-orthodoxen Religionslehrer im nordrheinwestfälischen Herne. Er telefoniert mit türkischen Behörden, um einen Besuch im Flüchtlingscamp zu organisieren.

Das macht einen großen Unterschied zum Kurdenkonflikt in den 1990er Jahren. Auch damals gerieten die Christen in der Südosttürkei zwischen die Fronten. Sie fühlten sich in ihren zerschossenen Dörfern von der Welt abgeschnitten. Heute können sie sofort über Facebook oder SMS Nachricht geben, wo es einen Bombenanschlag gegeben hat oder in welchem Gebiet Kämpfe stattfinden. Bischof Gregorius hat sein Deutsch zum Teil in Regensburg gelernt. Er sagt heute noch auf gut bayerisch „Gemma, gemma“, zu Deutsch: „Gehen wir, los jetzt!“ Das passt zu seinem Wesen, das immer vorwärts drängt. „Gemma, gemma!“, mit dieser Schubkraft hat er seine Gemeinde neu aufgebaut.

Musik: Fazıl Say, Istanbul Symphony

Als Bischof Gregorius im Jahr 2001 nach Adıyaman kam, war das Gebäude der syrisch-orthodoxen Kirche heruntergekommen. Es gab keinen Priester, der Gottesdienst feierte, taufte, traute oder Beerdigung hielt. Die Mitglieder der Gemeinde waren ausgewandert oder abgetaucht. Gregorius begann, die Kirche zu renovieren und daneben ein Gemeindehaus zu bauen. Dafür sammelte er Spenden in Deutschland und anderen Ländern Europas. Und er besuchte seine Leute, die weit verstreut wohnen, bis zu 500 Kilometer entfernt. Baugenehmigungen einholen und das Misstrauen der muslimischen Nachbarn überwinden, das hat die ersten Jahre viel Kraft gekostet. Mal wurde er als christlicher Bischof auf der Straße beschimpft, mal wurde sein Auto beschmiert.

Heute wirkt das anders. Gregorius kennt viele, und viele kennen ihn. Der Empfangschef in einem Hotel, selbst Muslim, holt seine beiden kleinen Töchter, als er Gregorius sieht. Der Bischof legt den Mädchen kurz die Hand auf den Kopf und sagt ihnen ein paar gute Worte. Was treibt ihn an, was stärkt ihn? Gregorius sagt: „Glaube ist das Wichtigste. Ohne Glauben können Sie anderen Menschen nicht dienen. Der Glaube ist die Ursache von allem.“ Mich beeindruckt, mit welchem tatkräftigen Glauben die Christen in der Südosttürkei neu aufbauen, wo alles äußerlich heruntergekommen und innerlich zerstreut scheint. Was sind das überhaupt für Christen? Warum nennen sie sich syrisch-orthodox oder auch Aramäer und sind doch Türken? Und was haben wir in Europa mit den Christen im Orient zu tun?

Trishagion aus syrisch-orthodoxem Gottesdienst:
„Heilig bist du, o Gott. Heilig bist du, der Starke. Heilig bist du, der Unsterbliche, der du für uns gekreuzigt worden bist. Erbarme dich unser.“

So klingt das auf Aramäisch, der Sprache der syrisch-orthodoxen Christen. Aramäisch ist die Sprache von Jesus und seinen Jüngern. Darum sind Syrisch-Orthodoxe so etwas wie die Urchristen. Für uns in Deutschland hören sich ihre Gesänge im Gottesdienst eher fremd an, orientalisch. Und doch kommt der christliche Glaube des Abendlandes von dort: aus dem Südosten der Türkei und aus Syrien. Von Jerusalem aus hat sich der Glaube an Jesus Christus zuerst nach Damaskus und nach Antiochien ausgebreitet, dem heutigen Antakya in der Türkei. Dort wurden die Jesus-Anhänger zum ersten Mal „Christen“ genannt (Apostelgeschichte 11,26). Von dort brach der Apostel Paulus zu seinen Missionsreisen bis nach Europa auf.

„Ich bin ein Aramäer“, sagen syrisch-orthodoxe Christen noch heute von sich. Die Aramäer sind ein uraltes Kulturvolk, das es schon zu Zeiten des Alten Testaments gab, lange vor Christus. Im fünften Buch Mose sagt das biblische Volk Israel von sich: „Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk.“ (5. Mose 26,5) Das ist Glaube in einem einzigen Satz verdichtet. Gott stärkt mich, wenn ich dem Umkommen nahe bin oder in der Fremde lebe. Bibelwissenschaftler bezeichnen diesen Satz als eine „Kurzformel des Glaubens Israels“.

Die Israeliten damals waren schon lange sesshaft, wohnten in festen Häusern und bestellten ihre Felder. Trotzdem sollten sie sich zu jedem Erntedankfest erinnern: Wir stammen von Menschen ab, die heimatlos waren, die losziehen mussten so wie Abraham und Sarah, Jakob, Lea und Rahel. Wir stammen von Fremdlingen ab. Wir waren eine Minderheit und doch hat Gott uns geholfen, dass wir nicht untergehen. „Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe.“ Diese Erfahrung machen aramäische Christen auch heute. Viele befürchten, dass es bald keine Christen mehr im Südosten der Türkei, in Syrien, im Irak geben wird, weil sie in den Konflikten umkommen oder vor dem Terror in ihren Ländern fliehen. Viele sind schon ausgewandert. Gut 100.000 syrisch-orthodoxe Christen leben in Deutschland, haben Kirchen und Gemeinden in Bad Vilbel, Wiesbaden und Gießen, in Augsburg, Gütersloh, Warburg und vielen Orten mehr. Augin Yalçın ist einer von ihnen. Er kommt aus dem Südosten der Türkei und ist in Deutschland aufgewachsen. Er sagt:

„Die Sonne der syrischen Tradition, der Christen aus diesem Gebiet, wird hier nicht untergehen. Aber ich bin ganz großer Hoffnung, dass diese Sonne in Europa aufgehen wird und dass diese Kirche, die hier gerade Exodus erlebt, ein Licht wird auch für die anderen Christen in Europa, für die Schwesterkirchen.“

Große Worte. Es braucht große Worte, einen starken Glauben und inneren Halt, wenn man immer wieder erlebt hat, dass man angefeindet wird und die eigene Existenz bedroht ist. Die aramäischen Christen wurden wie die Armenier vor hundert Jahren Opfer der Massaker der damaligen jungtürkischen Regierung im Osmanischen Reich. Unsicherheit und Angst sind bis heute Teil ihres Lebensgefühls: Die Nachbarn, mit denen sie heute gut leben, werden die sich morgen gegen sie wenden? Irgendwann geht die Kraft aus, zerstörte Dörfer und Häuser wieder aufzubauen und von neuem Kontakte zu knüpfen, damit man in Frieden miteinander leben kann. Der christliche Glaube an Auferstehung und an Gottes Macht, selbst den Tod in neues Leben zu verwandeln, ist eine starke Hoffnung. Augin Yalçın beschreibt das so:

„Nicht wir tragen die Wurzel, sondern die Wurzel trägt uns. Und die Wurzel des Christentums ist auch im Tur Abdin verwurzelt, tief, fest in diesen ganzen Feldern und die Hoffnung ist ganz groß. Und es werden in der Zukunft große Früchte getragen werden und die Hoffnung durch die Auferstehung Christi ist allgegenwärtig, jeden Sonntag da.“

Die Christen in der Türkei und im Nahen Osten haben sich oft als eine Brücke verstanden. Sie verbinden Orient und Okzident. „Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, ein Fremdling“, so heißt die Glaubensformel aus dem Alten Testament. Ich lebe in Deutschland gut und sicher. Die Bibel erinnert mich daran: Es könnte auch ganz anders sein. Nichts, was ich habe und bin, ist sicher. Nichts gehört mir fest.

Es könnte von heute auf morgen alles weg sein. Vielleicht lösen Flüchtlinge deshalb bei manchen Einheimischen Unsicherheit oder sogar Abwehr aus. Sie bringen unangenehm nahe, dass es mir auch so gehen könnte. Sie bringen aber auch nahe, wie stark Glaube und Hoffnung sein können. Als Christ in Europa bin ich beeindruckt, wie der Glaube Heimat gibt, auch wenn man selbst heimatlos geworden ist. Die Christen aus dem Nahen Osten erinnern die Christen in aller Welt an den Ursprung ihres Glaubens. Deshalb am Schluss das Vaterunser, das älteste Gebet aller Christen, auf Aramäisch, in der Sprache Jesu.

Musik: Fazıl Say, Mesopotamia Symphony

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