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Zwei Hebammen bieten ihrem Herrscher die Stirn
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Zwei Hebammen bieten ihrem Herrscher die Stirn

Doris Joachim
Ein Beitrag von Doris Joachim, Evangelische Pfarrerin, Referentin für Gottesdienst im Zentrum Verkündigung, Frankfurt

Es gibt Menschen, die das hässliche Gesicht einer Gesellschaft verändern

Musikkonzeption: Uwe Krause • Sprecher: ​​Olaf Pessler

Sie heißen Schönheit und Glanz. Schifra und Pua. Zwei Hebammen. Von ihnen erzählt die Bibel im zweiten Buch Mose. Gottesfürchtige Frauen im alten Ägypten. Sie bieten einem gewalttätigen Herrscher die Stirn. Ihre Geschichte erzähle ich heute und die Geschichte anderer mutiger Frauen, die sich nicht beugen vor der Macht der Unterdrücker.
Schön und glänzend ist das, was Hebammen zu allen Zeiten tun: Frauen in ihren Schmerzen beistehen. Stundenlang bei ihnen sitzen. Sie ermutigen. Beim Atmen helfen. Die Herztöne des Kindes überwachen. Das Kind auffangen, wenn es kommt. Nabelschnur durchtrennen, das Neugeborene versorgen. Dieser Beistand ist wichtig. Denn eine Frau, die ein Kind gebärt, ist besonders verletzlich. Hilflos. Ausgeliefert. In Angst. Aber auch in Spannung und Freude. Schmerzen und Lebensgefahr und Glück – alles liegt ganz nah beieinander, in der Antike besonders, aber auch heute. Da braucht es Schönheit und Glanz, Schifra und Pua. Hebammen, die Sicherheit geben und die Zuversicht: Das neue Leben ist bald da. Dein Kind, dein Sohn, deine Tochter. Jedesmal ein Wunder.
Nun aber bekommen die ägyptischen Hebammen einen hässlichen und düsteren Auftrag. Sie sollen nicht zum Leben helfen, sondern töten, und zwar alle neugeborenen Jungen der Israelitinnen. Und das kam so:
Die Israeliten wohnen schon seit ungefähr 70 Jahren in Ägypten. Ursprünglich waren sie vor einer Hungersnot aus ihrer Heimat geflohen, aus dem Land Kanaan. Davon erzählt die Geschichte von Josef und seinen Brüdern. Die kleine Schar der Israeliten hat sich gut integriert. Sie haben zum Wohlstand im Land der Pharaonen beigetragen. Die Arbeitskraft der ehemaligen Wirtschaftsflüchtlinge war willkommen. Darum blieben sie. Das Nebeneinander der Kulturen und Religionen verläuft nicht ohne Reibung. Die Israeliten werden immer mal verächtlich „Hebräer“ genannt, was soviel wie „Umherziehende“ heißt oder einfach „Nicht-Ägypter“. Aber es geht ihnen gut. Bis ein neuer König an die Macht kommt.

Ein neuer Pharao kommt an die Macht. Er will von dem bisherigen guten Zusammenleben zwischen Ägyptern und Israeliten nichts mehr wissen. Er beginnt, das fremde Volk in seinem Land systematisch zu unterdrücken. Die Bibel schildert, wie Hass von oben her geschürt wird, wie eine Regierung ihr Volk gegen eine Minderheit aufhetzt.

Und der ägyptische König sprach zu seinem Volk: „Siehe, das Volk Israel ist mehr und stärker als wir. Wohlan, wir wollen sie mit List niederhalten, dass sie nicht noch mehr werden. Denn wenn ein Krieg ausbräche, könnten sie sich auch zu unsern Feinden schlagen und gegen uns kämpfen und aus dem Lande ausziehen.“ (Ex 1,9-10)

Die Sätze kommen mir bekannt vor. Angst vor Überfremdung. Angst, die Ausländer könnten das eigene Volk unterwerfen. Anders als heutige Populisten fürchtet der Pharao auch, die Israeliten könnten nach dem Sieg über Ägypten das Land verlassen. Es würde ihm dann nämlich massiv an Arbeitskräften bzw. Sklaven fehlen. Sie sollen also mehr arbeiten, beschließt der Pharao. Das soll sie schwächen. Die Zwangsarbeit wird perfekt organisiert.

Und man setzte Fronvögte über sie, die sie mit Zwangsarbeit bedrücken sollten. Und sie bauten dem Pharao die Städte Pitom und Ramses als Vorratsstädte. Aber je mehr sie das Volk bedrückten, desto stärker mehrte es sich und breitete sich aus. Und es kam sie ein Grauen an vor Israel. Da zwangen die Ägypter die Israeliten unbarmherzig zum Dienst und machten ihnen ihr Leben sauer mit schwerer Arbeit in Ton und Ziegeln und mit mancherlei Frondienst auf dem Felde, mit aller ihrer Arbeit, die sie ihnen auflegten ohne Erbarmen. (Ex 1,11-14)

Und weil die Zwangsarbeit noch nicht reicht, ersinnt der Pharao den perfiden Plan für einen Massenmord:

Und der König von Ägypten sprach zu den Hebammen der Hebräer, von denen die eine Schifra hieß und die anderen Pua: „Wenn ihr den hebräischen Frauen helft und bei der Geburt seht, dass es ein Sohn ist, so tötet ihn; ist‘s aber eine Tochter, so lasst sie leben.“ (Ex 1,15-16)

Schifra und Pua, deren Namen Schönheit und Glanz bedeuten, bekommen es mit dem Hässlichen und Dunklen zu tun. Sie sollen das Vertrauen der Frauen missbrauchen. Sie sollen in diesem wunderbaren Moment, in dem neues Leben hervorbricht – töten. Der Befehl des Pharao wird nur knapp geschildert. Es klingt aber so, als solle dieses Morden an den kleinen Jungen verdeckt geschehen, ohne dass die Mütter es merken. Die offene Gewalt will der ägyptische König wohl vermeiden, vorläufig jedenfalls. Denn er hätte ja auch einfach seine Soldaten schicken können. Vielleicht hätte es in der ägyptischen Bevölkerung doch noch Widerstand gegen solche Barbarei gegeben. Nein, kein Aufruhr. Nichts Offizielles. Die Hebammen sollen es tun. Die, die am nächsten dran sind. Da fällt es vielleicht nicht so auf. Bei der Geburt sterben Kinder – das kommt doch oft vor.
Kinder sterben lassen. Willentlich, absichtlich. Ich lebe in einer Welt, die sich sowas eigentlich nicht vorstellen kann. Ich will mir das auch nicht vorstellen. Dass es Menschen gibt, deren Hass zum Töten drängt. Wer macht sowas? Wer will sowas? Und dann sitze ich da, lese Zeitung, höre Nachrichten und kriege es mit der Angst zu tun. Da rufen Menschen, auch in meinem Land, zum Hass auf. Ungeniert. Und nur wenige sagen: Das geht doch nicht. Habt ihr keine Ehrfurcht vor dem Leben? Oder vor Gott? Oder doch wenigsten vor den Gesetzen? Das ist nicht neu. Vor 80 Jahren bereiteten Hitlers Schergen die Deutschen nach und nach auf das Töten der Juden und anderer Gruppen vor. Sie schürten Angst vor der angeblichen Herrschaft der Juden über alle anderen. Die Gewalt wurde langsam vorbereitet. Sie explodierte dann im November 1938 in der Pogromnacht. Da zündeten die deutschen Nazis Synagogen und jüdische Geschäft an. Und die meisten Deutschen guckten tatenlos zu. Danach fing das systematische Töten an. Und ich denke: Das kann sich doch nicht wiederholen. Was können wir tun?

Schifra und Pua, die beiden ägyptischen Hebammen, bekommen von ihrem Herrscher die Anweisung, nur die neugeborenen Jungen der Israelitinnen zu töten, nicht die Mädchen. Das ist merkwürdig. Denn es braucht ja hauptsächlich die Frauen und rein theoretisch nur wenige Männer für die Vermehrung eines Volkes. Aber es geht dem Pharao wohl nicht nur um die Zahl, sondern um die Herrschaft. Und die stellen sich viele Männer in einer patriarchalen Gesellschaft leichter vor, wenn sie hauptsächlich Frauen vor sich haben. So denkt sich das wohl auch der König von Ägypten und glaubt: Die Hebammen werden fraglos seinen Befehl ausführen. Das tun sie aber nicht. Die Bibel erzählt weiter:

Aber die Hebammen fürchteten Gott und taten nicht, wie der König von Ägypten ihnen gesagt hatte, sondern ließen die Kinder leben. Da rief der König von Ägypten die Hebammen und sprach zu ihnen: „Warum tut ihr das, dass ihr die Kinder leben lasst?“ Die Hebammen antworteten dem Pharao: „Die hebräischen Frauen sind nicht wie die ägyptischen, denn sie sind kräftige Frauen. Ehe die Hebamme zu ihnen kommt, haben sie geboren.“ Darum tat Gott den Hebammen Gutes. Und das Volk mehrte sich und wurde stark. Und weil die Hebammen Gott fürchteten, segnete er ihre Häuser. (Ex 1,17-21)

Zwei Frauen bieten ihrem König die Stirn. Sie tun es nicht offen. Das wäre zu gefährlich. Sie lügen. Und retten dadurch Menschenleben. Sie fürchten Gott, heißt es. Gottesfurcht – das ist: So leben und handeln, dass es Gott gefällt und den Menschen gut tut. Respekt haben, anständig sein. Gottesfurcht ist nicht Angst vor Gott, sondern Ehrfurcht. Zu den häufigsten Sätzen in der Bibel gehören zwei über das Fürchten. Der eine heißt: „Fürchte dich nicht.“ Und der andere: „Fürchte Gott.“ Das klingt widersprüchlich. Ich denke: Beide Sätze gehören eng zusammen.
Fürchte dich nicht. Das sagt Gott zu Menschen, die zu Tode erschrocken sind. Fürchte dich nicht, auch wenn du überwältigt wirst. Fürchte dich nicht, denn ich verlasse dich nicht. Starke Sätze sind das. Sie wirken – auf mich jedenfalls. Auch wenn ich realistisch genug bin zu wissen: Gott hat mich nicht vor allem Schrecken bewahrt. Gott verhindert das Böse nicht, jedenfalls nicht immer. Dabei hätte ich es so gern. Dass er alle, die Böses tun, das Fürchten lehrt. Sollen sie doch Angst haben vor dem Herrn der Welt. Aber so ist Gott nicht. Wirkliche Gottesfurcht entsteht aus Liebe und aus Vertrauen. Ehrfurcht vor Gott ohne Angst, aber doch mit Respekt vor Gottes Geboten.
Leider wurde im Christentum viel Schindluder getrieben mit der Formulierung, dass wir Gott fürchten sollen. Das ist in unseren Schwesterreligionen Judentum und Islam genauso. Da wurde und wird auch heute Menschen die Hölle heiß gemacht. Aus Angst vor Gott entsteht keine Gottesfurcht, kein Anstand, keine Achtung. Angst vor Gott ist immer eine schlechte Ratgeberin. Sie macht enge Menschen. Nur aus dem Vertrauen in Gott entsteht Mut. Das ist Gottesfurcht, wie sie die Bibel versteht: Ehrfurcht vor Gott und Ehrfurcht vor dem Leben. Das hilft dazu, einem König die Stirn zu bieten oder einem Präsidenten.
Wie zum Beispiel Juli Briskman. Sie hat im letzten Oktober dem amerikanischen Präsidenten den Stinkefinger gezeigt, als dessen Limousine auf dem Weg zum Golfplatz zufällig an ihr vorbeifuhr. Sie saß gerade auf dem Fahrrad. Das Bild ging durch die Medien. Anschließend verlor sie ihren Job. Zuerst war sie schockiert. Ihr Leben ist ziemlich durcheinander geraten. Inzwischen steht sie zu ihrer spontanen Aktion und findet es gut, dass sie eine so große Öffentlichkeit erfährt. Sie sagt: „Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, laut zu werden.“ Es ist eine kleine Geste. Aber mir gibt das Hoffnung. Da sind Frauen, die widerstehen. Die gottesfürchtigen Hebammen haben dem Pharao mehr als den Stinkefinger gezeigt. Sie haben seine Macht unterhöhlt und Leben gerettet. Aber das war noch nicht das Ende.

Schifra und Pua haben ihren Namen Schönheit und Glanz alle Ehre gemacht. Sie haben den Mut gehabt, sich dem Befehl ihres Herrschers zu widersetzen. Es heißt, dass Gott die beiden Hebammen dafür beschützt und belohnt hat. Aber die Frauen haben den Pharao nicht aufhalten können. Auch Gott hat das nicht getan. Die Bibel erzählt mit dürren Worten, wie es weiterging:

Da gebot der Pharao seinem ganzen Volk und sprach: „Alle Söhne, die geboren werden, werft in den Nil, aber alle Töchter lasst leben.“ (Ex 1,22)

Es war wohl das erste Pogrom in der Geschichte Israels. Es sollten noch viele folgen. Im nächsten Kapitel des 2. Mosebuches sind es dann übrigens wieder Frauen, die das Leben eines Kindes retten. Die Mutter und die Schwester des kleinen Mose und die Tochter des Pharao. Ausgerechnet die Königstochter rettet einen israelitischen Jungen vor dem Tod im Nil. Die subversive Kraft von Frauen in einer patriarchalen Welt hat große Wirkung. Darum erzähle ich heute ihre Geschichte.
Wir sind nicht hilflos. Wir können etwas tun. Wir können Leben retten oder Leben lebenswerter machen. Wir können Hassparolen widerstehen. Und wir müssen das nicht allein tun. Schifra und Pua waren zu zweit, mindestens. Wir können Menschen unterstützen, einfach dadurch, dass wir hinschauen und uns informieren. So wie über die iranischen Frauen, die sich nicht unter Schleiern verbergen wollen.
Vida Movahed zum Beispiel. Die junge iranische Frau stieg im Dezember letzten Jahres auf einen Verteilerkasten an der stark befahrenen Straße der Revolution in Teheran. Sie nahm ihren Schleier vom Kopf und heftete ihn an einen Stock wie eine Friedensfahne. So stand sie eine Stunde lang da, bis sie verhaftet wurde. Wie sie demonstrieren viele iranische Frauen gegen den Kopftuchzwang und für ihre Rechte als Mensch. Dabei riskieren sie ihre Freiheit und ihre Gesundheit, manche auch ihr Leben. Viele Menschen solidarisieren sich weltweit. Auch iranische Männer. Sie binden sich selbst ein Kopftuch um und lassen sich mit ihren unverschleierten Schwestern, Ehefrauen oder Müttern fotografieren. Das verbreiten sie dann über die sozialen Netzwerke. Sie werden gehört. Sie werden gesehen. So breiten sich Schönheit und Glanz aus.
Ich sehe das und bin etwas erleichtert. Es gibt sie – diese Menschen, die das hässliche Gesicht einer Gesellschaft verändern. Es ist möglich. Ich kann zwar nicht einem zufällig an mir vorbeifahrenden Präsidenten den Stinkefinger zeigen. Aber andere tun das. Dinge können sich zum Guten verändern. Manchmal muss ich mir das allerdings mehrmals sagen. Denn es bleibt in mir die bohrende Frage: Was tut Gott? Wie soll ich auf Gott vertrauen, wennn er zusieht, wie Menschen Menschen verachten oder gar töten?
Ich habe keine wirkliche Antwort darauf. Die hat niemand. Und doch weiß ich nichts anderes, als auf Gott zu hoffen und von ihm Trost zu erbitten. Da finde ich meine Kraft. Besser kann ich es nicht erklären.
So geht es wohl auch Rebecca Lolosoli aus Kenia vom Stamm der Samburu. Sie hat eines Tages beschlossen, die traditionelle Herrschaft der Männer über ihre Frauen nicht mehr zu akzeptieren. 1990 hat sie ein Frauendorf gegründet. Es heißt Umoja – übersetzt: Zusammen. In Umoja finden misshandelte und vergewaltigte Frauen eine Heimat und ein selbstbestimmtes Leben. 48 Frauen sind es. Sie kämpfen besonders gegen die Genitalverstümmelung, die sie alle selbst erlitten haben. Frauen sollen Lust empfinden können und Freude an ihren Körpern. Sie leben von der Landwirtschaft, vom Verkauf ihres Perlenschmucks an Touristen und von Spenden. Aber sie leben gefährlich. Immer wieder versuchen Männer, den Frauen das Dorf und das Land wegzunehmen, manchmal mit Gewalt. Die Frauen nennen Rebecca Lolosoli „Mama Mutig“. Sie selbst sagt: „Ich kümmere mich um alle so, wie es eine Mutter tun würde.“ In einem Interview wird sie gefragt: „Und wer kümmert sich um Sie?“ Rebecca Lolosoli antwortet nüchtern: „Gott und mein Sicherheitspersonal.“ Das Sicherheitspersonal sind die erwachsenen Söhne einiger Frauen aus dem Dorf Umoja. Mich beeindruckt, wie sie beides nennt: Den irdischen ganz handfesten Schutz, der ihr überleben hilft. Und den himmlischen Schutz, der ihr die Lebenskraft gibt, die sie braucht.
Man sieht ihr den Mut nicht auf den ersten Blick an. Eine einfache Frau aus Afrika mit einem scheuen Lächeln. In den Augen aber die Energie einer Frau, die nach Leben und Glück strebt, nicht nur nach dem Überleben. Und dann sehe ich im Film, wie diese Frauen tanzen und denke: Wie wunderbar, dass es sie gibt. Für mich sind sie Hebammen der Hoffnung. Sie machen mir Mut. Neues gibt es. Zwischen Schmerz, Lebensgefahr und Glück sagen sie mir: Fürchte dich nicht. Zusammen geben wir der Welt Schönheit und Glanz.

Literatur
Birgit Virnich und Rebecca Lolosi: Mama Mutig: Wie ich das erste Frauendorf Afrikas gründete, erschienen 2011, nur als E-Book erhältlich.

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