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Wo du stehst, ist heiliger Boden

Wo du stehst, ist heiliger Boden

Martina Patenge
Ein Beitrag von Martina Patenge, Katholische Referentin für Glaubensvertiefung und Spiritualität, Kardinal-Volk-Haus Bingen
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Trockene Steppe, eine friedlich weidende Schafherde, ein entspannter Hirt – und dann auf einmal ein Dornbusch in Flammen, eine geheimnisvolle Stimme, Spannung und Aufregung: so beginnen Krimis. Wie ein Krimi beginnt auch eine entscheidende Szene in der Bibel, die Begegnung zwischen Mose und Gott. Es ist eine sehr wichtige Begegnung, auf ihr beruht alles, was danach in der Bibel erzählt wird. Was ist da los? Die ruhige Steppe – der brennende Dornbusch - erst nach und nach entschlüsseln sich die Anfangsbilder, entsteht eine Geschichte. Hier draußen in der Steppe spricht Gott zu dem Viehhirten Mose, hier beauftragt er ihn, in seinem Sinn tätig zu werden und für ihn zu arbeiten. Und so klingt der Auftakt zu der langen gemeinsamen Geschichte zwischen Gott und dem Mose, so erzählt es die Bibel im Buch Exodus:

Mose weidete die Schafe und Ziegen seines Schwiegervaters Jitro, des Priesters von Midian. Eines Tages trieb er das Vieh über die Steppe hinaus und kam zum Gottesberg Horeb. Dort erschien ihm ein Engel des HERRN in einer Feuerflamme mitten aus dem Dornbusch. Er schaute hin: Der Dornbusch brannte im Feuer, aber der Dornbusch wurde nicht verzehrt. Mose sagte: Ich will dorthin gehen und mir die außergewöhnliche Erscheinung ansehen. Warum verbrennt denn der Dornbusch nicht? Als der HERR sah, dass Mose näher kam, um sich das anzusehen, rief Gott ihm mitten aus dem Dornbusch zu: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich! Er sagte: Komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden!  (Ex 3,1-4)

„Heiliger Boden“ – das ist ein Begriff, den jeder versteht. Auch in sehr alltäglichen Zusammenhängen. In einer fremden Wohnung ziehen die meisten Leute die Schuhe aus. Teppichboden oder Parkett sollen nicht mit  Straßenschuhen betreten werden. Das hat sicherlich zuerst hygienische Gründe. Aber ich vermute, es geht noch tiefer: Mit dem Ausziehen der Schuhe erkenne ich den Privatbereich eines anderen Menschen an. Dieser private Bereich soll frei bleiben von allem, was dort nichts zu suchen hat. Mit den Schuhen ziehe ich auch einen Teil meiner Rolle aus, zu deren äußerlichen Merkmalen Schuhe eben auch gehören. Als Privatmensch komme ich zu Privatmenschen. Barfuß oder in Strümpfen bin ich leiser und verletzlicher. Ohne Schuhe ist kein großer Auftritt möglich. Das gilt auch im religiösen Bereich –  christliche Meditationsräume werden meist ohne Schuhe betreten, auch christliche Kirchen in manchen Ländern wie Äthiopien, die muslimischen Gebetshäuser und Moscheen. Ich bücke mich, um meine Schuhe auszuziehen. Einen großen Auftritt hat ab jetzt nur noch Gott, die Stille, das Reden mit ihm. Ich dagegen ordne mich leise unter.

Musik: Schumann Kinderszenen op. 15, Nr. 10:  „Fast zu ernst“

„Mose, komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe ab, denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden
!“  so hört Mose die Stimme Gottes reden. Und so beginnt eine aufregende Geschichte - die Geschichte des Volkes Israel. Und die Geschichte des Mose, der zum Helfer und Anführer dieses Volkes werden soll. Die Begegnung von Mose mit seinem Gott im brennenden Dornbusch erzählt viel davon, wie Gott ist.

Während seiner ganz gewöhnlichen Arbeit sieht Mose diesen ganz gewöhnlichen Dornbusch brennen. Dieser brennt, aber verbrennt nicht. So etwas hat Mose ja noch nie gesehen. Deshalb will er wissen, was es damit auf sich hat. Deshalb geht er mit der Herde nicht einfach achtlos weiter. Er verlässt seinen gewöhnlichen Weg, hin zu dem unbekannten Phänomen. Und jetzt erst, direkt vor dem brennenden Busch, kann er Gottes Stimme hören. Er soll stehenbleiben und den heiligen Boden achten.  Das ist die erste Lern-Erfahrung für Mose: Die staubige Steppe wird plötzlich zu einem Ort der Gottesbegegnung. Mitten im normalen Arbeitsleben des Mose. Genau da will er dem Mose begegnen. Das muss Mose erst einmal begreifen. Was hat das zu bedeuten, so ganz aus heiterem Himmel? Gott spricht mit ihm!  Und hat einen Auftrag an ihn. Mit dieser Erfahrung begreift Mose, dass er nicht länger Hirte sein soll, sondern eine ganz andere Aufgabe auf ihn wartet.

Musik: Poulenc: Sonate für Flöte und Klavier, 1. Satz

Gott überrascht den Mose mitten im normalen Arbeitsleben. An einem ganz und gar gewöhnlichen Ort. Daraus lässt sich ablesen: Dieser Gott möchte nicht nur in den an besonderen heiligen Orten vorkommen, sondern den Menschen überall begegnen. Auch an Orten, an denen er nicht vermutet wird. Das ist deshalb bedeutsam, weil sich das auch heute ereignet. Auch heute können Alltags-Orte überraschend zu heiligen Orten werden. Wenn da plötzlich, vielleicht im Bus oder am Arbeitsplatz oder auf dem Markt etwas geschieht, das mich aufhorchen lässt. Ein besonderer Aha-Effekt. Ich habe auf einmal eine Einsicht, die mich weiterführt. Oder ich erlebe eine Begegnung, die irgendwie besonders ist, die mich vielleicht ganz tief anrührt und bewegt. In einem solchen Moment sagen ja auch manche: Dass ich Dich jetzt treffe! Also dich schickt der Himmel! Gläubige Menschen deuten solche Ereignisse so: In diesem Augenblick war etwas von Gott spürbar, das war ein heiliger Moment.

Um heilige Momente zu erkennen braucht es gar nicht viel: Eigentlich braucht es nur achtsames Wahrnehmen -  spüren, hören, erleben, mitfühlen. Aufmerksame Sinne also. Ganz im Moment da sein. Dazu braucht es noch eine Kunst, die für viele gar nicht so einfach ist: Es ist die Kunst, die großen und kleinen Ereignisse anzunehmen, wie sie sind, und sie wie ein Kind zu betrachten, das alles zum ersten Mal erlebt – ohne sie zu bewerten oder zu urteilen. Einfach schauen und horchen: Was geschieht da jetzt an diesem Ort? Was beobachte ich? Was empfinde ich dazu? Hat es etwas mit mir zu tun? Und: Finde ich Gott darin?

Wenn ich Kindern zuschaue oder ein Baby in die Arme nehmen darf, fällt mir das besonders leicht, den heiligen Moment zu erkennen, den heiligen Boden zu spüren. Oder wenn ich alte Menschen erlebe. Oder wenn mich jemand anlächelt. Und natürlich in der Natur draußen. Aber es geht auch in anderen, weniger schönen Situationen. Auch da kann heiliger Boden sein. Auch da ist Gott zu finden. Vielleicht will er sich an weniger schönen Orten sogar besonders gerne finden lassen?

Das kann zum Beispiel bei Straßenexerzitien erlebt werden. Straßenexerzitien macht man wirklich auf der Straße. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gehen dazu in Gegenden, in denen sie sich sonst nicht bewegen. Sie suchen dort den heiligen Boden. Vielleicht bei Obdachlosen. Oder in einer hässlichen Industrie-Ecke. Oder in einem heruntergekommenen Park. Wo auch immer es die Teilnehmenden hintreibt, dort bleiben sie den Tag über, vielleicht sogar ohne Geld und ohne Handy. Ob sie dann mit Menschen ins Gespräch kommen oder jemandem helfen oder einfach nur beobachten und mitfühlend da sind – sie setzen sich für diesen Tag einer Lebensweise aus, in der sie sonst nicht zu Hause sind. Dies tun sie, um darauf zu achten, welche Spuren von Gott sie genau da finden, wo sie jetzt stehen. In den Gesichtern der anderen, im Mitfühlen, und indem sie für eine Weile die Luft, die Umgebung und die Zeit dieser Menschen teilen. Das Überraschende ist: Es gibt unendlich viel heiligen Boden und unendlich viele heilige Momente. Der Himmel ist so nah! Wenn man drauf achtet und alle Sinne dafür offenhält.

Solche ausdrücklichen Straßenexerzitien sind allerdings nichts für jeden. Die brauchen schon viel Mut. Aber sozusagen „kleine Straßenexerzitien“ kann jede und jeder machen – und das geht so: Ich stelle mich darauf ein, dass jeder Moment – jetzt -  ein heiliger Moment ist, der nur einmal kommt. Und diesen Momenten begegne ich achtsam. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Ich bin durch solche achtsamen Übungen froh, zufrieden und dankbar geworden. Und ich werde manchmal kaum fertig mit Staunen, seit ich mitten in der Steppe meines Lebens darauf achte, wo da jetzt gerade heiliger Boden ist. Und wie mir darin vielleicht Gott begegnen möchte.

Musik: Oosterhuis: „Der Chaos schuf zu Menschenland“

Es gibt noch einen anderen Aspekt bei dieser Dornbusch-Geschichte der Bibel, den ich faszinierend finde. Denn Gott begegnet dem Mose nicht ohne Absicht. Er braucht ihn dringend als Mitarbeiter. Was ist geschehen? Dazu steht im Buch Exodus:

Gott fuhr fort: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Da verhüllte Mose sein Gesicht, denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen. Der HERR sprach: Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne sein Leid. Ich bin herabgestiegen, um es der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen. Und jetzt geh! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus!  (Ex 3,7-8.a, 10)

Die Israeliten, das Volk Gottes, werden als Sklaven in Ägypten festgehalten. Es geht ihnen schlecht. Deshalb sucht Gott den passenden Anführer für ihre Befreiung. Mose soll es sein. Der ist von Gottes Idee nicht begeistert. Seine Frage „Warum ausgerechnet ich?“ wird aber nicht beantwortet. Gott hält Mose für den Richtigen! Das muss genügen! Und damit der von Anfang an versteht, wie wichtig dieser Auftrag ist, begegnet ihm Gott mitten an seinem Arbeitsplatz. Nach dem Motto: Im Moment bist du Hirte, das kannst du wie viele andere auch - aber ich brauche dich als Anführer einer riesigen Flüchtlingstruppe, das kannst nur du. Als Mose versteht, dass er seiner Berufung nicht entkommt, hat er aber noch ein paar Fragen. Im Buch Exodus liest sich das so:

Gut, ich werde also zu den Israeliten kommen und ihnen sagen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt. Da werden sie mich fragen: Wie heißt er? Was soll ich ihnen sagen? Da antwortete Gott dem Mose: Ich bin, der ich bin. Und er fuhr fort: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der „Ich-bin“ hat mich zu euch gesandt. Weiter sprach Gott zu Mose: So sag zu den Israeliten: der HERR, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name für immer und so wird man mich anrufen von Geschlecht zu Geschlecht.  (Ex 3,13-15)

Musik: Bach: Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ (BWV 639)

Wenn Mose den Auftrag Gottes ausführen möchte, muss er sich ausweisen. Die Israeliten werden nicht einfach irgendwem folgen, der sie in die Freiheit führen will.

Mose braucht also den Namen des Auftraggebers. Und nun geschieht etwas sehr Besonderes. Gott verrät ihm tatsächlich seinen Namen: „Ich bin“ – oder „ich bin, der ich bin“.  Dieser Name ist ein Rätsel und eine klare Zusage: Gott bleibt ein Rätsel, entzieht sich allen Beschreibungen und allem Erklärenwollen. Einerseits. Und andererseits ist Gott da. Ist ein ansprechbarer Gott. Einer, der sich immer wieder zeigt. Und einer, der nah bei seinen Menschen sein will. Und den die Menschen auch immer wieder erahnen können, wenn sie auf den heiligen Boden achten.

Für Mose gilt: Sein Leben wird sich ab der Begegnung am Dornbusch gründlich verändern. Wie immer, wenn Gott seine Hand im Spiel hat. Das müssen nicht so massive Veränderungen sein. Aber wenn mir Menschen von ihren Dornbusch-Erlebnissen erzählen, sagen sie immer dazu: „und seither ist etwas anders!“. Sie haben mehr Hoffnung oder mehr Zuversicht, oder einfach mehr Mut, den eigenen Weg zu gehen.

„Zieh deine Schuhe aus. Denn wo du stehst, ist heiliger Boden“ – das bezieht sich nicht unbedingt auf große Momente und spektakuläre Ereignisse. Sondern darauf, Gott mitten im Leben zu begegnen. Und das kann sich hier und jetzt ereignen - wo auch immer ein gottsuchender Mensch sich gerade aufhält und beginnt, aufzumerken und zu hören.

Musik: Mendelssohn: Orgelsonate op. 65, Nr. 3, 2. Satz: Andante tranquillo

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